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Unberechenbar wie seine Figuren

Knut Hamsun gehört zu den umstrittensten Autoren seiner Zeit. Nach dem Aufstieg zum Weltruhm erlebte der Literaturnobelpreisträger von 1920 einen unvergleichlichen Absturz als Kollaborateur der Nazis. In Norwegen war er lange eine ebenso tabuisierte wie unausweichliche Figur. Seit einiger Zeit wird er wiederentdeckt.

Von Wolfgang Schneider | 29.05.2011
    Ein Standardwerk dieser Renaissance ist Ingar Sletten Kolloens vor acht Jahren im Original erschienene Biografie in zwei Bänden: "Hamsun, der Schwärmer" und "Hamsun, der Eroberer". Für die internationalen Ausgaben vom Autor selbst um die Hälfte gekürzt, liegt sie nun endlich in einbändiger deutscher Übersetzung vor.

    Geboren wurde Hamsun am 4. August 1859 als Knud Pedersen in der südnorwegischen Provinz. Der spätere Eigentümer eines Gutshofs im klassizistischen Stil kam aus kleinsten Verhältnissen. 1862 zog die Familie nach Hamaroy nahe den Lofoten, ein paar hundert Kilometer nördlich des Polarkreises. Die Mutter war nach sieben Geburten körperlich und nervlich zerrüttet, der Vater schuftete als Schneider und Kleinbauer.

    Das Klima war so hart und die Erträge waren so erbärmlich, dass man beinahe so darbte wie zu Beginn des Jahrhunderts. (...) Damals erzählten Mutter, Vater und Großvater immer wieder von der entsetzlichen Not nach den Napoleonischen Kriegen, als es Missernten gab und die Norweger weder aus Dänemark noch aus anderen Ländern genügend Getreide einführen konnten. Die englische Flotte blockierte die norwegischen Häfen (...). Und hatten die Engländer nicht auch bei den Friedensverhandlungen von 1814 verhindert, dass Norwegen ein unabhängiger Staat wurde? Hamsun hörte immer wieder, wie die Engländer Norwegen ausbeuteten. England beherrschte den Welthandel. Hunger, Notjahre, Krieg und Engländer, das alles hänge zusammen, erfuhr er. Der Hass auf England wurde in der Kindheit in ihn eingepflanzt.

    Dieser Hass, eine entscheidende Antriebskraft für Hamsuns politische Irrfahrt nach 1933, wird von Kolloen bis in die feinsten Verwurzelungen verfolgt. Noch schlimmer als die Engländer war nur einer: der Onkel Hans Ohlsen, ein frommer, wohlhabender Mann, Junggeselle und Sektierer; in seinen Vierzigern litt er bereits an Parkinson. Er brauchte Hilfe, deshalb vereinbarten Hamsuns Eltern mit ihm, dass er den neunjährigen Knut bei sich aufnahm; ein Esser weniger.

    Der Junge wurde nicht nur für harte körperliche Arbeit, sondern dank seiner schönen Schrift auch für Schreibdienste eingesetzt. Und weil Hans Ohlsen nebenbei die Gemeindebücherei verwaltete, kam er an Bücher und Traktate - der Anfang autodidaktischer Lehrjahre. Verstoßen fühlte er sich dennoch und versuchte immer wieder, dem strengen Onkel, der ihn schlug, zu entkommen:

    Er hackte sich mit der Axt in den Fuß, um nach Hause zu kommen. Die Mutter besuchte ihn. Aber er durfte nicht mit ihr zurück. Er versuchte, mit dem Boot zu fliehen. Er wurde gefunden und zurückgebracht. Er unternahm viele solcher Fluchtversuche. Aber damit war Schluss, als der Bürgermeister ihn auf halber Strecke zwischen Pfarrhof und Hamsund schnappte. Er war an einem Wintermorgen auf einem Hof eingebrochen, ohne warme Kleidung, ohne Strümpfe in den Holzschuhen und mit schweren Erfrierungen.

    Nach fünf Jahren brach Knut aus dem Sklavendienst beim Onkel aus. Im Folgenden war er Handelsgehilfe, zog als Hausierer die Küste entlang, begann eine Schuhmacherlehre, war Amtmann und Hilfslehrer - und begann zu schreiben. Der Durchbruch ließ auf sich warten.

