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"Und jetzt frage ich: Wer bin ich?"

Virginia Woolf, die jeder Form von konventioneller Religiosität abgeneigt war, integriert persönliche Erlebnisse in einen einzigartigen persönlichen dichterischen Kontext, der ihr diese Momente ohne einen traditionellen religiös geprägten Gott erschließt. Sie vermitteln ihr eine Auffassung von Wirklichkeit, die im eigenen Erleben gründet und die das realistische Weltbild jener konventionellen Romankünstler und -künstlerinnen transzendiert, die sie als "Materialisten" bezeichnet.

Von Karin Petersen | 14.12.2008
    Virginia Woolf nennt sie die tatsächlich "wichtigste aller meiner Erinnerungen."

    "Wenn das Leben ein Fundament hat, auf dem es steht, wenn es eine Schale ist, die man füllt und füllt und füllt - dann steht meine Schale zweifellos auf dieser Erinnerung. Ich liege halb schlafend, halb wach im Bett, im Kinderzimmer in St. Ives. Ich höre - hinter einem gelben Rouleau -, wie die Wellen sich, eins-zwei, eins-zwei, brechen und über den Strand hinaufschäumen und sich dann wieder, eins-zwei, eins-zwei, brechen. Ich höre das Rouleau, das seine kleine Holzquaste an der Schnur über den Boden schleift, wenn der Wind es nach außen bauscht; ich liege und höre dieses Schäumen und sehe dieses Licht, und ich habe das Gefühl, es ist fast nicht möglich, dass ich hier bin, mit dem Gefühl der reinsten Ekstase, die ich mir vorstellen kann."

    Die Intensität solcher frühkindlichen Erlebnisse einer seligmachenden Einheit von Selbst und Welt führt Virginia Woolf darauf zurück, dass sie noch nicht genormt sind durch eine gesellschaftlich geprägte Sprache und ein entsprechend geformtes Ich.

    Und doch legen diese Erlebnisse den Grundstein für ihre Suche, sich dieser Intensität über Sprache wieder anzunähern und durch das Medium der Poesie aufschimmern zu lassen. Was sie auch das "Sein" hinter dem "Nichtsein" nennt.

    Dieses Nicht-Sein, die alltägliche Unbewusstheit stellt den üblichen Zustand dar. Sie bezeichnet es auch als "cotton wool", das heißt als Watte, welche die Wahrnehmung verwischt. Die Sprache der Dichtkunst jedoch kann in der Annäherung an die Dinge diese poetisch neu erschaffen und im menschlichen Bewusstseinsstrom hinter der scheinbaren Fragmentierung der äußeren Welten deren reale Verbundenheit aufspüren. Sie ist die Sicht oder Perspektive, mit der Woolf sich das alles einende Muster hinter dem Nichtsein erschließt.

    Aufgehoben wird der Wattezustand des Unbewussten durch das Element des "Schocks" in Form von besonderen Momenten, die Woolf durch eine plötzliche Erschütterung der alltäglichen Routine Einblick in das innere Muster hinter dem Trugbild unbewusst gelebter Äußerlichkeit gewähren. Die Erfahrung solch besonderer Augenblicke von Wahrheit, die hinter dem Schleier der Illusion aufschimmert, ist klassischer Bestandteil aller großen spirituellen Weisheitstraditionen.

    Woolf, die jeder Form von konventioneller Religiosität abgeneigt war, integriert diese Erlebnisse in einen einzigartigen persönlichen dichterischen Kontext, der ihr diese Momente ohne einen traditionellen religiös geprägten Gott erschließt. Sie vermitteln ihr eine Auffassung von Wirklichkeit, die im eigenen Erleben gründet und die das realistische Weltbild jener konventionellen Romankünstler und -künstlerinnen transzendiert, die sie als "Materialisten" bezeichnet.

    Die "Fähigkeit, Schocks zu empfangen", die der Wahrnehmung diese tieferen Dimensionen hinter der Oberfläche der Dinge erschließt, führt Woolf - neben der ersten Initiation durch kindliche Einheitserlebnisse - auf eine zweite Initiation durch frühe Verluste zurück. Die 13-jährige Virginia erlebte den Tod der Mutter, dem in kurzer Zeit der Tod der Stiefschwester Stella folgte, die nach dem Ableben der Mutter an deren Stelle getreten war. Zeit ihres Lebens sah Woolf darin Erfahrungen, die in ihrer Schmerzlichkeit für sie die Bedeutung hatten,

    "dass die Götter (wie ich es zu formulieren pflegte) einen ernst nahmen und einem eine Aufgabe zuteilten..."

