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Unersättlich
Manuskript: Essen als Sucht

Mehr als jeder zweite Deutsche wiegt zu viel. Fettleibigkeit ist schon lange ein Problem. Wissenschaftler diskutieren dabei immer mehr, ob zu viel Nahrungsaufnahme auch eine Sucht ist.

Von Thekla Jahn | 08.12.2013
    "Früher war dieser Effekt für mich: bestimmte Sachen gerochen, gesehen - hamm!"
    Abhängigkeitssyndrom, umgangssprachlich auch Sucht.
    "Das war für mich auch irgendwie wie ein Kleinkindverhalten. Ham, ham, ham."
    Charakteristisch ist ein starkes, oft unüberwindbares Verlangen:
    "Wenn es in die Küche ging, immer mal schnell der Griff zum Kühlschrank."
    Es kommt dabei zu einer Toleranzerhöhung und manchmal zu einem körperlichen Entzugssyndrom.
    "Und dann, was drinnen war, genommen, ob es ein Joghurt war oder ein Riegel, also das war immer dieses Nebenbeiessen."
    Weltweit ist mehr als eine halbe Milliarde Menschen adipös – zu deutsch: fettleibig. Und es werden immer mehr. Für das Jahr 2050 rechnet man mit über zwei Milliarden extrem dicken Menschen. In den vergangenen 30 Jahren ist etwas passiert. Es scheint, als wären mehrere Hundert Millionen Menschen beinahe gleichzeitig abhängig geworden – abhängig vom Essen.
    "Hat unser tägliches und überall verfügbares Essen suchtauslösende Eigenschaften und aktiviert es einen abhängig machenden biologischen Prozess im Gehirn? Das ist der Punkt, um den es geht. Er betrifft nicht nur einige wenige, sondern Millionen."
    Die Unersättlichen – Essen als Sucht. Eine Sendung von Thekla Jahn.
    "Das ist so ungefähr drei Jahre her, 2010, da war ich bei 200 Kilo etwa. Also kurz vor meinem Höchstkampfgewicht von 206 Kilogramm bei einer Größe von 1,87. Das ist schon, doch schon eine ganze Menge, was da doch mitgeschleppt wurde."
    Heiko Brand - Anfang 40 – sitzt auf der Couch in seiner Leipziger Wohnung und blättert durch ein Fotoalbum.
    "Also zwischen diesem Bild und dem, was ich heute regelmäßig im Spiegel sehe, ist doch ein himmelweiter Unterschied. Das ist ein Abstand – vom Körperlichen schon – auf alle Fälle um einiges. Jetzt sind es so etwa 128,7."
    Er hat abgespeckt: rund 78 Kilo in 3 Jahren. Das schaffen die wenigsten. Jahrelang stieg die Zahl der Übergewichtigen. Seit einiger Zeit stagniert sie in Deutschland und zum Teil auch in anderen Industrienationen. Das allerdings auf einem längst schon hohen Niveau: Mehr als jeder zweite Deutsche bringt zu viele Kilos auf die Waage. Das Alarmierende dabei ist: Diejenigen, die dick sind, werden immer dicker.
    "Es gibt immer mehr Forschungsergebnisse, die zeigen, dass einige Nahrungsmittel auf das Gehirn wirken wie klassische Suchtmittel. Und sie rufen ähnliche Symptome hervor: unbändiges Verlangen etwa, Entzugserscheinungen und erhöhte Toleranz."
    Bislang werden Adipöse nicht als suchtkrank eingestuft, weder in dem aktuellen Diagnoseschlüssel für psychiatrische Krankheiten, im ICD-10, der von der Weltgesundheitsbehörde WHO herausgegeben wird, noch im jüngsten Klassifikationshandbuch DSM5 der Amerikanischen Psychiatriegesellschaft. Doch Adipositas-Experten wie Dr. Kelly Brownell von der Sanford School of Public Policy meinen, die Zeit sei reif: Wer der Fettleibigkeit Herr werden wolle, müsse umdenken.
    Schon 1936 identifizierten zwei Wiener Psychiater eine Form von Abhängigkeit, die sie "Saccharomanie" nannten: Zuckersucht. Raucher und Trinker hätten in der Entwöhnungsphase ein außerordentlich starkes Süßigkeitsbedürfnis, Zucker sei für sie eine Art Ersatzdroge. Bei vielen Süchten ist es eine Substanz, die abhängig macht: Kokain, Heroin, Alkohol. Warum nicht der Zucker?
