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Unbedingt lesenswert

"Ich versuche einem Menschen, der Kriegskind war und der früh revoltiert hat, diesem Menschen versuche ich nur gerecht zu werden und ihn darzustellen." So formuliert Jutta Ditfurth ihren eigenen Anspruch an die von ihre verfasste Biografie über Ulrike Meinhof. Der Versuch sei geglückt, urteilt Tobias Lübben.

10.12.2007
    Für den Verlag muss es eine echte Geduldsprobe gewesen sein: Immer und immer wieder verschob die Autorin die Abgabe ihres Manuskripts. Sechs Jahre lang, sagt Jutta Ditfurth, habe sie über Ulrike Meinhof recherchiert - mindestens drei Jahre länger als ursprünglich geplant. Sie sei mehrmals kurz davor gewesen aufzugeben, denn das Projekt war ihr in jeder Hinsicht aus den Fugen geraten war. Am Ende schaffte sie es dann doch noch, ihre Recherchen zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Aber die große Erinnerungsdebatte über die RAF in diesem Sommer - 30 Jahre nach dem sogenannten Deutschen Herbst - die hatte Ditfurth verpasst. Und verkaufsstrategisch hat sie da sicher eine gute Gelegenheit versäumt. Aber da kann Ditfurth nur müde lächeln.

    "Erstens verdiene ich mit diesem Buch jetzt gar kein Geld mehr, weil ich einen Vorschuss hatte, der schon verbraten ist und die zweiten drei Jahre mich komplett verschuldet habe. Und zweitens bin ich ziemlich froh, dass das Buch erstens verspätet rauskam, also dieses Jahr, und zweitens noch mal verspätet, nämlich nach dieser unsäglichen Deutschen-Herbst-Debatte."

    Tatsächlich ist über die Baaders, Ensslins und Meinhofs schon so einiges geschrieben und gesendet worden, und das nicht erst in diesem Jahr. Aber das meiste davon findet Ditfurth nicht nur schlecht recherchiert, sondern sogar böswillig verzerrt. Nicht zuletzt durch Stephan Austs Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" sei ein völlig falsches Meinhof-Bild entstanden:

    "Das Klischee über Ulrike Meinhof ist: Sie kam aus einer christlichen, angeblich antifaschistischen, widerständigen Familie, die tapfer gegen das Nazi-Regime war, war dann ein angesehener Star und bekannte Publizistin, und ist dann nur, weil ihr Ex-Mann sie irgendwie mies behandelte, plötzlich radikal geworden und in den Terrorismus abgeglitten. Ich habe jetzt also die zugespitzte Form des üblichen Schwachsinns dargestellt."

    Ditfurths Meinhof-Bild, wen wundert es, ist ein komplett anderes, nämlich das eines sensiblen und kritischen Menschen, der eigenständig dachte und auch danach handelte. Der Widerstandsgeist war ihr dabei keineswegs in die Wiege gelegt, im Gegenteil: Ihr Vater war ein eifriger Mitläufer der Nazis, und seinen beruflichen Aufstieg verdankte der Kunsthistoriker wohl seiner rechten Gesinnung. Ditfurth dokumentiert das sehr gründlich, und der Leser bekommt eine Ahnung, warum die Arbeit am Buch so lange gedauert hat:

    "Am 17. Februar 1936 wurde Ulrike Meinhofs Vater als angestellter Museumsleiter vereidigt. Sein Monatsgehalt betrug, wie zuletzt in Oldenburg, 452,40 Reichsmark. Acht Monate lang leitete er die NSDAP-Kreiskulturstelle. Überall hielt er Vorträge, auch vor der Fachschaft der Kunsterzieher im Nationalsozialistischen Lehrerbund. Werner Meinhof hatte es geschafft."

