Donnerstag, 18. April 2024

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Unbestechlich

Wer kennt schon Nikolaj Kljujew, neben Sergej Jessenin einer der bedeutendsten russischen Bauerndichter des 20. Jahrhunderts? Wer kennt Jelena Guro, von der es heißt: "In Literaturgeschichten wird sie kaum erwähnt, in Werken über die russische künstlerische Avantgarde jedoch häufig als Wegbereiterin und vielversprechende Doppelbegabung gewürdigt"? Oder wem ist der Name Gennadij Ajgi geläufig? Nobelpreisanwärter und einer der großartigsten zeitgenössischen Dichter russisch-tschuwaschischer Zunge? Und haben Sie schon einmal etwas von Jewgenij Baratinskij gehört, der von Puschkin ebenso wie von Mandelstam und Achmatowa bewunderte Gedankenlyriker des 19. Jahrhunderts?

Cornelia Jentzsch | 26.11.2003
    Wer also seine Wissenslücken diesbezüglich schließen möchte, dem sei dringend das neue Buch der Schweizerin Ilma Rakusa empfohlen: Von Ketzern und Klassikern – Streifzüge durch die russische Literatur.

    Dieses schmale Suhrkampbändchen enthält kleine Miniaturen, so hingebungsvolle wie genau geschrieben. Sein Taschenbuchformat prädestiniert es geradezu für Bahnfahrten, Wartezimmer und Mittagspausen.

    Ilma Rakusa, Dichterin und Übersetzerin, schreibt seit Jahren für Zeitungen wie die NEUE ZÜRICHER ZEITUNG oder DIE ZEIT . Sie verfasst Rezensionen und Essays über Literatur mit speziellem Augenmerk auf die russische. Was lag näher, als die vergänglichen Tagesmedientexte noch einmal zusammenzufassen und in einem Buch zu konservieren. Rakusa:

    Ich habe das auch gesammelt so im Laufe der Zeit, es war mir wirklich ein Anliegen, solche Stimmen, die ich sehr interessant finde, relativ früh einfach mal hier hörbar zu machen. Natürlich blieb das dann dabei. Natürlich habe ich kein schlechtes Gewissen, das noch einmal zu integrieren, weil Sie ja wissen, wie das ist mit Zeitungsartikeln. Vielleicht aus einer solchen Beilage, das legt man mal weg, wenn man interessiert ist am Thema, aber das andere das wandert dann in den Müll. Die Sachen sind sehr vergänglich, Zeitungsarbeiten. Und ich habe wahnsinnig viel gearbeitet für Zeitungen, ich habe wirklich Archivschachteln voll, und das ist wirklich nur ein Bruchteil davon, was da drin ist.

    Der postume Co-Autor dieses Suhrkamp-Bändchens von Ilma Rakusa ist übrigens kein geringerer als Fjodor Dostojewski.

    Was mich an der russischen Mentalität interessiert? Ich glaube, das alles wurzelt in meinen ersten Leseerfahrungen, und das war Dostojewski. Da war ich zwölf, da habe ich Schuld und Sühne gelesen, oder heute: Verbrechen und Strafe. Und ich war davon unglaublich fasziniert. Es war so viel Welt in diesen Romanen von Dostojewski. Ich habe mich eigentlich früh damals, merkwürdig, mit zwölf schon, auch für religiöse Fragen interessiert. Das war alles auch da, die Metaphysik, das Physische, das Metaphysische, Leidenschaft, Liebe natürlich, Armut. Suche, Suche, endlose Suche nach Nochwas, eben nach irgendwie Höherem. Also ich wurde eigentlich initiiert in diese russische Literatur durch Dostojewski. Und das hat mich sehr geprägt. Und ich habe das immer wieder gefunden bei den Russen, ein großes Herz, eine große Begabung für die Extreme. Was einem ja manchmal auch Angst macht. Dieses auch Manische und Depressive. Es spielt sich alles so in den Extremen ab. Die Suche; es ist eigentlich ein Volk, würde ich mal sagen – wenn man überhaupt so verallgemeinern darf – das immer auch etwas höheres sucht.

