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Und wenn sie nicht gestorben sind

Als Kind war er fasziniert von seinem Kaleidoskop. Es war begeistert von der unendlichen Vielfalt der Formen und Farben, die sich durch eine kleine Drehung der Röhre erzielen ließ. Für den Schüler nahm dann der Druckkasten den wichtigsten Platz ein. Aus der begrenzten Menge der Buchstaben ließen sich unendlich viele Worte zusammensetzen. Nun regierte nicht mehr der Zufall, wie beim Kaleidoskop, sondern das planvolle Spiel. Die Sprache war ein grenzenloses Universum, in dem immer neue Entdeckungen zu machen waren. Fünfzig Jahre später entdeckte Ludwig Harig, längst zum Schriftsteller geworden, daß auch das eigene Leben sich aus Bruchstücken zusammenfügt wie die Bilder im Kaleidoskop. Ein Zusammenhang und eine Form ergibt sich erst aus den Worten. Aus dem Erzählen.

Jörg Magenau | 25.08.2002
    Als Ludwig Harig in den achtziger Jahren damit begann, seine Autobiographie zu schreiben, nannte er die Bücher, die dabei entstanden, Romane. Die Trilogie "Ordnung ist das halbe Leben", "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" und "Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf" war nachgedachtes, nachgeschriebenes Leben, also etwas Neues, Konstruiertes. Um romanhaft zu erzählen, traute er der Suggestivkraft der Sprache mehr zu als einer bloß auf faktische Richtigkeit ausgerichteten Dokumentation. Dabei war nichts einfach nur erfunden von dieser Geschichte, die von den Kriegserlebnissen des Vaters im 1. Weltkrieg ihren Ausgang nahm, die die Verstrickungen des Hitlerjungen und Zöglings einer nationalsozialistischen Eliteschule untersuchte und schließlich, im dritten Teil, von der geistigen Emanzipation in den fünfziger Jahren berichtete. Doch Dichtung und Wahrheit liegen besonders eng beisammen, wenn es um das eigene Leben geht. Das gilt auch für den soeben erschienenen Erzählungsband "Und wenn sie nicht gestorben sind", der Texte zusammenfaßt, die zumeist schon andernorts erschienen sind. Er ergänzt die Romantrilogie, nimmt die alten Geschichten noch einmal auf und schreibt sie weiter, wo es notwendig ist. Harig erklärt das so:

    Zu Beginn der achtziger Jahre, nach Aufenthalten in Paris, Berlin und Texas, fing ich an, mein Leben zu erzählen. Es begann eine Erkundungsfahrt im rechten, im glücklichen Moment, eine Erkundungsfahrt mit offenen, inneren Augen. So ist mein Wörterspiel zum Lebensspiel geworden. Ich schreibe nicht nur der Schreiblust wegen, jetzt schreibe ich, weil mein Leben davon abhängt. Ich sage: "Ich!" Ich erzähle. (...) Hannah Arendt, die so viel über Auschwitz geschrieben hat, bekannte: "Das übersteigt das Verständnis. Ich verstehe es nicht, daß Auschwitz sein konnte." Nein, man kann es nicht verstehen, nicht erklären. Man soll es verschweigen, oder man muß es erzählen! Also begann ich, Geschichten meines Jahrhunderts zu erzählen, Geschichten, die sich aus der Kindheit heraus bis heute fortsetzen und nicht aufhören, so daß ich weitererzählen muß, solange ich am Leben bin. Es sind Geschichten von Menschen, die ich erzähle, damit sie in der Erinnerung fortleben. Ich habe mich einen Märchenerzähler genannt. Obwohl es in allen meinen Geschichten um wahre Begebenheiten geht, schwingt im Erzählen das Ungewisse erfundener Möglichkeiten mit.