    Hamsun hungerte in Kristiania, arbeitete beim Straßenbau und ging zweimal für längere Zeit nach Amerika. In Chicago war er Straßenbahn-Schaffner, zog dann weiter nach Minneapolis, suchte Arbeit auf den Großfarmen. Hier lernte der norwegische Tramp ungeahnte Formen der Menschenschinderei und Ausbeutung kennen - den amerikanischen Albtraum. Sein Ressentiment gegen die "Angelsachsen" fand Nahrung.

    1888 kehrte er nach Europa zurück. Sein Durchbruchsroman "Hunger", 1890 erschienen, ist ein Pionierwerk der literarischen Moderne, noch heute eine große Leseerfahrung. Der Roman zeigt ein neues Interesse an psychischen Grenzzuständen, die bereits in einer Art Bewusstseinsstrom protokolliert werden. Seine ersten Bücher flankierte Hamsun mit provokativen Vorträgen, in denen er die Größen der skandinavischen Literatur vom Sockel zu stoßen suchte. Vor allem schoss er sich auf Ibsen ein, diesen "Typendichter", der seine Figuren mit einem "dominanten Charakterzug" ausstattete.

    Mit seinem nächsten Roman "Mysterien" schrieb Hamsun sich an die Spitze der europäischen Avantgarde. Inzwischen war das Publikum der naturalistischen Elends-Inszenierungen überdrüssig geworden und suchte psychische Raffinessen. "Mysterien" bot sie im Übermaß.
    Das Delirierende, Fieberhafte, Halluzinierende, wie man es von den Bildern Edvard Munchs kennt, bestimmt diesen Roman, mit dem Unterschied, dass Hamsun viel Komik hinzu gibt. Die Hauptfigur Johan Nilsen Nagel ist die Verkörperung der "Nervosität", ein raffinierter Hysteriker, der sich selbst unermüdlich inszeniert. Das Faszinierende besteht darin, dass nicht nur über Nagel erzählt wird, sondern dass die Sprache selbst in den Nagel-Zustand gerät: eine geschmeidige, geistreich flirrende Verunsicherungs-Prosa, voller Gesten, Gebärden und Gelächter.

    Für einige Zeit zog es Hamsun in die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, nach Paris. Aber dort wurde er mit seinen Defiziten konfrontiert. Das hohe Aufkommen von gebildeten, wohlstudierten Menschen weckte seine alten Minderwertigkeitsgefühle:

    Ihm wurde klar, dass er die schreibenden Söhne des Bürgertums nie erreichte, ihm würde doch immer fehlen, was sie zu dem machte, das sie waren: die Examen der höheren Schulen, das Wissen aus den Universitätshörsälen und die Erfahrungen und Bekanntschaften aus dem Studentenleben, der systematische Wissenserwerb durch häusliche Gespräche, durch Lektüre und Besuche in Museen, Konzertsälen, Theater- und Opernsalons von früher Jugend an. Er würde nie ihr eigentliches Adelszeichen besitzen: die Sicherheit.

    Hamsun sehnte sich zurück nach den Natur-Erfahrungen seiner Jugend. Und begann "Pan" zu schreiben, das Buch, dessen musikalische, lyrisch verdichtete Prosa die letzten Skeptiker überzeugte. Auch hier verfolgte er seine innovative Menschendarstellung. Es war das Ideal des realistischen Romans, die Figuren psychologisch durchsichtig zu machen. Hamsun schlug einen anderen Weg ein. Nichts verachtete er mehr als die herkömmliche Seelenkunde, die für alles gute Gründe zu nennen weiß:

    "Ich träume von einer Literatur, bei deren Menschen die Inkonsequenz ein Grundzug ist. Ich werde meinen Helden lachen lassen, wenn rationale Menschen meinen, er müsste weinen. Und warum? Weil mein Held kein Charakter ist, kein 'Typ', der nach den Theorien irgendeiner Schule lacht und weint, sondern ein komplexes, modernes Wesen."

    Das war für Hamsun mehr als eine literarische Strategie. Als er später wegen seiner Kollaboration mit den Nazis zur Rechenschaft gezogen wurde, sollte er dem Gerichtspsychiater seinen eigenen Charakter beschreiben. Er antworte, dass er Hunderte von Figuren geschaffen habe, die alle keinen "Charakter" hätten. Die seien mal so und mal so, unberechenbar. Und so sei er selbst auch. Hamsuns Werke verabschieden die Fiktion vom Charakter.