    Und ich habe das dann in Gesprächen mit Russen, nicht nur in der Lektüre, sondern auch in persönlichen Gesprächen auch so erfahren, daß man sehr schnell auf die wesentlichen Fragen kommt. Und hier auch in eine Tiefe gehen kann, wie ich sonst eigentlich auch selten sonst erlebe. Diese berühmten Küchengespräche, die gehen schon wirklich in medias res, und man hat auch ein sinnliches Gefühl dabei. Also Abstrakt ist nicht wirklich Abstrakt bei den Russen, es hat irgendwie noch eine sinnliche Dimension. Und diese Gespräche waren alle bis ins Morgengrauen hinein, alle wesentlich, leidenschaftlich, irgendwie tief... und haben dazu geführt, daß man sich auch menschlich nähergekommen ist. Das interessiert mich heute noch an den Russen und an der russischen Literatur, diese Art, zum Wesentlichen zu kommen.

    Ilma Rakusa studierte in den 60er Jahren Slawistik und Romanistik in Zürich und Paris. Gegen Ende des Studiums fuhr sie für ein Jahr nach Petersburg für Studien vor Ort. Hier begegnete sie Joseph Brodsky, der Witwe Ossip Mandelstams Lydia Jakowna Ginzburg, den russischen Konzeptualisten und zahlreichen Dissidenten. Der Literaturwissenschaftler Efim Etkind nahm die damalige Studentin unter seine Fittiche und vermittelte Hintergründe. Ilma Rakusas Kennerschaft der russischen Literatur beruht deshalb nicht nur auf genauen Studien, sondern vor allem auf eigenen Erlebnissen und Beobachtungen, die sie als Dichterin zudem auch in einer besonderen Art und Weise wiedergibt.

    Ilma Rakusa schreibt präzise auslotend wie seismografisch registrierend - und mit einem aufmerksamen Blick für das Besondere. Denn zu honorieren ist an ihren Arbeiten, dass sie Autoren, die sie vorstellt, stets unabhängig vom Literaturmarkt und seiner gesteuerten Popularität aussucht. Das macht sie zur Entdeckerin und Vorreiterin in Sachen russischer Literatur. So regte sie auch eine erste Übersetzung der 1913 viel zu früh verstorbenen Dichterin Jelena Guro an. Das Buch erschien soeben in der Friedenauer Presse bei Katharina Wagenbach-Wolff und wurde von Peter Urban übersetzt. Der schmaler Band heißt Lieder der Stadt und enthält sowohl Zeichnungen von Jelena Guro als auch ihre fragmenthafte Prosa, die zumeist in freie, reimlose und experimentelle Verse übergeht. Jelena Guro war eine Ausnahmeerscheinung in der russischen Literatur, sie hinterließ ein leises, stilles, mit einfühlsamen Ton geschriebenes Werk, das geprägt ist von einer tiefen Liebe zu allem Lebendigen. Die Künstlerin und Autorin selbst hatte sich von öffentlichen Disputen und von lauter Propaganda ferngehalten, vielleicht ein Grund für das Vergessen ihres Werkes. Jedoch Anlass genug für Ilma Rakusa, sie bekannt zu machen.

    Ich war die erste, und Katja Wagenbach sagte neulich auch, als wir telefonierten, ja ich habe immer ihren Aufsatz mit mir herumgetragen, und irgendwann hat sie wohl den Urban motiviert, das zu machen. Und von Kljujew gibt es gar nichts auf Deutsch, also, da bin ich auf weiter Flur die einzige.

