Donnerstag, 18. April 2024

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Underground-Ikone Genesis P-Orridge
"Der erste postmoderne Popstar"

Industrial Music, Transgender und Avantgarde – der Performancekünstler, Musiker und Schriftsteller Genesis P-Orridge starb am Samstag. She/he- war das Pronomen für P-Orridge, also er und sie in einem. Es ging darum, einen "Zustand der Pandrogynität" zu erreichen, sagte Jens Balzer im Dlf.

Jens Balzer im Gespräch mit Sigrid Fischer | 16.03.2020
Nahaufnahme Gesicht Genesis P. Orridge
Am Samstag gestorben - Genesis P. Orridge (imago stock&people)
Gender- und Gesellschaftsregeln außer Kraft setzen, Grenzen und Extreme austesten, davon war das Leben von P-Orridge bestimmt. Um die 200 Alben hat P-Orridge produziert, unter anderem mit den Bands Throbbing Gristle und Psychic TV. Kritiker Jens Balzer ist Genesis P-Orridge mehrfach begegnet und erzählte im Dlf, dass Throbbing Gristle zweifellos zu den prägenden Bands der 70er-Jahre gehörte. Sie habe sich nicht für Songs interessiert, sondern für Sounds, die den Hörer unmittelbar überwältigen sollten.
Welche Frequenzen schmerzen in welcher Weise? Kann man Musik so einsetzen wie psychedelische und sonstige Drogen? Um diese Fragen zu beantworten, benutzten Throbbing Gristle Synthesizer, Bandmaschinen und selbst gebaute elektrische Instrumente, so Balzer. Sie waren wahrscheinlich die erste Band, die systematisch mit Sampling arbeitete, also einer Technik die heute ja völlig selbstverständlich geworden ist. Das Ganze, sagte der Musikkritiker, kombinierten sie mit provokativem Auftreten, sie kleideten sich in paramilitärische Uniformen und schmückten ihre Cover mit pornografischen Bildern.
Auf der Suche nach dem wahren Selbst des Menschen
Punk kam später, im Grunde war Genesis P-Orridge ein Vorläufer davon, tatsächlich habe er seine Karriere als Hippie begonnen, betonte Jens Balzer, in einer Kommune in London, der Exploding Galaxy Kommune. Die könne man sich vielleicht so ähnlich wie die Berliner Kommune I vorstellen, bloß dass die Kommunarden sich dort einer noch weit konsequenteren Dekonditionierung des Daseins verschrieben hatten. Sie wollten nicht weniger erreichen als die Auflösung aller Institutionen und Riten, an denen die Menschen sich sonst orientieren, keine feste Identitäten, feste Wohnplätze, regelmäßige Schlafzeiten und jede Art von Privatsphäre. Da liegt gewissermaßen die Wurzel des künstlerischen Schaffens von Genesis P-Orridge. Dieser Wunsch nach Dekonditionierung - auf der Suche nach dem wahren Selbst des Menschen - unterscheide ihn vom Punk, so Balzer.
Provokations-Ästhetik
1981 gründete Genesis P-Orridge die Gruppe Psychic TV. Er selbst habe ja immer behauptet, dass es ihm gar nicht um Provokation ginge, sondern um die Erkundung des Selbst, des Körpers und seiner Grenzen - und um die kulturelle Grenzüberschreitung, um den Bruch mit den Konventionen und Riten. Er siedelte nach New York über und begann dort damit, sein Geschlecht zu verändern, spiegelbildlich zu seiner Lebensgefährtin Jacqueline Breyer.
Beide ließen sich Implantate in Wangen, Kinne und Brüste operieren, um jeweils ihre weibliche und männliche Identität zu überwinden und zu einer sexuellen Einheit zu werden, um den Zustand der Pandrogynität zu erreichen, als das ultimative Mittel zur Überwindung des Patriarchats und damit aller überkommenen kulturellen Strukturen, Traditionen und Repressionen.
Das Ganze nahm ein frühes, tragisches Ende, erzählte der Musikkritiker, weil die Partnerin Lady Jaye 2007 mit gerade einmal 38 Jahren starb. Danach habe P-Orridge versucht unter anderem durch das Erlernen von Voodoo mit der Seele der Verstorbenen eins zu werden.
Was bleibt von ihrer Kunst?
"Es bleibt ein Leben, eine künstlerische Existenz", so Balzer. In gewisser Weise sei Genesis P-Orridge der erste wirklich postmoderne Popstar gewesen, der seine Identität unablässig verändert hat, beziehungsweise der gezeigt hat, dass Identität etwas ist, das sich unablässig verändert und dass die Grenzen, die dieser Veränderung gesetzt werden, immer kulturelle Grenzen sind, also künstliche Grenzen, die sich aufheben oder verschieben lassen.