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" ... und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren"

Die Scham - alle Kulturen kennen sie, doch wofür wir uns schämen und wie wir mit damit umgehen, das hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Die Sexualität scheint in westlichen Gesellschaften nicht mehr so schambesetzt wie früher. Aber die Angst, bloßgestellt zu werden ist dennoch verbreitet.

Von Dörte Hinrichs | 02.02.2012
    Am Anfang war die Scham: Damals im Paradies, als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen. Was bekanntlich nicht ohne Folgen blieb:

    Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.

    Die Bedeckung der Genitalien, wie sie im ersten Buch Mose beschrieben wird, ist für Freud der Ursprung der Scham. Und der Zusammenhang zwischen Körper und Scham - auch über den Schambereich hinausgehend - war es, der bei der Freiburger Tagung eine wichtige Rolle spielte. Prof. Joachim Küchenhoff von der Universität Basel und Chefarzt der Kantonalen Psychiatrischen Klinik in Liestal:

    "Ein wichtiger Punkt ist zu sagen, wir sind nicht vollständig in unserem Leben, wir sind auch körperlich nicht immer perfekt und gesund und der körperliche Makel ist so ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, über was man nicht verfügt. Und die Scham ist eine Reaktion darauf, dass ich sagen kann: ich muss verstecken, was nicht perfekt ist, was nicht vollkommen ist, was nicht ganz integrierbar ist, was mich einholt."

    Küchenhoff illustrierte dies an einem literarischen Beispiel: "Nemesis" von Philip Roth. Darin verzweifelt ein junger Schwimmtrainer in den 40er Jahren in den USA an seiner Polioerkrankung, die ihn lähmt.
    "Worum es uns gerade ganz zentral gegangen ist, ist das Verhältnis von Mangel und Scham und auch der Schamüberwindung darzustellen. Also ich finde den Philipp Roth deshalb so interessant, weil ich ihn so realistisch finde. Also er löst das nicht einfach so auf, sondern er zeigt etwas, wo es darum geht, den körperlichen Mangel - und das Leben ist nun mal nicht von Vollkommenheit geprägt, sondern es gibt in jeder Entwicklungsphase die Erfahrung der Unvollständigkeit, der Mangelhaftigkeit, des Makels - auch irgendwie zu integrieren in das Leben. Das sind Aufgaben, die sich jedem stellen."

    Aufgaben, die besonders in körperlich herausfordernden Phasen wie der Pubertät oder im hohen Alter zutage treten. Wenn der Blick von außen, das Urteil der anderen, aber auch der kritische Blick auf einen selbst, die Identität ins Wanken bringen kann. Das bekommt auch Arno Geiger zu spüren, der in seinem Buch "Der alte König in seinem Exil" über die Demenzerkrankung seines Vaters schreibt. Wie schambesetzt dieser Zustand sein kann, hat die Freiburger Psychoanalytikerin Dr. Petra Strasser in ihrem Vortrag beleuchtet:

    "Ich würde denken, gerade was die Erkrankung der Demenz angeht, was ja die Persönlichkeit und sozusagen auch die Fragilität aufzeigt, wenn man das von der medizinischen Seite her diagnostiziert und die Symptome aufschreibt, da ist null Empathie dabei. Da heißt es dann: weiß sich örtlich und zeitlich nicht zu orientieren, vergisst alles in kürzester Zeit, nässt ein, usw. Wenn man sagt, ja gut, das gibt es auch, aber ich schau mal das andere an. Und das ist das, was dem Arno Geiger, ähnlich wie vielleicht einem Therapeuten gelungen ist, ein Verständnis zu diesem alten, langsam immer dementer werdenden Vater zu entwickeln. Und das war zum Teil humorvoll, witzig, er hat ja gesagt, das war für ihn inspirierend."

    So kann die Auseinandersetzung mit einem Mangel - zumindest aus der Perspektive eines nicht direkt Betroffenen - durchaus eine Bereicherung sein. Scham fordert uns heraus, die Würde des anderen zu respektieren und empathisch zu sein. Derjenige, der unter Demenz leidet, schämt sich oft und gerät in eine Spirale der Scham:

    "Anstatt zu sagen, ich merke ich kann das nicht mehr so, ich muss mir irgendwelche Hilfsmittel bauen oder jemanden bitten, das zu ergänzen. Stattdessen wird es verleugnet. Und dann komme ich, weil ich immerfort Ausreden habe, in soziale Situationen, wo man auch ein Stück der Beschämung ausgesetzt ist. Wenn er das anerkennen könnte, dann wäre das viel leichter für die anderen, aber auch für ihn selber, damit umzugehen."