    Genüsslich zu lesen ist nicht nur das vielfältige biografische Material, welches man im Band von Ilma Rakusa fast en passant zu lesen bekommt, sondern auch die Charakterisierungen der Autoren, deren Texte / und den Schreibsituationen, in denen die Texte entstanden sind. Zu den Dramen von Wladimir Kasakow, Jahrgang 1938, schreibt Ilma Rakusa: "Es ist ein Universum der gemessenen Zeitlosigkeit und luziden Phantasmagorie, in dem Menschen und Gegenstände wie Billardkugeln aufeinanderprallen und wieder auseinanderstieben, von unbekannter Hand gelenkt.

    Diese Mikroberührungen und Vibrationen sind der heimliche Motor von Kasakows Stücken, die stets vom Stillstand bedroht sind. Und zu dem 1946 geborenen Prosaautor Anatolij Gawrilow schreibt sie: "...seine Prosastücke gehören zur stillen Sorte. Doch diese Stille trügt. Es ist die Stille des Endes, der letzten Zuckungen, der begrabenen Hoffnungen, des grotesken Nichts. Eine friedlose Stille, Signum desolater Ausweglosigkeit."

    So, wie sich Ilma Rakusa in diesem Band der älteren Generation von Dostojewski, Tolstoj, Tschechow, Achmatowa oder Zwetajewa zuwendet, so genau beobachtet sie auch die jüngste Schreibgeneration von Wladimir Sorokin oder Oleg Jurjew. Und was prognostiziert sie der zeitgenössischen Literatur Russlands aus ihrer Sicht?

    Ich glaube, es gibt verschiedene Wege, die beschritten werden. Eine Sache, die mir immer auffällt, ist jetzt: die Russen reisen ja auch, und sie können reisen. Auch jüngere Autoren leben mal zeitweise in Berlin oder in New York oder in Los Angeles, manchmal auch sogar länger, und gewinnen da neue Eindrücke in der neuen Umgebung. Das würde bedeuten, dass sich russisches mit anderem vermischt. Und das dadurch vielleicht wirklich etwas Neues entsteht, eine neue Wahrnehmung, und das es sich auch wieder quasi auf die russische Literatur zurück auswirkt. Dann glaube ich, dass es wieder eine Tendenz gibt zu einer Beruhigung, das heißt, dass man die Schreibweisen, die jetzt wild zwischen Postmoderne und Sciencefiction hin und herpendeln, dass es wieder ein Zurück gibt zu einer, sagen wir mal, realistischen Literatur, die sich auf wesentliche Dinge besinnt. Ich glaube, das ist jetzt auch im Kommen. An literarischen Entdeckungen, muss ich sagen, habe ich wenige gemacht in den letzten Jahren. Nicht wirklich etwas, wo ich sage, das ist ganz große Literatur. Ich finde, die Russen sind in einem Stadium der Suche.

    Es gibt zweifellos Talente, aber das sind auch nicht immer gerade die Jüngsten. Sorokin übrigens halte ich für einen sehr begabten Autor, auch wenn ich ihn verschiedentlich kritisiert habe. Ich finde, die Russen sind oft so talentiert, dass sie lernen müssen, dieses Talent in irgendeine Form zu bringen, damit auch diszipliniert umzugehen. Die Russen sind unglaublich begabte Erzähler. Auch manche, die gar nicht schreiben, sind einfach gute Erzähler, und man könnte es gleich zu Papier bringen und es wäre eine tolle Erzählung. Das Leben gibt natürlich auch viel her, ich finde es gibt mehr her das Leben, als das Leben in Deutschland oder das Leben in der Schweiz auf jeden Fall. Die haben ein unglaubliches narratives Talent, die Russen. Und die Autoren haben das natürlich erst recht.

    Ilma Rakusa
    Von Ketzern und Klassikern – Streifzüge durch die russische Literatur
    edition suhrkamp, 235 S., EUR 10,00

    Elena Guro
    Lieder der Stadt – Prosa und Zeichnungen
    Friedenauer Presse Berlin, 32 S., EUR 9,50