    Diese Schocks eröffnen ihre eine Wahrnehmungstiefe, der sie schreibend zu einer Sprache verhelfen will. Denn auf dem tiefsten Grund ihrer Einsamkeit gelangt sie

    "zu einem Bewusstsein dessen, was ich 'Realität‘ nenne: einem Ding, das ich vor mir sehe; etwas Abstraktem, das aber in den Wiesen unten wohnt und im Himmel über ihnen; daneben ist nichts wirklich wichtig; darin werde ich ruhen und weiterexistieren. ... und in meiner Vorstellung ist dies für mich das Notwendigste überhaupt: Das, was ich suche."

    Nach den beiden grundlegenden Initiationen - dem frühkindlichen Erlebnis ekstatischen Einsseins und der seelischen Erschütterung durch den Verlust zweier ihr am engsten verbundenen Menschen - erfährt Woolf diese andere Realität hinter der Wattewirklichkeit einer unbewussten Alltäglichkeit in manchen Momenten mit einer solchen Wucht, dass sie sich ihr Leben lang daran zu erinnern vermag.

    Selbst rückblickend besitzen diese Augenblicke des Seins für sie mehr Wirklichkeit und Präsenz als die wattierte Gegenwart. In diesen beiden Grunderfahrungen eines Bewusstseins, das Liebe und Tod, den Wellenrhythmus vom Kommen und Gehen des Lebens, als Einheit erlebt, sieht sie ihren Auftrag und ihr leidenschaftliches Anliegen als Dichterin:

    "das Flackern jener innersten Flamme zu enthüllen, die ihre Botschaften durch das Gehirn sendet. ... den innersten Nerv des Bewusstseins" freizulegen, der "das Leben selbst" ist.

    So dürfen wir, ihren eigenen Worten folgend, ihr poetisches Anliegen formulieren: Im unbewussten Nichtsein einer Wattewelt und der Oberfläche der Dinge und gesellschaftlichen Gepflogenheiten das Sein zu offenbaren, das alles Sein miteinander verbindende Muster, das sich ihr - außer in flüchtigen wachen Momenten des Alltags und den geschilderten Kindheitserinnerungen - nur in der Intensität der dichterischen Arbeit erschließt. Dieses Anliegen wird ihr zur Grundlage für das,

    "was ich vielleicht eine Philosophie nennen möchte. Jedenfalls bin ich der festen Meinung, dass hinter der Watte ein Plan versteckt ist, dass wir - ich meine, alle Menschen - damit in Zusammenhang stehen, dass die ganze Welt ein Kunstwerk ist, und wir alle Teile dieses Kunstwerks sind. Hamlet oder ein Beethoven-Quartett sind das Wahre über dieser ungeheuren Materie, die wir die Welt nennen. Aber es gibt keinen Shakespeare, es gibt keinen Beethoven und ganz entschieden gibt es keinen Gott; wir sind die Sprache, wir sind die Musik, wir sind das Ding an sich."

    Es gibt aber - neben den kindlichen Einheitserlebnissen und den wachen Augenblicken, die sich ihr durch seelische Erschütterungen eröffnen - noch eine dritte Dimension des Erlebens, die im engeren psychoanalytischen Sinne wahrscheinlich auf die frühen schmerzlichen Verluste und ein weiteres traumatisches Kindheitserlebnis zurückzuführen ist. Möglicherweise haben ihr diese Erfahrungen aufgrund ihres von klein auf poetisch geschulten Intellekts über das Schmerzliche hinaus ebenfalls die Berührung mit der Erlebnisqualität eines zeitlosen, aller Existenz verbundenen Selbst vermitteln können: die periodisch wiederkehrenden depressiven Episoden. In den Tagebüchern bezeichnet sie diese Zeiten in ihrem Leben als "Heiligtum", "Nonnenkloster", "religiösen Rückzug" .