    Ditfurths Liebe zum Detail hat manchmal Züge von Besessenheit. Sie hat sich sogar die Mühe gemacht, von Meinhofs Verwandten die NSDAP-Mitgliedsnummern herauszukriegen, und die möchte sie dann auch dem Leser nicht vorenthalten. Aber trotz aller Zahlen- und Faktenhuberei: das Buch liest sich leicht. Zum einen sind die Sätze und die Kapitel angenehm kurz. Und zum anderen folgt Ditfurth einer Dramaturgie, die jederzeit fernsehtauglich wäre. Immer wenn es mühsam zu werden droht, kommt ein harter Schnitt - und Ditfurth erzählt eine bunte Szene, die auch Fans von Seifenopern gefallen würde. Vor allem das Liebesleben der jungen Meinhof bietet dafür Stoff. Einmal, da ist Meinhof gerade 24 Jahre alt, fährt sie mit ihrer Schwester nach Fehmarn und trifft dort ihren damaligen Partner Lothar Wallek.

    "[...] vier Wochen gemeinsame Ferien lagen vor ihnen. Am Anfang, so empfand sie, hatte Lothar es mit ihr als politischem Frauenzimmer nicht leicht. Sie mussten sich wieder aneinander gewöhnen. Jetzt waren sie faul, lagen in der Sonne, verspeisten geräucherte Aale, lasen Musil und Proust und sich gegenseitig daraus vor."

    Nicht nur hier drängt sich die Frage auf: Woher weiß Ditfurth das eigentlich alles so genau? Darüber lässt die Autorin ihre Leser nämlich oft im Unklaren - mit Quellenangaben geht sie streckenweise sehr sparsam um. Aber Ditfurth beteuert, alles sei durch Quellen belegt, ihr lägen Tausende privater Dokumente vor. Aber die könne sie mit Rücksicht auf die Besitzer nicht alle nennen. Wissenschaftlich mag das unbefriedigend sein, aber dem Lesefluss tut es gut. Ditfurth erzählt sehr geradlinig, wie Meinhof erwachsen, und vor allen Dingen, wie sie politisch wird. Und das lässt sich auch gut erzählen, denn Meinhof legt eine linke Bilderbuchkarriere hin. Schon mit 27 Jahren wird sie Chefredakteurin der linksintellektuellen Zeitschrift "konkret". Und auch privat scheint alles blendend zu laufen: Sie heiratet den "konkret"-Chef Klaus-Rainer Röhl und bekommt wenig später Zwillingstöchter mit ihm. Doch die Ehe ist bald zerrüttet, sie trennt sich von Mann und Job und arbeitet stattdessen für Hörfunk und Fernsehen. Als sie 1968 über den Frankfurter Kaufhausbrand-Prozess berichtet, lernt sie Andreas Baader und Gudrun Ensslin kennen. Den beiden wird vorgeworfen, in zwei Frankfurter Kaufhäusern Feuer gelegt zu haben. Baader und Ensslin leugnen das auch gar nicht, sondern sie rechtfertigen ihre Tat politisch - als Protest gegen den Vietnam-Krieg. Diese Entschlossenheit hat Ulrike Meinhof damals offenbar sehr beeindruckt, wie dieser Originalton von ihr nahelegt:

    "Wir sind engagiert für diejenigen, die versuchen sich zu befreien von Terror und Gewalt, und wenn ein anderes Mittel als das des Krieges ihnen nicht übrig bleibt, dann sind wir für ihren Krieg."

    Mit 35 Jahren sagt sich auch Meinhof vom bürgerlichen Leben los. Sie hilft dem inzwischen verurteilten Baader aus der Haft zu entkommen - eine Aktion, bei der ein Unbeteiligter schwer verletzt wird. Meinhof muss in die Illegalität abtauchen. Für Ditfurth ist das aber weniger ein tragischer Irrweg, sondern ein politisch motivierter Schritt, der damals vielen einleuchtete:

    "Die Entscheidung von Ulrike Meinhof für den bewaffneten Kampf und die Entscheidung von Ulrike Meinhof, mit anderen zusammen Andreas Baader zu befreien, ist eine Entscheidung, die sie durchaus gar nicht von anderen Linken unterscheidet, weil: Innerhalb der APO gab es, als die APO zerfiel nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, eine ganze Menge Strömungen, darunter auch mehrere, die sich für den bewaffneten Kampf entschieden haben. Und an dem Abend, als sie es geschafft hatten, hat irgendwie halb Berlin in den Kneipen und WGs applaudiert und fand das wahnsinnig witzig, und viele haben es unterstützt."