    37 Kilo Zucker pro Jahr
    Jeder Deutsche konsumiert durchschnittlich 37 Kilogramm Zucker im Jahr, viele Kinder hierzulande essen mehr Süßes, als sie selber wiegen: rund 51 Kilogramm. Zucker ist aber nicht nur in Süßigkeiten und Kuchen, sondern auch in Schinken, Wurst, Pizza oder Tomatenketchup und manche Obstsorten wie Ananas werden supersüß gezüchtet.
    "Zucker führt zu einem abhängig machenden biologischen Prozess."
    Zucker gelangt schnell ins Blut und versorgt den Körper mit Energie und das Gehirn mit dem sogenannten Glückshormon Serotonin. Da der Zuckerspiegel im Blut aber immer wieder schnell sinkt, melden Botenstoffe dem Gehirn Unterzuckerung und im Hypothalamus entsteht ein Hungergefühl. Zucker macht also Appetit auf mehr – mehr Essen, mehr Glück.
    "In dem Moment, wo ich das Gefühl hatte: Jetzt ist die Belohnung da, jetzt ist das Glücksgefühl, dann konnte man aufhören, aber es wurde immer schlimmer. Der Körper gewöhnt sich an die Sachen und hat dann einen Pegel, und wenn der nächste Frust kommt, muss ich ja diesen Pegel überschreiten, das ist ja ähnlich wie bei Alkoholikern oder so."
    "Zucker per sé ist nicht zu verteufeln, er ist ein essenzieller Bestandteil unserer Nahrung, aber im Übermaß - und ich denke, dieses Übermaß ist fast zur Normalität geworden -, ist es sicherlich ein suchtproduzierendes Nahrungsmittel."
    Sagt Arno Villringer vom Max Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Mit bildgebenden Verfahren wie dem Magnetresonanztomografen hat er sich in den vergangenen zwei Jahren die Gehirne von adipösen Menschen genauer angeschaut. Darin konnten er und seine Kollegen deutliche Veränderungen feststellen, vor allem im Belohnungssystem.
    Das Belohnungssystem funktioniert mit Dopamin, einem Botenstoff. Es kann an speziellen Andockstutzen, sogenannten Rezeptoren, festmachen und seine Botschaft übermitteln: Zufriedenheit und Glück. Bei adipösen Menschen wird das zunehmend schwerer:
    "Genauer gesagt, ist die Anzahl der Rezeptoren für Dopamin bei diesen Menschen reduziert, was dazu führt, dass man mehr – in dem Fall Essen - braucht, um dieselbe innere Belohnung zu erhalten. Das führt dazu, dass man immer mehr von dem, was immer es ist - Heroin, Alkohol, Essen - zu sich nimmt und das ist der Prozess, der zur Adipositas beiträgt."
    Neben Zucker scheinen auch Salz und Fett zu den suchtproduzierenden Bestandteilen unserer Nahrung zu gehören. Sie sind für den Geschmack zuständig, aber noch nicht so gut untersucht wie Zucker.
    Die meisten kennen das Phänomen: Sobald man auch nur eine Handvoll Chips gegessen hat, will man mehr – am besten die ganze Tüte. Das liegt daran, dass solches Knabbergebäck eine körpereigene, cannabisähnliche Droge im Darm freisetzt und das Sättigungsgefühl unterdrückt. Forscher aus Erlangen-Nürnberg haben bei Experimenten mit Ratten überprüft, ob diese Wirkung allein durch den hohen Gehalt an Salz, Fett und Kohlehydraten zu erklären ist. Scheinbar Nein. Im Fachmagazin "PLOS One" vermuten sie daher noch andere unbekannte, möglicherweise künstlich hergestellte Suchtauslöser in Snacks. Ein Verdacht, den Kelly Brownell schon seit Jahren hegt:
    "Die Metapher, die Drogensüchtige verwenden ist: Drogen fahren per Anhalter ins Gehirn. Und das macht Essen genauso, und zwar dadurch, wie es gestaltet wird."