    An anderer Stelle heißt es dazu:

    "Man fällt hinunter in den Brunnen und nichts schützt einen vorm Sturmangriff der Wahrheit. Da unten kann ich weder schreiben noch lesen; ich existiere jedoch. ICH BIN. ... die mystische Seite dieser Abgeschiedenheit; man ist nicht mit sich selbst, sondern mit etwas im Universum allein gelassen."

    Von Woolfs Begrifflichkeit ausgehend - "die mystische Seite", "Ich bin, "im Universum alleingelassen" -, können wir diese Tiefpunkte in ihrem Leben, die ihr eine Wahrheit erschließen, welche sowohl die zeitliche als auch eine zeitlose Dimension umfasst, in einem klassischen Sinn als "dunkle Nacht der Seele" bezeichnen. Diese mystischen Erfahrungsdimensionen decken sich mit den Erlebnissen von Mystikern vieler spiritueller Traditionen, die durch diese tiefe Verlorenheit gingen - vor der Verwirklichung zeitloser Verbundenheit mit aller Existenz im Zustand absoluter Präsenz.
    Während die frühen Einheitserfahrungen einer vorrationalen kindlichen Entwicklungsstufe entsprechen, finden sich in ihrem Werk "reife" Formen dieses Erlebens, geläutert durch die Erfahrungen, Initiationen und die Radikalität, mit der Woolf ihr Leben dem Schreiben hingibt.

    So ist es in ihrem Roman "Zum Leuchtturm", in dem wiederholt die Innensicht der Mrs. Ramsay beschrieben wird - kein Zufall, dass dieses Buch in jenem Haus in St. Ives, Cornwall, spielt, in dem die Kindheitserlebnisse eines ekstatischen Einsseins stattfanden.

    Ebenso wenig zufällig erscheint es, dass dieses Erleben Mrs. Ramsay zugeschrieben wird, in der Virginia Woolf ein Porträt der früh verstorbenen Mutter zeichnet.

    Bei der abendlichen Tischgesellschaft in Talland House stellt sich für Mrs. Ramsay dieser Zustand zeitloser und ekstatischer Verbundenheit im Kontakt mit den sie umgebenden Menschen her:

    "Alles schien möglich. Alles schien richtig. Gerade eben erst... hatte sie das Gefühl der Sicherheit erlangt; sie schwebte wie ein Habicht schwerelos; wie eine Fahne in einem Element der Freude, die jeden Nerv ihres Körpers schwelgerisch und süß durchdrang, nicht lärmend, eher feierlich, denn sie rührte, dachte sie, während sie ihnen allen beim Essen zusah, von Mann und Kindern und Freunden her... Nichts brauchte gesagt zu werden; nichts konnte gesagt werden. Da war es, sie waren gänzlich davon umgeben. Es hatte teil .. an der Ewigkeit.

    Hier finden wir sie beschrieben, die beiden einander durchdringenden Dimensionen äußeren und inneren Seins in der Zusammenkunft einer viktorianischen Familie der gehobenen Stände Ende des vorletzten Jahrhunderts zum abendlichen Dinner mit Besuchern.

    Dem konventionellen materialistischen Denken, das seinen Wirklichkeitsbegriff auf physische Realitäten gründet, stellt sich das, was Woolf als "Sein" und "Nichtsein" bezeichnet und was sie als Synonyme für bewusstes, inneres Sein und unbewusstes oder "wattiges" äußeres Sein benutzt, in umgekehrter Wertigkeit dar. Für diesen Realismus zeigt sich das wirkliche Sein in äußerlichen Dingen - Gesten, Körperlichkeit, Handeln, Sprechen. Das innere Erleben der Mrs. Ramsay hingegen würde er unter Nicht-Sein verbuchen, da es sich physisch nicht vermittelt.

    Woolf als Autorin kehrt diese Dualität und die damit verbundenen Wertigkeiten um oder besser: sie hebt sie auf. Dem poetischen Schreiben gelingt die Überbrückung jener Kluft, die für Woolf im Alltäglichen zwischen der Wattewelt des Unbewusstsein und bewusstem Sein oft klaffte.