    Das "Ungewisse erfundener Möglichkeiten": Darum geht es in diesen Lebensberichten. Sie zielen immer auch auf das, was nicht geschah. Auf das Verpasste. Das Versäumte. Auf andere, entgegengesetzte Lebensentwürfe. Denn was wäre das eigene Leben ohne den Möglichkeitsraum der Freiheit, daß alles auch ganz anders sein könnte? Ausflüge ins Ungewisse sind schon deshalb unerläßlich, weil Harigs Erzählen weit vor der eigenen Geburt einsetzt. Sein Ausgangspunkt war das Schweigen des Vaters, das er mit der eigenen Vorstellungskraft zu füllen entschlossen war, um sich dessen Erlebnisse in den Schützengräben des 1. Weltkriegs zu erschließen. Er wollte die Bedingungen der eigenen Herkunft verstehen, denn das eigene Leben ist ja nicht bloß durch die Ereignisse zwischen Leben und Tod bestimmt. So sind Harigs Erinnerungen mehr als Biographie: Sie sind eine Besichtigung des deutschen 20. Jahrhunderts und reflektieren stets die Frage nach Mittäterschaft, Schuld und Verantwortung.

    Immer wieder reiste Harig in den vergangenen Jahrzehnten an den Anfang zurück, nach Verdun und in die Ornes-Schlucht, um sich im Schlamm der Geschichte auf Spurensuche zu begeben. Einmal reiste er auch mit dem alten Vater dorthin, nur zwei Jahre vor dessen Tod, um vielleicht vor Ort sein Schweigen zu überwinden. Das gelang ihm nicht. Doch er erfuhr, wie tief das lebenslängliche Kriegstrauma des Vaters saß. In dem Vaterroman "Ordnung ist das ganze Leben" findet sich eine Szene, die in einem Augenblick alles Verdrängte erfaßt:

    Er zog ein Foto aus der Kartentasche, ‚Im Chaume-Wald. Blick feindwärts aus der Zwischenstellung', er hatte es am 10. Juni 1917 geknipst, es ist ein Schreckensbild, eine grausige Illustration. Ich hielt es in der Hand, Vater schaute darauf, länger als er sonst Fotografien betrachtete, eine Gänsehaut überzog seinen Unterarm, er rührte sich nicht, biß die Zähne aufeinander, wenn er gestochen worden wäre, es wäre kein Tropfen Blut geflossen.

    Den Spurensucher trifft es oft härter als den, der die Spuren gelegt hat, schreibt Harig. Vielleicht deshalb, weil er dem Geschehenen einen Sinn verleihen möchte? Weil er mit aller Macht etwas ins Bewußtsein zurückholen will? Weil er im Unterschied zu den historischen Akteuren nicht mehr ahnungslos sein darf? Harig ist Zuschauer und Mittäter. Je länger er sich mit seinem Vater beschäftigte, umso deutlicher wurde ihm, daß es auch und vor allem um ihn selbst gehen müßte. Als Autobiograph aber ist er Spurenleger und Spurensucher zugleich. Er hat es also noch schwerer.

    Der Titel des neuen Prosabandes - "Und wenn sie nicht gestorben sind" - signalisiert, daß es sich durchaus auch um ein Märchenbuch handeln könnte. Kein Wunder bei einem Autor, der immer wieder auf die Märchen der Brüder Grimm und Hans Christian Andersens zurückgreift, die ihn seit früher Kindheit begleiten. In den Märchen fand er eine Sprachkraft, die sich der profanen Welt entgegensetzen ließe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute: Die Geschichten enden nicht und müssen weitererzählt werden. "Das hält auch der Tod nicht auf", heißt es im Nachruf auf den Freund und Übersetzer Eugen Helmlé, der den Band beschließt. Albert Einsteins Erkenntnis "Zeit und Raum verschwinden mit den Dingen" verwandelt sich für Harig in einen Satz aus einem Märchen. Er begründet eine Art Relativitätstheorie des Erzählens. Zeit und Raum sind überwindbar, doch erst im sinnlich faßbaren Konkreten entsteht die Tiefendimension der Erinnerung. So ist Harigs Ton oft märchenhaft und führt in eine Welt, in der es noch dunkle Tannenschatten und Höllenschlünde gibt. Joseph von Eichendorff ist ihm näher als die Naturschützer der Gegenwart, die das Waldsterben mit Statistiken bekämpfen, aber das Spazierengehen und das schwelgerische Betrachten von Himmel und Land verlernt haben.