    Es ist gar nicht so einfach, die Substanzen herauszufiltern, die süchtig machen. Gut möglich, dass die nicht kommerzielle Forschung immer einen Schritt hinter den jüngsten Kreationen der Nahrungsmittelhersteller herjagt – vergleichbar der Suche nach den neuesten, noch nicht nachweisbaren Dopingmitteln, von denen jeder ahnt, dass es sie gibt - und eine mächtige Lobby dahinter.
    "Das war das Schönste immer zur Weihnachtszeit, sobald im Handel die ersten Sachen reinkamen, Marzipan gefüllt mit Nugat drin, Baumstämme, jedes Mal wenn man einkaufen war. Und das gab es dort: mitnehmen."
    "Sehr wohl weiß man, dass Nahrungsmittel insgesamt sich auf das Belohnungssystem auswirken. Das allein reicht aber nicht aus, um diese Substanzen, die in den Nahrungsmitteln sind, als Suchtsubstanzen zu bezeichnen. Ich denke, es kann nur um eine Verhaltenssucht gehen."
    Meint Johannes Hebebrand von der Universität Duisburg-Essen. Er hat sich mit der neuen Ausgabe des amerikanischen Handbuchs für psychiatrische Diagnosen befasst, das im Mai erschienen ist – dem DSM5. Lange waren in dem Handbuch nur klar umrissene Substanzsüchte zu finden: Heroin, Nikotin oder Alkohol etwa. Jetzt haben die Wissenschaftler eine neue Kategorie eingeführt: Verhaltenssucht.
    Als erste Verhaltenssucht wurde das Glücksspiel aufgenommen, da es Menschen abhängig macht.
    Essstörung als eine Form der Sucht?
    Bei ungewöhnlichem Essenverhalten aber tut man sich nach wie vor schwer mit der Kategorisierung. Neben Magersucht und Bulimie ist im neuen DSM5 zwar die Binge-Eating-Störung hinzugekommen – doch alle drei gelten nicht als Sucht, sondern nur als eigenständige Essstörung. Bei der Binge-Eating-Störung kommt es zu unkontrollierten Essattacken. Die Betroffenen versuchen sich damit zu beruhigen; negative Gefühle wie Angst und Traurigkeit wegzuessen. Anschließend haben sie Schuldgefühle, aber können der nächsten Essattacke nicht entgehen.
    Nicht alle Menschen mit Adipositas haben eine Binge-Eating-Störung, aber die meisten Menschen mit einer Binge-Eating-Störung sind adipös. Die Binge-Eating-Forscherin Anja Hilbert, Leiterin der Verhaltensmedizin am IFB Adipositas der Universität Leipzig, meint, dass man bei dieser Gruppe der Adipösen am ehesten von Sucht sprechen kann.
    "Es gibt einige Aspekte, die dafür sprechen, BES als solche zu behandeln, aber auch andere, die dagegen sprechen. Dafür spricht ein erhöhtes Craving, ein subjektives Gefühl, dass man unbedingt essen muss, das ist bei Alkohol ja auch der Fall. Dagegen spricht, dass man keine Entzugssymptome hat, also kein Zittern, kein Tremor, wenn man keinen Essanfall hat."
    Ähnlich scheint es sich bei einer anderen Gruppe zu verhalten: den Nighteatern. Nighteater futtern einen großen Teil ihrer Nahrung des Nachts in sich hinein – getrieben von einem inneren Zwang. Auch diese Menschen sind zwar oft, aber nicht zwangsläufig adipös.
    "Mit ein bisschen mehr Gewicht haben fast alle in der Familie zu kämpfen. Es ist weder Krankheit, also Schilddrüse oder was man sonst haben kann. Also das ist wirklich über die Zeit antrainiert – immer mehr, immer mehr. Bei mir war es der Vater, sehr gut gekocht, auch reichlich, ach, den Teller kannst du noch nehmen und: Mensch Junge, du musst groß werden."
    Im Detail sind die komplexen Steuermechanismen, die hinter unterschiedlichem Essverhalten stecken, noch nicht erforscht. Aber bei allen Adipösen, die untersucht wurden, haben Forscher wie Annette Horstmann nun deutliche Veränderungen festgestellt, die weitere Indizien in Richtung Sucht liefern. So war im Belohnungssystem neben einer verringerten Anzahl von Dopaminrezeptoren auch die graue Substanz verändert: Es gab mehr davon.