    Im poetischen Schöpfungsakt schließt sich die Kluft: "Was Form ist, ist Leere; was Leere ist, ist Form", wie es im buddhistischen Herz-Sutra heißt, in dem "Leere" gleichbedeutend mit der lebendig vibrierenden, schöpferischen, zeitlosen Dimension allen Seins und nicht etwa zu verwechseln ist mit der negativen Leere westlichen existenzialistischen Denkens als sinnentleerte Abwesenheit von Lebensfülle.

    Doch ist dieses innere Erleben für Woolf kein Monolog eines Bewusstseins, das der gesellschaftlichen Einflussnahme entrückt wäre. Sie war sich der gesellschaftlichen Prägung dieses subjektiven Erlebens eindringlich gewahr. Die Ereignisse, schreibt sie in ihren biografischen Aufzeichnungen "Moments of Being", zu deutsch: Augenblicke des Seins, bedeuten wenig, solange wir nicht wissen, wer sie erlebt. Alle subjektiven Instinkte, Affekte, Zuneigungen, Leidenschaften, Bindungen betrachtet Woolf von früh an als gesellschaftlich geprägte, eingebettet in das grenzenlose Feld menschlicher Bewusstseinssphären, in das die Persönlichkeit hineingestellt und mit dem sie verbunden ist. Hier wird die einzelne Persönlichkeit selbst ein grenzenloses Bewusstseinsfeld.

    Woolf zeichnet dieses individuelle Bewusstsein in seiner Verwobenheit in beide Richtungen: gesellschaftlich-sozial geprägt und zugleich frei, zeitlich gebunden und aller Zeit enthoben.

    Mrs. Ramsay gibt davon Kunde in einem inneren Monolog, gehalten in einem jener seltenen Augenblicke des Alleinseins, in denen sie den Ansprüchen der anderen an sie als Mutter, Ehefrau und Gastgeberin für kurze Zeit entkommt.

    ".. jetzt brauchte sie über niemanden nachzudenken. Sie konnte sie selbst sein, allein sein. Und das war es, wonach sie jetzt oft das Bedürfnis verspürte - nachzudenken; nein, nicht einmal nachzudenken. Still zu sein; allein zu sein. All das Sein und Tun, das raumgreifende, glitzernde, vernehmliche, verdunstete; man schrumpfte mit einem gewissen Gefühl der Feierlichkeit darauf zusammen, man selbst zu sein ... und dies Ich, das seine Bindungen abgeworfen hatte, war frei für die seltsamsten Abenteuer: Wenn das Leben für einen Augenblick Ruhe gab, schien die Reichweite der Erfahrung grenzenlos... und dann drängte sich ihr jedes Mal ein Ausruf des Triumphierens über das Leben auf die Lippen, wenn die Dinge sich in diesem Frieden, dieser Ruhe, dieser Ewigkeit zusammenfügten."

    Passagen wie diese zeugen von Woolfs Sicht des Selbst: Für sie ist die äußere Persönlichkeit eine flüchtige Erscheinung, immer in Bewegung, jeden Augenblick ihre Gestalt verändernd als Antwort auf die sie umgebenden Kräfte. In der Tiefendimension jedoch verschwinden die vagen persönlichen Konturen fast ganz, verweben sich mit einem Selbst, dem keinerlei zeitliche und räumliche Grenzen auferlegt sind. Woolfs Charaktere sind eigentlich Bewusstseinsstrukturen, deren Verhalten, Reden und Handeln in manchen Augenblicken ihr Sein aufleuchten lässt, das heller scheint als ihr Tun:

    "Nur auf das Nebeneinander und Ineinander, auf das Gewebe menschlicher Beziehungen und die Leuchtkraft jedes Augenblicks kommt es an."

    Die Persönlichkeit ist wie ein Strudel, in dem die Einflüsse, die auf das Selbst einwirken, sich äußern, Gestalt annehmen, sich zu Mustern ordnen, die im Augenblick scheinbaren Erkennens eines unverwechselbaren Charakters schon wieder in Auflösung begriffen sind. Auch die Vergangenheit ist in diesem Vexierspiel keine feste Größe, sondern verändert sich im Wandel der Persönlichkeit durch die Zeit, nimmt aus den wechselnden Perspektiven, die sich dem menschlichen Bewusstsein im Lauf seiner Entwicklung erschließen, immer wieder neue Gestalt an.