    Das habe sich erst geändert, nachdem es die ersten Toten gegeben hatte. Allein bei den Aktionen der sogenannten Mai-Offensive 1972 ermordete die RAF vier Menschen und verletzte mehrere schwer. Zumindest an einer Aktion, dem Anschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg, soll Ulrike Meinhof direkt beteiligt gewesen sein. Allerdings kann auch Ditfurth in diesem Punkt keine Klarheit liefern, und sie hat offenbar auch gar kein großes Interesse daran. Für sie ist Meinhof eine von mehreren Kombattanten im sogenannten bewaffneten Kampf gegen den Staat. Erst später findet Ditfurth dann wieder zur gewohnten Akribie zurück, dann nämlich, als es darum geht, das Unrecht zu dokumentieren, das Meinhof und anderen RAF-Terroristen während der Haft widerfahren ist. Hier wird Ditfurths eigener Standpunkt sehr deutlich - und es sollte wohl niemanden wundern, dass es ein ausgesprochen linker Standpunkt ist. Aber umso schwerer wiegt es dann, wenn sie die RAF dennoch einmal kritisiert. Und das tut sie, zum Beispiel wenn sie der RAF die fehlende soziale Basis vorwirft oder wenn sie den Philosophen Horkheimer mit dem Satz zitiert: "So dumm kann keiner sein, um nicht zu merken, dass sie genau das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich wollen". Solche Bemerkungen sind in dem dicken Buch sehr rar gesät - mit Bedacht, sagt Ditfurth:

    "Ich habe dieses Buch ganz absichtlich sehr zurückhaltend geschrieben und ohne moralinsaure Beurteilung und Bewertung, so dass ich mir anmaße, an jeder Stelle zu sagen: 'Aber jetzt, Ulrike Meinhof, das hättest du jetzt aber anders tun sollen oder gar nicht tun sollen'. Sondern ich versuche, und das ist der große Versuch dieses Buchs, ich versuche einem Menschen, der Kriegskind war und der früh revoltiert hat, diesem Menschen versuche ich nur gerecht zu werden und ihn darzustellen."

    Dieser Versuch ist Ditfurth geglückt - zumindest im ersten Teil des Buches. Was sie da über Meinhofs Elternhaus zutage fördert, das ist spannend und das hat man so auch noch nicht gelesen. Auch erzählt Ditfurth sehr einfühlsam, wie und warum Meinhof erst links wurde und dann linksradikal. Aber Meinhofs Entscheidung für den sogenannten bewaffneten Kampf markiert eine Zäsur, leider auch, was den Charakter der Biografie angeht. Spätestens mit dem Beginn des Stammheim-Prozesses verliert Ditfurth den Menschen Meinhof etwas aus dem Blick. So erfährt der Leser zum Beispiel wenig über ihren Tagesablauf in der Zelle oder über ihr persönliches Verhältnis zu den anderen Gefangenen, vor allem Baader und Ensslin. Und leider erwähnt Ditfurth auch mit keinem Wort, was eigentlich die Opfer des linken Terrors über Meinhof denken. Stattdessen nimmt Ditfurth vor allem den Staat aufs Korn, und der bekommt bei ihr geradezu monströse Züge. Dazu passt ihr Versuch, die offizielle Version von Meinhofs Tod in Zweifel zu ziehen. Die lautet Selbstmord - Meinhof habe sich im Gefängnis an ihrem Zellengitter erhängt. Ditfurths Darstellung lässt aber zumindest den Schluss zu, es könne in Wahrheit ein staatliches Mord-Komplott dahinter stecken. Den Indizien fehlt es allerdings an Durchschlagskraft, und das letzte Kapitel des Buches ist deshalb vor allem etwas für Liebhaber von Verschwörungstheorien. Aber das bleibt die Ausnahme in einem ansonsten fabelhaft recherchierten Buch. Alles in allem ist es unbedingt lesenswert.

    Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biografie
    Ullstein Verlag, Berlin 2007
    478 Seiten, 22,90 Euro
    Die Autorin Jutta Ditfurth
    Die Autorin Jutta Ditfurth. (AP)