    "Da könnte man daraus schlussfolgern, dass der Belohnungswert der Ernährung erhöht ist bei den adipösen Leuten."
    Auch in dem Bereich, in dem Kontextinformationen abspeichert werden – zum Beispiel Lieblingsrestaurant, oder Duft von leckerem Essen – war die graue Hirnsubstanz vermehrt, weil überaktiv. Gleichzeitig stellten die Forscher fest: Die weiße Substanz, also die Nervenfasern des zentralen Nervensystem, war in Mitleidenschaft gezogen.
    "Wir konnten zeigen, dass die weiße Substanz sich verändert, und zwar scheinen die Verbindungen von Hirnzellen weniger effektiv zu sein mit fortschreitender Adipositas."
    Berichtet der Neurologe Arno Villringer. Vergleichbares geschieht, wenn ein Mensch altert oder an frühem Alzheimer erkrankt.
    "Und es scheint so zu sein, vereinfacht formuliert, dass Adipositas dazu führt, dass das Gehirn vorzeitig altert. Und bei Frauen scheint der Effekt von Adipositas im Gehirn stärker zu sein als bei Männern."
    Das ist ein ganz neuer Befund. Weshalb dies bislang nur bei Frauen nachgewiesen wurde und was das bedeuten könnte, ist bislang noch unklar.
    "Zusätzlich haben wir nur bei Frauen Veränderungen in zwei Systemen gefunden, die die Verhaltenskontrolle beeinflusst."
    Und zwar gegenläufig, erklärt Annette Horstmann vom MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. In dem automatischen Verhaltenskontrollsystem war die graue Substanz erhöht. Und in dem System, das für die kognitive, zielgerichtete Kontrolle des Verhaltens zuständig ist, war die graue Substanz verringert.
    "Im Prinzip wäre das ein Hinweis darauf, dass durch welche Faktoren auch immer, die Verhaltenskontrolle weggeht von der zielgerichteten wirklich bewussten, in Richtung automatische. Und das wäre natürlich, wenn man das weiter spinnt, eine Erklärung dafür, warum auch viele Adipöse berichten: Hey, ich habe mir heute Morgen noch vorgenommen, ich ess' nicht so viel und ich hab's doch wieder getan."
    Fettleibigkeit mit Auswirkungen auf die Hirnsubstanz
    Ebenfalls noch unerklärlich nur bei Frauen haben die Leipziger Forscher eine weitere Besonderheit entdeckt. Bei einem Kartenspielexperiment, bei dem sich die Teilnehmerinnen zwischen unmittelbaren kleineren Gewinnen und hohem Gewinn nach längerer Zeit entscheiden konnten, griffen adipöse Frauen direkt zu – auch wenn das auf Dauer verlustreicher war. Und bei einer Aufgabe, bei der Probandinnen das Wetter mithilfe einer komplexen Statistik vorhersagen sollten, war der Teil der Großhirnrinde bei schlanken Frauen aktiver, der für die kognitive Kontrolle und Entscheidungsfindung zuständig ist: Sie konnten die komplexen Informationen besser verarbeiten und strategisch einsetzen.
    "Fakt ist, dass all diese Veränderungen, die wir sehen, schon in den Hirnsystemen stattfinden oder zu finden sind, wo man aus Tierexperimenten sehr genau weiß, dass die in der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Sucht verändert sind."
    "Also, wenn ich mich jetzt hier so im Spiegel sehe, dann sehe ich einen ganz anderen Menschen als damals – erst mal vom körperlichen her, aber auch einen Menschen, der viel offener ist, freier, lebensfroher ist. Das war im Kopf das Übergewicht und man hat sich eher zurückgezogen, viel alleine für sich gelesen. Da ist noch nicht alles weg, aber – also man ist schon, sag' ich mal, eine Last los, im wahrsten Sinne des Wortes."
    Um dahin zu kommen, wo er heute ist, hat er sein Essverhalten völlig umgestellt. Aufhören fällt ihm heute leichter als früher.
    "Ich habe das immer wieder verschoben: Ach, es geht noch ein bisschen was, es geht noch ein bisschen was, auch, wenn der Körper schon hundertmal sagte, Schluss, Schluss, Schluss! Nee, da war der innere Schweinehund stärker."