    In Mrs. Ramsay äußert sich dieser Einfluss im Augenblick stillen Alleinseins in Form eines Gedankens, den sie von sich weist, weil sie ihn - ähnlich wie Virginia Woolf selbst konventioneller Religion und Religiosität abgeneigt - nicht als eigenen betrachtet:

    "Wir sind in der Hand des Herrn.
    Sie ärgerte sich .. sofort über sich, weil sie das gesagt hatte. Wer hatte das gesagt? Sie nicht; sie war dazu verleitet worden, etwas zu sagen, das sie nicht meinte."


    Das poetische Erschaffen des Zusammenspiels all dieser Dimensionen menschlichen Erlebens, der inneren (zeitlosen) und äußeren (begrenzten) Zeit im gesellschaftlich geprägten Individuum; das schockartige Wissen um diese Transzendenz menschlichen Seins in besonderen "Momenten". In der poetischen Arbeit erlebt sie selbst die Berührung mit dieser Transzendenz und erfährt aus der Perspektive der "Dichtung" als Schöpfungskraft die Einheit von Wandelbarkeit und Kontinuität. Die ...

    " ... seltsame Macht, die wir besitzen, Tatsachen durch Einbildungskraft zu verändern",

    ... ist für sie zentrale Kraft im Aufspüren einer Wirklichkeit, die sie nur im Wechselspiel der genannten Dimensionen als eine erfüllte Wirklichkeit erlebt.

    Deswegen die Suche nach dem Rhythmus des Schreibens, der sich an den Grundrhythmus des Lebens anschließt, von dessen Musik ihr die kindlichen Einheitserlebnisse im vorsprachlichen Alter, die dunkle Nacht der Seele, die sie als erwachsene Frau durchleidet, und die spontanen Erschütterungen des Seins Kostproben geben.

    "Ich glaube, beim Schreiben kommt es auf den Rhythmus an. Wenn ich morgen den richtigen Rhythmus erwische - das Schiff meines Satzes im richtigen Augenblick besteige -, dann kann ich ihn sich wie von selbst abspulen lassen; ... es geht dabei nicht eigentlich um Stil - die richtigen Worte - sondern eher darum, dass man das Denken frei schwebend aus sich entlässt..."

    Nicht nur der Auftrag, als den sie das Schreiben empfand, ließ sie eine äußerst disziplinierte und arbeitsame Dichterin sein. Virginia Woolf schrieb, außer in den Ferien, wo sie sich mit Briefen und Tagebuchnotizen begnügte, sowie in Zeiten seelischer Krisen und körperlicher Krankheit, täglich, auch an den Wochenenden. Es war die Intensität des Erlebens im Akt des Schreibens selbst, welche die Vermutung rechtfertigt, dass Woolf bei der poetischen Arbeit erfuhr, was sie Mrs. Ramsay erfahren lässt:

    "Dort war Freiheit... Alles schien möglich. Alles schien richtig. ... Es gibt einen Zusammenhalt in den Dingen, eine Beständigkeit; etwas, das, so empfand sie es, immun gegen den Wandel ist und im Angesicht des Fließens, des Flutens, des Spektralen leuchtet... wie ein Rubin."

    Diesem fließenden Zusammenspiel der Dimensionen von Ereignis und Zeit, Wandel und Zeitlosigkeit, gespiegelt im Fluss menschlichen Bewusstseins, ist Virginia Woolf schreibend auf der Spur. Die Augenblicke der Erschütterung, die ihr Einblicke in die "Wirklichkeit hinter den Erscheinungen" eröffnen, verlieren den Schrecken, den sie in ihren frühen Jahren für sie bargen.

    Mit zunehmendem Alter heißt sie diese Momente willkommen. Sie sind ihr Anlass, schreibend zusammenzufügen, was sie im Zustand des Schocks als unerträgliche Kluft zwischen der Begrenztheit unbewussten Erlebens und der bewussten Erfahrung eines zeit- und grenzenlosen Einsseins aller Existenz wahrnahm. Diese Kluft zu schließen - darin liegt für sie die Faszination und Kraft, Erfüllung und Befriedung, die das "Dichten" verheißt und gewährt. Die Poesie der Worte ist das Medium und Instrument zur Erschließung und Schaffung von Perspektiven, die Zugang zu tieferen Wirklichkeiten offenbaren. Dabei geht es Woolf nicht um ein Benennen dessen, was bereits existiert und durch Worte lediglich freigelegt werden müsste, sondern im Schöpfungsakt des Schreibens werden diese Dimensionen erst befreit. Nur vor diesem Hintergrund kann sie sagen:

    "Es ist meine Theorie, dass das tatsächliche Ereignis faktisch nicht existiert - die Zeit genauso wenig."