    1911 erwarb er einen Bauernhof. Das Landleben sollte seine zweite Frau, die mehr als 20 Jahre jüngere Schauspielerin Marie Anderson, dem Theaterbetrieb und den verderblichen Einflüssen der Stadt entziehen. Auch für ihn selbst war es ein ethisches Programm:

    "Ich war von all den Feinheiten, die ich mir in vielen Jahren angewöhnt hatte, verdorben worden, musste erst wieder zum Bauern zurückstudieren",

    heißt es im Roman "Gedämpftes Saitenspiel". Er wollte seine überreizten Nerven und seine Melancholie kurieren. Aber bald meldete sich der literarische Impuls zurück, und er ging monatelang auf Reisen, um zu schreiben.

    Kolloen schildert das zumutungsreiche Familien- und Ehedrama der Hamsuns mit Einfühlung und dem feinen Sinn für existenzielle Komik. Als später Vater entsprach Hamsun nicht dem heutigen Anforderungsprofil:

    Kurz bevor Marie im März 1912 ihr erstes Kind zur Welt brachte, fuhr Hamsun weg, so weit, dass er unmöglich rechtzeitig herbeigerufen werden konnte. Zwei Tage nach der Geburt telegrafierte er Marie. Er ließ ihr und dem Kind eine Kiste Blutapfelsinen schicken. Bei einem Handlungsreisenden kaufte er eine lange Straußenfeder, die sie an den riesigen Hut stecken sollte, den er mitschickte. Das waren die teuersten Geschenke, die aufzutreiben waren. "Dafür kannst du dich niemals revanchieren, nicht einmal, wenn ich die ganzen Pfingstfeiertage mit dir schlafen darf", erklärte er. Das Kind sollte Tore heißen, bestimmte Hamsun. Aber der Vater kam nicht zur Taufe. Marie berichtete ihm, wie schön Tore sei, sie lag nachts oft wach und konnte den Blick nicht von ihm wenden. Er verlangte postwendend, Zärtlichkeit für ihn übrig zu lassen. Er kam erst Ende April, nach fast zwei Monaten.

    Zu Hamsuns Widersprüchlichkeit gehört es, dass er bei der Figurendarstellung für Inkonsistenz plädiert, in seiner zeitkritischen Publizistik aber äußerst konsistente Ansichten entwickelt. Da folgt er seinen fixen Ideen und Aversionen mit unerbittlicher Konsequenz: gegen die Briten, gegen den Tourismus, gegen die Frauen-Emanzipation. Während des Ersten Weltkriegs erfreute er das deutsche Publikum mit solidarischen Beiträgen. Er stellte das niedergehende England, dem er die Heimsuchung wünschte, gegen das vor Kraft und Jugend strotzende Deutschland und argumentierte wie heutige Youth-bulge-Theoretiker: Nichts könne "den deutschen Geburtenüberschuss aufhalten".

    Er rührte die Kriegstrommel - und wurde 1918 zum literarischen Friedensbringer. Sein subtiles Bauern-Epos "Segen der Erde" war das Buch der Stunde. Es wurde als überwältigend "positives" Werk aufgenommen. Jahrelang war der Boden Europas aufgewühlt worden, allerdings nicht von Ackerpflügen, sondern von den Granaten des Stellungskriegs. Hamsuns Gesang von der Landlust, vom einfachen, naturverbundenen Leben wirkte nach dem Horror der Materialschlachten wie ein Therapeutikum.

    Auch das Nobelpreiskomitee horchte auf: Endlich ein rundum "gesundes" Buch von diesem unsteten Romantiker. Man überlas dabei, dass der Roman die platte Antithese von "gesundem" Landleben und verderblicher Stadt immer wieder unterwandert. Nachdem man sich in Stockholm bereits mehrere Jahre gestritten hatte, ob Hamsun genug "Idealismus" für die Ehrung vorzuweisen habe, war man sich 1920 endlich einig. Er bekam den Preis.

    "Segen der Erde" wurde die reinste Gelddruckmaschine (...). Die nächste Auflage sicherte ihm 76800 Kronen, was dem Jahresgehalt von dreißig Volksschullehrern entsprach. Von einem gerissenen Spekulanten kaufte Hamsun Nörholm, den leicht verfallenen Herrensitz an der Südküste zwischen Grimstad und Lillesand, und wurde tüchtig übers Ohr gehauen.

    Böden wurden urbar gemacht, Wälder aufgeforstet. Das Gut wurde ein Musterhof, der allerdings rote Zahlen schrieb - und Hamsun weiter zum Schreiben zwang. Auf einem Foto dieser Jahre sieht man ihn wie einen Agrar-Dandy vor einem Heuhaufen stehen: der lebende Widerspruch. Dazu passt, dass der Verächter der Moderne als einer der ersten im Land einen Traktor anschaffte.