    Einmal im Altweibersommer, es ist nicht lange her, hat uns ein sonderbarer Lärm aus dem Wald überrascht. Es war schon später Nachmittag, wir kamen den hochgelegenen Römerweg daher, näherten uns dem Dorf, dessen letzte Häuser im Tannenschatten versunken waren. Da tauchte urplötzlich ein mächtiger Palast aus dem Talgrund auf, die Wände aus blankem Kristall, durchdrungen vom Licht der Sonne, die hinter dem durchsichtigen Gebäude goldrot am Himmel stand. Aus dem Wald drang Hundegebell, das wie das Gekreisch von streitenden Krähen klang, oder war es das Krähengekrächz von zankenden Hunden? Wir blieben stehen und lauschten, aber wir konnten nicht unterscheiden, ob Krähen oder Hunde lärmten. Nun warf die Sonne einen letzten Strahl durch den Waldpalast - und im selben Moment schrumpfte dieser vor unseren Augen zusammen, bis er nur noch das Treibhaus der Gärtnerei war, das dort auf der Höhe liegt.

    Trotz des Goethes "Dichtung und Wahrheit" zitierenden Untertitels "Aus meinem Leben" ergibt sich keine lineare, souveräne Lebensgeschichte. Die Oberhoheit über die eigene Biografie, die Goethe noch zu besitzen glaubte, läßt sich im 20. Jahrhundert nicht mehr aufrecht erhalten. Harig liefert eine deutsche Geschichtsbetrachtung aus saarländischer Perspektive. Also ganz vom Rand aus. Die berühmtesten Landsleute dürfen dabei selbstverständlich nicht fehlen, der Oskar und der Erich, zwei, über die die Geschichte hinweggegangen ist. Über den einen, weil er sich ins Private zurückgezogen hat, über den anderen, weil er nicht loslassen wollte und sich festklammerte an der Macht.

    Mit Lafontaine ist Ludwig Harig, selbst SPD-Mitglied, seit vielen Jahren befreundet. Wenn er mit ihm im Saarbrücker Stadtwäldchen spazieren geht, dann weiß er zu berichten, daß Bürger stehen bleiben und ihren Hund ermahnen, dem "Herrn Lafontaine nit die Bux dreckig zu machen." So freundlich geht es zu im Saarland, und ein bißchen etwas von dieser Atmosphäre stellte sich auch ein, als Ludwig Harig 1992 Erich Honecker in der Haftanstalt Berlin-Moabit besuchte.

    Das Porträt Honeckers als sentimentaler Großpapa ist ein Glanzstück der Reportagekunst, das in jedes deutsche Lesebuch gehört. Die Begegnung mit dem Chef des untergegangenen Staates gipfelt in einem rührseligen Moment der Heimatliebe. In dialektaler Wärme gesteht Honecker, daß er nur noch den Wunsch habe, einmal noch nach Hause zu kommen. "Nix wie hemm!" sagt er augenzwinkernd und zitiert damit die Parole, mit der die Saarländer 1935 für den Anschluß ans 3. Reich stimmten. Die Dialektik der Geschichte hebt sich auf im heimatlichen Dialekt. Der Anblick Honeckers als alter Mann mit Strohhut auf einem friedlichen Bänkchen in Wiebelskirchen blieb der Welt zwar erspart. Harig hat jedoch dessen Schwester Gertrud besucht und ihre Worte notiert: "Jaja, unser Erich, er hat's ja gudd gewollt, awwer wie's kumm is." Die Frage verebbt so ratlos wie der Sozialismus.

    Die DDR erscheint mit dieser Honeckerfigur als saarländische Gemüts-Verirrung. Der Landstrich jenseits der Elbe ist ein ungastlicher Ort, an dem sich ein Saarländer nicht wohl fühlen kann. Harig verstieg sich einmal sogar zu der gewagten These, Honecker habe die Mauer nur deshalb gebaut, weil ihn sonst die Saarlandsehnsucht weggetrieben hätte. Das stimmt natürlich nicht ganz - schon deshalb nicht, weil Ulbricht die Mauer bauen ließ und dafür vermutlich andere Gründe hatte als Honeckers Heimweh. Aber es steckt in dieser Dichtung doch auch ein Körnchen Wahrheit - und wenn es nur die Erkenntnis ist, daß der Saarländer nicht dafür geschaffen ist, in weniger freundliche Länder aufzubrechen. Es kommt nichts Gutes dabei heraus.