    Die Dichtung der Virginia Woolf ist von einer Körperlosigkeit, in der Fakten, Dinge oder Handlungen fast ausschließlich im Strom menschlichen Bewusstseins oder in der Sphäre immer gegenwärtiger Vergänglichkeit treiben. Sexualität und Erotik sind nahezu ausgeschlossen. Bereits über das früheste Kindheitsereignis heißt es:

    "Das Sonderbare an diesen .. lebhaften Erinnerungen ist..., mich selbst empfinde ich kaum, sondern einzig diese Sinneswahrnehmung. Ich bin nur das Gefäß eines ekstatischen Gefühls, eines Gefühls der Verzückung."

    So konnte Woolf ...

    "Ekstasen und Verzückungen spontan und intensiv und ohne jede Scham oder das geringste Schuldgefühl.. erleben - solange sie nichts mit meinem eigenen Körper zu tun hatten."

    Diese Körperlosigkeit, verbunden mit einer lebenslangen Scham in Bezug auf alles Körperliche, mag in Woolfs Werk und Leben eine Betonung transzendenter Dimensionen gefördert haben, die nicht nur Stärke, sondern auch Schwäche ist, nicht nur die Öffnung tieferer Dimensionen erschließt, sondern auch auf einen Mangel auf der physischen Ebene und eine latente Abwertung des Materiellen verweist. Sie ist Ausdruck eines weiteren prägenden "Augenblicks des Seins" im Leben des Kindes Virginia, einer schmerzlichen Verletzung der körperlichen Ich-Grenzen, die Woolf in ihren autobiografischen Schriften mit bemerkenswerter Offenheit schildert: Der Missbrauch durch den Halbbruder Gerald Duckworth in Talland House, eben jenem Kindheitsferienhaus in St. Ives, Cornwall, in dem sie die frühkindlichen Seligkeiten erlebte.

    Bei Woolf bestand in Zeiten seelischer Krisen, die mit den Verlusten durch den Tod der Mutter und der Stiefschwester Stella in ihrer Kindheit begannen und in ihrem Erwachsenenleben vor allem nach Beendigung eines ihrer Werke und dessen "drohender" Veröffentlichung wieder aufflammten, immer die Gefahr, dass die Ich-Grenzen zerbarsten und sie sich im Fluten des Wahns verlor. Ihr fehlte jene "Festigkeit des Ich", die Brook Shakespeare bescheinigt.

    Ihr Selbstmord im Jahre 1941, als der Zweite Weltkrieg ihren Alltag erschütterte und ihr das Schreiben in vielfacher Hinsicht unmöglich machte, war Folge einer dieser psychischen Episoden, in der die Wellen des Wahns über ihr zusammenschlugen und sie keine Möglichkeit mehr sah, ihn durch Gefasstheit zu bannen.

    Da waren die äußeren Bedrohungen durch den Krieg - die deutschen Bomber, die Nacht für Nacht zum Luftangriff auf London ansetzten, und im Tiefflug hinweg über Rodmell, dem Dorf in Sussex schossen, wo Woolf und ihr Mann Leonard nach Zerstörung ihrer Wohn- und Arbeitsräume in London lebten. Zudem standen beide Woolfs auf der Liste jener Persönlichkeiten, denen bei einer möglichen Naziherrschaft über England Ausmerzung drohte - Leonard war Jude, Virginia den Nazis als Autorin der verhassten Moderne ein Dorn im Auge.