    Hamsun ist kein ergiebiger Fall für die Literaturgeschichte des Bösen. Das Faszinosum einer reaktionären Intellektualität, wie es bei Benn, Céline, Ernst Jünger oder Carl Schmitt eine Rolle spielt, sucht man bei ihm vergebens. Starrsinn und Verblendung kennzeichnen seinen Glauben an den Nationalsozialismus. Sicher gibt es Affinitäten, etwa die Germanophilie und den Kult der Jugend und Gesundheit. Wobei man nicht vergessen darf, dass er als Autor immer eine Schwäche für die Schwachen hatte, für Figuren mit Handicap. Der psychologische Erzähler findet da ein ergiebiges Arbeitsfeld.

    In diesem Sinn ist auch "Der Ring schließt sich", der letzte große Roman aus dem Jahr 1936, ein erstaunliches Buch. Kaum zu glauben, dass dieses erotisch aufgeladene und pessimistische Werk von einem rumpelnden Sympathisanten Nazi-Deutschlands geschrieben wurde. Allein die Hauptfigur wäre dort ein Fall fürs Arbeitslager gewesen: Abel, der Nichtstuer und Träumer, eine der antriebsärmsten Gestalten der Weltliteratur, die viel von Camus' "Fremdem" vorwegnimmt.

    Auf politischem Feld dagegen zeigte sich Hamsun von der stählernen Entschlossenheit des Diktators fasziniert. Seine Schwärmernatur wurde mehr und mehr von seiner Eroberernatur beherrscht, schreibt Kolloen. Mit Empathie und erlebter Rede versucht er die Argumente und Ressentiments nachzuvollziehen, die Hamsun an die Seite Hitlers brachten: Verständnis statt Verurteilung, bei klarer politischer Bewertung.

    Als Norwegen 1940 von der Wehrmacht besetzt wurde, veröffentlichte Hamsun einen berüchtigten Appell: "Norweger! Werft das Gewehr hin und geht wieder nach Hause. Die Deutschen kämpfen für uns alle und zerschlagen jetzt Englands Tyrannei." Kaum erstaunlich, dass er in Nazi-Deutschland unterdessen ein gefeierter Literatur-Star war:

    Marie reiste vor Weihnachten nach Deutschland. Auf ihrer ersten Tournee hatte sie an die dreißig Städte gesehen. Jetzt sollte sie in drei Monaten alle Teile des Reichs besuchen. Die Säle waren voll (...). "Ich bringe Ihnen Grüße, aus Norwegen, von Knut Hamsun." Danach konnte sie variieren und im Grunde sagen, was sie wollte. Sie konnte erzählen, wie Hamsun an der Chaussee bei Nörholm ungeduldig auf den Briefträger mit den Zeitungen wartete. Sie konnte sein Wutgebrüll über das jämmerliche Verhalten der Westmächte und das In-die-Knie-Gehen der norwegischen Regierung vor den Briten und seine Freudenausbrüche über Deutschlands Siege und den Siegeswillen des Führers schildern (...). Die Kombination Marie und Knut Hamsun war unwiderstehlich. Maries Kinderbücher waren in Deutschland über hunderttausend Mal verkauft worden. "Segen der Erde" näherte sich einer halben Million (...).

    Andererseits wuchs Hamsuns Ärger über den norwegischen Statthalter Josef Terboven, dessen Terrormaßnahmen die großgermanische Vision erheblich störten. Hamsun entwickelte eine fixe Idee: Hitler zu beeinflussen. Er steigerte sich in die Fantasie eines großen Gesprächs. Im Mai 1943 wurden die Hamsuns zunächst in privatem Rahmen von Goebbels empfangen, der den Schriftsteller seit langem verehrte. Hamsun schenkte ihm seine Nobelpreismedaille, mit einer wahrhaft grotesken Widmung:

    "Nobel stiftete seinen Preis als Belohnung für die 'idealistischste' Schrift (...). Ich kenne niemanden, Herr Minister, der sich auf so unermüdliche und idealistische Weise jahrein, jahraus schriftlich und mündlich für Europa und die Sache der Menschheit so eingesetzt hat wie Sie."