    In Harigs Region sind Welt und Gemüt gleichermaßen sonnig; Genußfähigkeit ist das Zentralorgan der Lebenskunst. Guter Wein, gutes Essen, Treue und Geselligkeit sind die Eckpfeiler der Existenz. Von hier aus richtet sich der Blick zwangsläufig nach Westen, nach Frankreich. 1949 kam Harig als Austauschlehrer nach Lyon und führte mit den französischen Kollegen lange Debatten über Deutschland und die Deutschen. Er mußte sich nun etwa mit der These auseinandersetzen, daß Kants Philosophie und die Konzentrationslager von der selben deutschen Ordnungssucht hervorgebracht worden seien. In Frankreich war Harig, der ehemalige Napola-Schüler, ein früher Vertreter neuer Freundschaft zwischen den Völkern. Hier erlernte er die Grundlagen der Aufklärung und Demokratie. Er entdeckte die moderne Literatur, Sartre etwa, erkundete den Süden und schmeckte die Freiheit.

    Viele Jahre später war es der nach Frankreich emigrierte und dort heimisch gewordene Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt, dessen Leben ihm wie eine Kehrseite der eigenen Biographie erschien. Harig kontrastiert die Erinnerungen an die eigene Schulzeit, die in einem Referat über die "Rassenkunde des jüdischen Volkes" einen unrühmlichen Tiefpunkt fand, mit dem Überlebensbericht Goldschmidts. Der entging in einem französischen Kloster-Internat nur knapp der Deportation, verinnerlichte aber seinen Status als Verfolgter in Schuldgefühlen und sexuellen Obsessionen. Seine Erzählung "Die Absonderung" berichtet davon. Auch über ihn gibt es in Harigs Prosasammlung ein Portrait, aufgebaut wie ein Spiegelbild:

    Was für ein Abgrund zwischen Georges-Arthur Goldschmidt und meiner Welt! Zwei Gleichaltrige, die sich nicht kannten - er war fünfzehn, ich sechzehn Jahre alt -, begegneten sich im unwirklichen Raum der Täuschungen: Während er, von bigotten Nonnen geschunden, in den Irrglauben verfiel, seine von ihm selbst erweckte sexuelle Befriedigung für das Merkmal des Judeseins zu halten, sich dafür schuldig fühlte und immer wieder, wie im Fieber, vom Wegschaffen, vom Abschaffen faselte, gehörte ich, von falschen Propheten einer menschenverachtenden Ideologie verführt, zu denen, die Georges-Arthur Goldschmidt weggeschafft, abgeschafft hätten, wären wir seiner habhaft geworden. Oder klang in uns, mitten in dieser Zeit des Tötens, ein sanfter Hall des fünften Gebotes nach, glomm ein Fünkchen Gewissen auf, als wir eines Tages ein Judenbübchen in den Trümmern des Frankfurter Römers unbehelligt stehen ließen. Er trug ein weißes Blüschen und ein weißes Höschen wie Georges-Arthur Goldschmidt auf dem alten Foto: Es hätte Georges-Arthur sein können. Doch er, von Trieben gequält, von Ruten dafür gezüchtigt, blieb durch seine Peiniger vor den Deutschen geschützt. Mir blieb das Töten erspart, er ist dem Tod entronnen.

    Erst indem Harig die engen Grenzen des persönlichen Erlebens überschreitet, weitet sich sein Erzählen zur Autobiographie. Eine andere Gegenfigur aus dem Möglichkeitsraum, den er selbst nicht betreten hat, ist der Saarbrücker Widerstandskämpfer Willi Graf, der 1943 als Mitglied der "Weißen Rose" hingerichtet wurde. Alles, was Harig wünschen kann, wäre, ihm wenigstens einmal begegnet zu sein beim Spazierengehen im Stadtwald. Aber selbst dazu ist es wohl nicht gekommen. Und wenn, dann hätte Graf einen großen Bogen um den Hitlerjungen in seiner Uniform gemacht.