    Für den Fall aller Fälle hatte das Ehepaar Woolf bereits den Freitod durch Einatmung der Abgase des eigenen Wagens erwogen. Und da war der Verlust des Schreibens als haltende Kraft für ein zerbrechliches und durchlässiges Ich, dem poetische Transzendenz mehr war als ein ästhetischer Luxus, erschloss sie diesem Ich doch "der Beweis von einer Wirklichkeit hinter den Erscheinungen", die Woolf einen ganz konkreten Halt vermittelte. Die Tragik bestand darin, dass sich dieser innere Halt über die Zeiten des aktuellen Schreibens hinaus nicht zur dauerhaften Errungenschaft verfestigte.

    Sie war nicht so fest verankert in den zeitlos mit aller Existenz verbundenen Dimensionen ihres Seins, dass es sie über die extremen Widrigkeiten äußerlicher Zuspitzungen in ihrem persönlichen Leben sowie im gesellschaftlichen und politischen Umfeld in ihrem letzten Lebensjahr hinwegzutragen vermochte.

    Durch die äußere Zerstörung ihrer Lebenszusammenhänge und das Einfrieren des inneren poetischen Bewusstseinsstroms im Umfeld eines Krieges, der allen Anstrengungen der Dichterinnen und Denker ihrer Zeit Hohn zu sprechen schien, war Woolf jede Grundlage genommen, dem Schmerz der Spaltung Stand zu halten. Ihr ging das einzige Mittel verloren, die Schläge abzufangen, die sie schreibend in "Offenbarungen" umwandeln konnte, so dass, was zunächst verstörend war,

    "Beweis (gab) von einer Wirklichkeit hinter den Erscheinungen, (die ich) konkretisiere, indem ich sie in Worte fasse. Nur dadurch, dass ich sie in Worte fasse, mache ich sie zu einer Ganzheit, und diese Ganzheit bedeutet, dass der Schlag seine Macht, mich zu verletzen, verloren hat; und dadurch, dass ich das tue, eliminiere ich vielleicht den Schmerz, und es erfüllt mich mit großer Freude, die getrennten Teile zusammenzufügen. Das ist wahrscheinlich die größte Freude, die ich kenne. Es ist die Verzückung, in die ich gerate, wenn mir, während ich schreibe, bewusst wird, was zusammengehört..."

    Virginia Woolf war sich der psychischen Struktur und Prägung ihres Ich, wie es hier skizziert wurde, zutiefst bewusst. Möglicherweise hielt sie genau diese psychische Grundstruktur, die ihr tiefere Dimensionen von Ich und der Wirklichkeit erschloss, für die eigentliche Quelle ihres Schreibens. Das mag auch den Ausschlag gegeben haben für ihre Entscheidung, trotz großer seelischer Qualen nicht auf das Mittel zur Heilung zurückzugreifen, das zu den großen Entdeckungen zu Beginn des letzten Jahrhunderts zählt: die Psychoanalyse. Das Ehepaar Woolf kannte Sigmund Freud persönlich durch Besuche in dessen Londoner Exilwohnung.

    Die von Leonard und Virginia Woolf betriebene Hogarth Press brachte Freuds Schriften in englischer Sprache heraus, Virginias Bruder Adrian und dessen Frau ließen sich zu Analytikern ausbilden. Obwohl es für Virginia Woolf demnach ein Leichtes gewesen wäre, hier Heilung zu suchen, zog sie eine Psychoanalyse nie auch nur in Betracht, im Gegenteil, sie äußerte sich spöttisch und abfällig darüber. Glaubte sie - wie viele Künstler ihrer Zeit und noch heute - die Psychoanalyse würde durch heilende Festigung des Ich die Grundlagen für ihr Schöpfertum zunichte machen? Bestand ihr Weg darin, die eigene "seelische Gesundheit" bewusst zu opfern, um sich Zugang zu den Dimensionen zu bewahren, die ihr scheinbar gerade aufgrund ihrer gefährdeten Ich-Strukur schreibend zugänglich waren?

    Wie immer die Antworten auf diese Fragen lauten mögen, was bleibt, ist die modern-zeitlose Wahrhaftigkeit, die poetische Schönheit und leuchtende Transparenz ihrer Werke, die sich am besten beschreiben lassen mit Worten, die Virginia Woolf selbst für den von ihr bewunderten Autor Joseph Conrad fand:

    "Vollendet und still.. stehen sie auf in unserer Erinnerung, so wie in heißen Sommernächten auf langsame, majestätische Weise erst ein Stern, dann ein zweiter in den Himmel tritt."