    Ende Juni 1943 bekam Hamsun seine Audienz bei Hitler - eine der befremdlichsten Begegnungen von Geist und Macht nahm ihren Lauf. Der Führer gierte, angesichts der verfahrenen Lage an den Fronten, nach Bestätigung. Mit einem Besucher, der ihn auf Fehler hinwies, rechnete er nicht. Er war auf eine Plauderei über Dichtung eingestellt, er hätte einiges zum Thema Genialität zu sagen gehabt.

    Hamsun aber wollte über Politik sprechen. Undiplomatisch, nervös und mit der lauten Altmännerstimme des Schwerhörigen steuerte er auf sein Ziel zu. Mit seiner Kritik an der Besatzungspolitik provozierte er Hitlers Zorn, der ihn schließlich mit einem wütenden "Schweigen Sie!" unterbrach und den Raum verließ. Hamsun fühlte sich gedemütigt und enttäuscht. Der "Führer" war ihm nicht sympathisch gewesen.
    Doch er ließ sich weiter von der Propaganda einspannen. Noch im Mai '45, schrieb er seinen Nachruf auf den Diktator, in dem er Hitler als "Kämpfer für die Menschheit" und "reformatorische Gestalt höchsten Ranges" pries. Als "ritterliche Geste" wollte er diese Sätze verstanden wissen - tatsächlich waren sie eine einzigartige politische Donquichotterie.

    Ausführlich rekapituliert Kolloen die Jahre zwischen Hausarrest, psychiatrischer Internierung und Prozess. Sollte man wegen Geistesverwirrung und Altersschwäche mildernde Umstände gelten lassen? Sollte man die ganze Angelegenheit verschleppen in Erwartung von Hamsuns baldigem Tod? Aber er starb nicht, plötzlich konnte er sogar wieder schreiben. Seine Notizen aus der Psychiatrie verarbeitete er später zu seinem letzten Buch, "Auf überwachsenen Pfaden".

    Die letzte große Hamsun-Biographie erschien 1987: Robert Fergusons "Leben gegen den Strom", ein Meisterwerk, das Leben und Werk gleichermaßen gerecht wurde. Kolloens Verdienste liegen vor allem im Detail: Er hatte Zugang zu vielen Dokumenten, die lange verloren schienen, er verwertet die ärztlichen Notizen aus der Psychoanalyse, der sich Hamsun in seiner Schreibkrise Mitte der zwanziger Jahre unterzog. Er hat Gerichtsprotokolle, Rechnungsbücher und Kontoauszüge zu Rate gezogen, um ein dichtes Faktennetz mit - wie er im Nachwort nicht ohne Stolz berichtet - 20.000 Informationen und 2.000 Quellennachweisen zu knüpfen. Dass dabei ein paar kleine Webfehler unterlaufen sind, schmälert den Gesamteindruck nicht: So hieß der Generalgouverneur im eroberten Polen nicht Karl-Hermann Frank, sondern Hans Frank.

    Kolloen erzählt die Lebensgeschichte differenziert und pointiert; sehr prägnant verortet er die Romane in der persönlichen Ideengeschichte Hamsuns. Darüber kommt der Eigensinn der Werke allerdings manchmal zu kurz. Das ist gerade bei Hamsun heikel, denn die konservativ-reaktionären Botschaften, die Kolloen aus Hamsuns Publizistik destilliert und auf die Romane projiziert, sind zumindest in den besten Werken in dieser Undifferenziertheit nicht zu finden.

    Während Hamsun in Artikeln gegen Verstädterung, Industrialisierung und Demokratisierung polemisiert, stellt er etwa im wunderbaren Roman "Die Stadt Segelfoss" von 1915 das Leben voller Erinnerungszauber in seinen Zwiespältigkeiten und Ambivalenzen dar. Dieses Buch ist - wie die meisten späteren Werke Hamsuns - hierzulande in Vergessenheit geraten. Kolloens faktensatte, spannend erzählte Biografie bietet den Anlass, einen der größten europäischen Schriftsteller wiederzuentdecken. Es ist, in Triumph und Verhängnis, auch ein Stück deutscher Literaturgeschichte.

    "Ingar Sletten Kolloen: "Knut Hamsun. Schwärmer und Eroberer. Biografie". Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Landt Verlag, Berlin 2011, 493 Seiten, 29,90 Euro
    Cover: "Knut Hamsun. Schwärmer und Eroberer" von Ingar Sletten Kolloen
    Cover: "Knut Hamsun. Schwärmer und Eroberer" von Ingar Sletten Kolloen (Landt Verlag)