    In Basel macht Prof. Joachim Küchenhoff eine Studie gemeinsam mit Plastischen Chirurgen über die Rolle von sog. Body-Modifications. Immer häufiger wird der Körper einem Perfektionsideal angepasst: werden Nasen geradegebogen oder Falten mit Botox weggespritzt,, damit die Spuren des Alters verschwinden. Psychoanalytiker sehen darin einen Ausdruck von Schamverleugnung. Die eigene Scham - über welche Defizite auch immer - wird oft so gut es geht retouchiert, denn sie ist hochgradig angstbesetzt. Die Masken der Scham zu erkennen ist auch eine Herausforderung im therapeutischen Prozess:
    "Man muss auch wahrnehmen als Therapeut, dass man da auch beteiligt ist, oft als derjenige, der beschämt oder der Beschämende ist, weil er hinguckt, und gleichzeitig auch die Rolle hat, das zu benennen und damit an der besseren Akzeptanz des Schamgefühls oder eben dieser Makelerfahrung zu arbeiten."

    Einerseits ist die Scham-Angst groß, vor den Augen der anderen bloßgestellt zu werden, seinen Status zu verlieren. Andererseits setzen viele sich heute in der Öffentlichkeit verstärkt Situationen aus, die mit der Ausweitung der Schamgrenze spielen. Prof. Achim Geisenhanslüke vom Institut für Germanistik an der Universität Regensburg:

    "Und alle Entwicklungen, die jetzt auch durch die modernen Medien und neue Kommunikationsformen bedingt sind gehen ja tendenziell mit dem Risiko einher, dass bestimmte Schamgrenzen verletzt werden. Etwa über Facebook und die Frage, ob bestimmte Schüler durch Mobbing-Aktionen von anderen Schülern soweit isoliert werden, dass sie bis in den Selbstmord getrieben werden, das sind ja sozusagen neue Formen der Schamerfahrung, die es in der Vergangenheit noch nicht gegeben hat, weil die Medien noch nicht existiert haben, die das jetzt möglich machen."

    Damit zeigt sich eine neue Dimension, andere zu beschämen, während gleichzeitig eine Lust an der Selbstentblößung existiert, wie Handy-Telefonate in der Öffentlichkeit oder Auftritte in Dschungelcamps und Casting-Shows zeigen. Wofür man sich schämt, wird von der Gesellschaft und von den Werten der eigenen Gruppe bestimmt. Schamauslöser und Schamgrenzen können sich verändern. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Parameter in unserer Gesellschaft deutlich verrückt, so das Fazit des Psychiaters Prof. Rolf-Peter Warsitz von der Universität Kassel:

    "Man spricht von narzisstischer Kultur, man spricht von narzisstischen Störungen, die zugenommen haben uns. Und ich denke, das in dem Verhältnis von Sozialität und Individualität, dass sich da etwas dergestalt verschoben hat, dass sich die Individuen nicht mehr in ihren sozialen Rollen aufgehoben fühlen, sondern Individuen sein müssen. Und daran aber, weil das eine Überforderung ist, in Krisen geraten, weil sie daran scheitern. Und das gesellschaftlich kulturelle Normensystem sie nicht mehr richtig auffängt. Und sie sind dann allein gelassen damit. Sie verwirklichen Ideale, Ich-Ideale, die Kids müssen bestimmte Kleidung tragen, müssen Perfektionsmerkmale der Schlankheit haben usw. aber sie scheitern daran. Und gleichzeitig darf dieses Scheitern nicht wahrgenommen werden, muss verleugnet, verdrängt werden. Und früher hat man gesagt, die japanische Kultur ist eine Schamkultur und wir sind keine Schamkultur. Jetzt ist es anders geworden, die Scham drängt so hinein, weil die Schamkonflikte übermächtig geworden sind."