    Vor Jahren schon entdeckten Wissenschaftler eine seltene, aber fatale Genmutation bei einer Untergruppe der Adipösen, berichtet Johannes Hebebrand von der Universität Duisburg-Essen: Ihnen mangelt es an Leptin, einem Fetthormon.
    "Hier hat man festgestellt, dass Personen, die unbändig essen müssen, die beispielsweise aus Müll sich Nahrungsmittel suchen oder betteln gehen um Nahrung, obwohl sie stark übergewichtig sind, dass hier eine Mutation diesen Phänotyp bedingt. Es handelt sich eindeutig um eine genetisch bedingte Störung, die auch rezessiv vererbt wird und die man gut behandeln kann. Das heißt, dann ist die Sucht in Anführungsstrichen schnell weg. Man verabreicht diesen Menschen das Leptin und innerhalb von wenigen Tagen hat sich das Essverhalten komplett normalisiert."
    Ausgehend von diesem Sonderfall stellt sich ganz generell die Frage, welchen Anteil die Gene daran haben, dass Menschen übermäßig dick werden?
    "Prinzipiell muss man das so formulieren: Es gibt kein Dickmachgen, das der eine hat und der andere nicht."
    Sagt Yvonne Böttcher von der Universität Leipzig und resümiert die bisherige genetische Grundlagenforschung zum Thema Adipositas kurz und knapp:
    "Wir können relativ wenig insgesamt erklären über Gene."
    Zwar gelang vor fünf Jahren ein erster Durchbruch. Wissenschaftler entdeckten, dass das sogenannte FTO-Gen mit Fettleibigkeit zusammenhängt – und seither wurden zig Varianten bekannt. Der Kölner Max Planck Forscher Jens Brüning konnte in diesem Jahr zudem eine Verbindung von FTO zum Hungerhormon Ghrelin herstellen. Ist seine Konzentration erhöht, hat der Mensch mehr Appetit. Aber das sagt noch nicht viel über Adipositas als Folge einer Suchterkrankung.
    Gene allein bescheinigen höchstens ein Risiko: in diesem Fall ein Risiko vor allem für diejenigen, die Fett gut einspeichern. Und von denen Anja Hilbert vom Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum Adipositaserkrankungen in Leipzig sagt:
    "Man spricht von der Hypothese eines sparsamen Genotyps, das heißt, wir nehmen gut auf, speichern es ein und geben aber nicht mehr gut ab. Man kann davon ausgehen, bei denen dies der Fall ist, dass diese eigentlich einen Überlebensvorteil hatten, während jene, die Fett nicht gut einspeichern oder gleich wieder loswerden, mit derselben genetischen Ausstattung es ein paar Hunderttausend Jahre vorher schwerer gehabt hätten. Dieser Selektionsvorteil hat sich aber leider in unserer Gesellschaft, wo eben billige Nahrungsmittel allseits verfügbar sind und wir uns auch nicht mehr groß körperlich anstrengen müssen, in einen Nachteil verkehrt."
    Adipöse sind zur Normalität geworden
    Adipöse gab es schon vor Hunderten von Jahren: In der Medizinliteratur werden seit dem 15. Jahrhundert extrem dicke Menschen beschrieben: ein zehnjähriges Mädchen mit 100 Kilo, eine Straßburger Seilerin, die 240 Kilo wog. Die dickste Frau der Welt bringt heute 320 Kilo auf die Waage, eingetragen im Guinnessbuch der Rekorde.
    Was früher Einzelfälle waren, ist heute vielerorts zur Normalität geworden. Dabei haben sich nicht die Gene verändert. Die Umwelt ist eine andere.
    "Man kennt das ja, irgendwo in der City mittags mal schnell die Bratwurst oder irgendwas, das ist nach fünf Minuten weg und man hat immer noch Hunger."
    Der Max-Planck-Forscher Arno Villringer zieht einen Vergleich zu Alkohol- oder Heroinsüchtigen. Ob jemand überhaupt einen Suchtstoff nimmt, hänge mit der psychischen Konstitution zusammen. Wer etwa mit Ängsten, Frustrationen und Stress nicht gut umgehen kann oder ein mangelndes Selbstwertgefühl hat, sich zurückzieht, sei gefährdet. Ebenso diejenigen, die impulsiv und risikobereit sind.