    Manche Geschichten aus den Romanen erzählt Harig weiter, weil sie auch in der Wirklichkeit weitergegangen sind. Als er einmal aus "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" das Kapitel über Willi Graf und seine Saarbrücker Freunde Hein Jacobs und Marita Herfeldt las, stand eine Frau in der ersten Reihe auf und sagte: "Das bin ich". Harig traf sich daraufhin mit ihr und ließ sich ihre Version der Geschichte erzählen, die er nun nachträgt. So schreibt das Leben den Roman weiter, der das Leben nachgeschrieben hat. Eine andere Figur aus dem Roman, die sich zu Wort und zum Leben meldete, war der kleine René aus der Grundschule, der damals von allen, auch von Ludwig Harig gequält und gehänselt wurde. Auch er meldete sich nun beim Schriftsteller. René erzählte ihm, daß er im Alter von sieben Jahren von seiner Mutter getrennt und in ein Heim eingeliefert wurde, während sie für geisteskrank erklärt und 1944 zu Tode gespritzt wurde. Harig begibt sich mit ihm auf die Suche nach dem Grab der Mutter, als wolle er damit ein Versäumnis seiner Kindheit wieder gutmachen. Er besucht René in seiner kleinen Wohnung, und läßt sich von dem alten Mann seine elektrische Modelleisenbahn vorführen:

    Er führt mich von der Wohnstube in eine Kammer, wo er unter der Dachschräge seine elektrische Eisenbahn installiert hat. Vor meinen Augen fahren Züge, kreuzen ihre Bahnen, rattern auf den Geraden, passieren Weichen und Signale und rauschen aneinander vorbei, wie René es vorausbestimmt hat. Sie fahren alle im Kreis, jeder seine wohlkalkulierte Bahn. Sie fahren nicht ins Blaue an sommerliche Badestrände oder zum winterlichen Après-Ski, stürzen aber auch nicht in unvorhersehbare Katastrophen.

    René hat sich auf mittlerer Hanglage eingerichtet, in einer Modellwelt, in der die Züge nicht mit Güterwaggons zu Verladerampen fahren, sondern beruhigend um friedliche Dörflein kreisen. Es gibt ein Recht, zu vergessen, sagt Harig, ein Recht allerdings, das nur die Opfer für sich beanspruchen dürfen und nicht er selbst, der auf der Seite der Täter stand. Doch auch damit ist die Geschichte Renés noch nicht zu Ende. Im folgenden Kapitel erleben wir ihn als Bewohner eines Altenheims. Die Modelleisenbahn kann er hier nicht mehr fahren lassen. Aber er sieht sich im Fernsehen jede Folge der Serie "Eisenbahn-Romantik" an und kennt die Steigungen der abgelegensten Bahntrassen dieser Welt.

    In solchen Momentaufnahmen gelingt es Ludwig Harig, Geschichte sichtbar zu machen, indem er zeigt, welche Spuren sie in den Menschen hinterläßt. Selten nur greift er kommentierend ein. Er erzählt, ohne zu erklären. Sein Abscheu vor hochtrabenden Begriffen hat ihm den Ruf eingebracht, ein naiver Erzähler zu sein. Aber das Einfache ist nicht immer simpel. Bei Harig ist es Resultat eines langen Schreibprozesses, der von experimenteller Prosa der Bense-Schule in den fünfziger Jahren über formstrenge Lyrik, Essays und Reportagen erst allmählich zum Erzählen und Weitererzählen von Geschichten aus dem eigenen Leben führte. Das ist nicht immer die große Geschichte, sondern oft auch nur der kleine gelungene Augenblick, Momente wie diese:

    Im Saartal unterhalb des Dörfchens Niederstinzel schlugen wir einmal im Sommer unser Mittagslager auf. Stundenlang saßen wir auf unseren Klappstühlen um den Campingtisch herum, aßen frisches französisches Weißbrot und tranken algerischen Rotwein dazu, bevor wir den Rauch unserer Zigaretten genossen. Das klare Wasser spülte über Sumpfdotterblume und Entengrütze, wir streckten die Beine unter den Tisch und kosteten die Augenblicke reiner Natur wie ein spätes Weltgeschenk aus.

    Harigs Vorbild ist der Hans im Glück, der zuerst einen Klumpen Gold besitzt, am Ende aber nur noch zwei Feldsteine. Als er stolpert und die Brocken in den Brunnen fallen, springt er jubelnd davon: endlich frei von aller Last. Harig lehrt, daß man nicht unbedingt unglücklich sein muß, um produktiv zu werden. Um das Leben schätzen und verteidigen zu können, muß man es zuallererst zu genießen verstehen. Man muß sich Ludwig Harig unbedingt als einen glücklichen Menschen vorstellen.