    "Ähnlich ist es höchstwahrscheinlich bei der Neigung, an Übergewicht zu erkranken. Sodass wir glauben, dass die Sucht etwas ist, was nicht primär da ist, sondern durch das vorhergehende Verhalten entsteht.
    Und wenn sie sich jetzt vorstellen, dass eine ganze Gesellschaft in einer bestimmten Art und Weise zu essen beworben wird, dann kann man sich vorstellen, dass auch ein Großteil der Gesellschaft dieses Suchtverhalten erlernt. Dieser Faktor der Interaktion mit anderen Menschen spielt eine Rolle. Der Begriff Epidemie wird eher gebraucht bei Infektionserkrankungen, aber wir wissen, dass Adipositas auch infektiöses Verhalten zeigen kann."
    Bei einem Experiment in den USA wurden adipöse Frauen aus einem sozial schwachen Umfeld mit hoher Kriminalitätsrate umgesiedelt. Und zwar in eine gehobene Gegend, in der es wenig Stressfaktoren gab, in der die Nachbarinnen schlank waren und es kaum Fastfood-Läden gab. Das Ergebnis: Die umgesiedelten Frauen verloren rapide an Gewicht.
    Lebensumstände und Umweltbedingungen spielen eine ganz wesentliche Rolle bei der Entstehung einer Sucht. Das ist bei Alkohol und Zigaretten offensichtlich. Je leichter der Zugang zu dem Suchtmittel und je höher die gesellschaftliche Akzeptanz des Suchtverhaltens, desto mehr Menschen sind abhängig.
    Zu den wichtigsten Kriterien, die eine Sucht - oder genauer Abhängigkeit - beschreiben, gehören:
    Erstens, ein extremes Verlangen – ein Craving. Dieses extreme Verlangen fühlen die meisten Adipösen.
    Zweites Kriterium: Es kommt zu einem Kontrollverlust, was die Menge angeht. Auch das beschreiben sehr viele adipöse Menschen.
    Drittes Kriterium: Wer versucht, mit der Sucht aufzuhören, bekommt körperliche Entzugserscheinung. Das wird von Experten meist vehement bestritten, auch, wenn viele adipöse Menschen berichten, dass sie unruhig werden, wenn sie nicht mehr essen dürfen, wie sie wollen.
    Viertes Kriterium: Die Toleranzschwelle steigt. Es muss immer mehr konsumiert werden, um den gleichen Effekt zu erreichen. Dies trifft nicht auf alle Menschen mit extremem Übergewicht zu, aber selten ist es auch nicht.
    Fünftes Kriterium: Die persönliche Weiterentwicklung und andere Interessen werden vernachlässigt. Viele adipöse Menschen ziehen sich zurück, kämpfen nicht mehr gegen ihre Pfunde und nehmen auch hin, wenn ihnen im beruflichen Alltag oft schlechtere Chancen geboten werden.
    Sechstes Kriterium: Trotz sichtbarer Folgen für die Gesundheit und andere Lebensbereiche wird das suchtartige Verhalten beibehalten. Das trifft auf alle stark übergewichtigen Menschen zu. Sie wissen, was Adipositas bedeutet. Dass es neben sozialer Stigmatisierung zu Bluthochdruck und Diabetes führen kann, das Risiko für Schlaganfall, Herzinfarkt und Krebserkrankungen erhöht und alle Gelenke massiv belastet.
    Gemäß den deutschen Leitlinien für Suchterkrankungen müssen nur drei dieser Kriterien erfüllt sein, um von einer Abhängigkeit zu sprechen.
    Wenn weltweit viele Millionen Menschen von Nahrungsmitteln nicht mehr lassen können - warum werden diese dann nicht behandelt wie Tabak oder Alkohol? Wenn Abhängigkeitskriterien für viele adipöse Menschen zutreffen, warum scheut man sich, sie auch als abhängig zu beschreiben? Der Einwand, die Gruppe der Adipösen sei nicht einheitlich, es gebe ganz unterschiedliche Esstypen, trifft doch auch für Raucher und Alkoholiker zu. Was nottut, fasst der Adipositas-Experte Kenny Brownell so zusammen:
    "Die Lebensmittelindustrie muss verantwortlich gemacht werden für die absichtliche Manipulation der Inhaltsstoffe in den Nahrungsmitteln, die abhängig machende Wirkungen erzeugen."
    Aber noch nicht einmal beim Zucker, der in seiner mit Drogen vergleichbaren Wirkung auf das Belohnungssystem gut untersucht ist, war die Weltgesundheitsorganisation erfolgreich, als sie vor zehn Jahren eine Konsumempfehlung abgeben wollte.
    Auch andere Vorhaben der Politik scheiterten am Widerstand der Nahrungsmittellindustrie: eine EU-weit geplante Ampel-Kennzeichnung etwa für Fett, Zucker und Salz. In Deutschland hat allein der Vorschlag, einen Veggie Day pro Woche einzuführen, die gesamte Republik erzürnt.
    Ähnlich erging es dem New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg. Er wollte Riesenportionen bei Getränken, die XXL Becher, verbieten lassen. Ein Gericht brachte das geplante Verbot im März zu Fall. Prof. Johannes Hebebrand von der Universität Duisburg-Essen zieht einen Vergleich.
    "Nehmen wir mal Zigaretten. Das erste Mal, dass Lungenkrebs überhaupt in Zusammenhang mit Rauchen diskutiert wurde, das war 1912. Und wir sind jetzt 100 Jahre später dabei, doch relativ massiv in das Leben von Personen einzuwirken, indem wir das Rauchen in öffentlichen Gebäuden verboten haben."
    Ein langer Weg, auf dem die Wissenschaft stichhaltige Ergebnisse liefern und Juristen erbitterte Kämpfen gegen die Tabakindustrie gewinnen mussten. Das könnte bei Nahrungsmitteln ebenso kommen. Bald schon, meint der amerikanische Wissenschaftler Kenny Brownell, denn die Befunde seien stark. Doch nicht jeder mag ihm folgen. Johannes Hebebrand:
    "Je restriktiver oder je mehr ich als Politiker oder als Gesellschaft darauf dränge, dass die entsprechenden Produkte nicht mehr so leicht verfügbar sind, desto mehr greife ich ja in diesen Industriezweig ein. Und wenn man sich jetzt anschauen würde, wie viele Arbeitsplätze in Deutschland in der einen oder anderen Weise Übergewicht fördern, dann wird man schnell auf sehr hohe Prozentsätze kommen, da sieht man schon, wie problematisch das eigentlich ist."
    Unser Gehirn wird ständig von Essensreizen überflutet – Wir riechen und sehen überall schmackhafte Kalorienbomben, die in Laboratorien ständig verfeinert und immer häufiger zum Mitnehmen angeboten werden. Permanentes Essen ist möglich. Dabei ist der Mensch geschafffen, wenig zu essen und viel zu laufen.
    "Wenn man jetzt vom Balkon runterguckt, dann sieht man schön den Punkt, wo ich starte jeden Tag. Angefangen habe ich mit ungefähr einer halben Stunde täglich. Je mehr die Pfunde purzelten, umso länger wurde das auch. Und heute ist es ungefähr anderthalb Stunden täglich, die ich versuche zu gehen. Und das auch zügigen Schrittes."
    Heiko Brand – 78 Kilo leichter als noch vor drei Jahren – hat gelernt, sein Essverhalten zu korrigieren. Und sich mehr zu bewegen.
    "Das Problem ist, man sollte darauf aufpassen, dass das nicht auch wieder eine Sucht wird."
    Das hilft gegen die Pfunde, aber nicht gegen das, was durch Essen ausgelöst, in seinem Gehirn gespeichert ist:
    "Das ist wie bei jedem anderen, wenn man loskommt von der Sucht – Raucher, Alkoholiker. Ich bin davon nicht los, ich werde das mein ganzes Leben mit mir rumschleppen, das Risiko. Dass es wiederkommen kann – und dann habe ich für mich solche Bilder eben auch als Erinnerung. Es ist ein Teil meines Lebens, ich kann es nicht auslöschen, es war so. Aber ich will da nicht wieder hin. Da trete ich mir persönlich in den Hintern, bildlich jetzt gesprochen.