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Unerzählt

Die Kunst des Jan Peter Tripp hat seit je eine Affinität zur Literatur gehabt, zur Dichtung und zu den Dichtern. In einer fast nicht mehr überschaubaren Reihe hat er sie uns vor Augen gestellt, die Lebenden und die Toten, Joyce, Enzensberger, Brecht, Clarice Lispector, Beckett, Burroughs, Doderer, Pessoa, Handke, immer wieder Franz Kafka, Marcel Proust und Robert Walser. Die Vorliebe des Künstlers für Physiognomien, hinter denen wir die Poesie vermuten dürfen, trifft auf ihre Entsprechung in der literarischen Prosa des vor einem Jahr verstorbenen Autors W. G. Sebald. Auch er, wie Tripp vor knapp 60 Jahren im Allgäu geboren, wie Tripp ein Ausgewanderter, wollte nicht ohne jene Vorgänger auskommen, die ihm als Literaturwissenschaftler und Leser vertraut waren, Nabokov, Stendal, immer wieder Robert Walser. Bei beiden, Tripp und Sebald, weisen die Figuren über ihre beschreib- und betrachtbare Oberfläche hinaus, beiden bedeuten die Gesichter der Literaturgeschichte den Sonderfall des menschlichen Antlitzes, der nicht nur die Betrachtung erlaubt, sondern auch das Geistergespräch des Betrachters mit dem Betrachteten, ein zartes Gemurmel unter Lesenden und Schreibenden.

Julia Schröder | 11.04.2003
    Seit Jahrzehnten haben Jan Peter Tripp und W. G. Sebald, der es vorzog, sich Max zu nennen, miteinander zu tun gehabt, seit Jahren haben sie an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet, das der Künstler nun nach dem Unfalltod des Schriftstellers posthum herausgegeben hat. Unerzählt heißt der überaus fein gemachte Bild-Text-Band. Wer das Buch irgendwo liegen sieht, könnte beim flüchtigen Blick auf den Umschlag meinen, er zeige eines der Porträts von Robert Walser, die Tripp Mitte der achtziger Jahre angefertigt hat. Das gereckte Kinn, die ragende Nase, der nicht ganz melancholische, nicht ganz skeptische Blick, der dunkle Rock mit den hellen weichen Kragenecken. Die Radierung heißt aber "Max" und zeigt nicht Walser, sondern Sebald, wie er in seinen letzten Jahren aussah. Das ist nicht nur in der Anmutung eine Reverenz vor dem verlorenen Freund; es erinnert auch an einen Essay Sebalds, in dem er einbekennt, aus Fotografien Robert Walsers mit seinem gestutzten, grau gespenkelten Schnurrbart, dem stillen Ausdruck der Augen schaue ihm immer sein eigener Großvater entgegen. Wer den grauen Leinenband aufschlägt, ist also auf ein Epitaph vorbereitet. Auf ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger zum Abschied von Max Sebald folgen 33 Radierungen von Tripp, dazu Miniaturen von Sebald, kurze Mehrzeiler wie der folgende:

    Venezianisches / Wachspräparat / des Faserverlaufs / in der Muskulatur / der Vorhöfe / des Herzens

    "Die Schule des Sehens" heißt ein Gemälde von Tripp aus dem Jahr 1992, und eine aufs Äußerste verknappte Schule des Sehens sind diese Radierungen, die nichts als Augenpaare zeigen, Augenpaare und ihren je spezifischen Ausdruck, die Blickrichtung, die Fältelung der Haut, den Schlag der Wimpern, den Glanz oder die Trübung der Pupille. Die kalte Nadel der Radierung ist wie immer bei Tripp so übergenau, wie die fotografische Vorlage nie gewesen sein kann. Wessen Augen das sind, die da herausblicken, ist am Ende aufgeführt. Es sind junge Frauen darunter, die allenfalls Sebalds enge Freunde kennen, tote Dichter wie Borges und Beckett, sein Verleger Michael Krüger, sein Hund Morris, der kurz nach dem Tod seines Herrchens starb, seine Tochter Anna, die neben ihm im Unfallauto saß und überlebte.

    Sebalds Texte haben mit dem jeweils Abgebildeten nicht unmittelbar zu tun; an wechselseitige Illustration war nicht gedacht. Aber eine Schule des Sehens sind sie auch, und ebenso hoch verdichtet:

    Aus dem Vorderschiff / des Gehirns gelangen/ die gleichsam im Fluge / geschossenen Bilder / in die cellula memorialis / die Kühlkammer / das Gedächtnis

    Die Bilder und die Textzeilen in diesem Buch sind den Augenblicken vergleichbar, in denen aus undurchdringlichem Dunkel auftaucht, was die ganze Zeit da war und doch vom Veschwinden bedroht ist, vom Vergehen der Zeit, vom Tod, von der immerzu möglichen Zerstörung. Dies ist es, was Sebalds gesamtes erzählerisches Werk durchzieht und was er wiederum auch in den Arbeiten Jan Peter Tripps ausmachte. "Die eingebüßte Zeit, der Schmerz der Erinnerung und die Figur des Todes", schrieb Sebald in einem Katalogtext über eines der altmeisterlichen Bilder von Tripp, seien hier versammelt "als Zitate aus dem eigenen Leben". Das Andenken sei "ja im Grund nichts anderes als ein Zitat". Damit beschrieb er zugleich seine eigene Schreibweise.

    Insofern ist dieses Buch tatsächlich ein Epitaph für den, der auf jeder Seite wieder gegenwärtig wird. Vielleicht ist es das ein bisschen zu sehr; in ihrem luziden Nachwort spürt Andrea Köhler noch einmal mit klugem Ernst den Verästelungen dieser Autorenexistenz nach, die nun kaum noch der Interpretation von ihrem plötzlichen, gewaltsamen und erschütternden Ende her entgehen kann. Freilich, Sebalds Bemühen um etwas, das er Tripp zuschrieb, um "die Transzendierung dessen, was nach einem unumstößlichen Satz der Fall ist", seine Arbeit am "Andenken" ist oft von saturnischer Umdüstertheit:

    Des Sieben / schläfers Schatten / ist / der Tod

    Was lebt, wird sterben. Dem Triumph des Todes aber hat Sebald nicht das Wort geredet. Was die Kunst von solchem "Leichengeschäft" unterscheide, meinte er, sei, "dass die Todesnähe des Lebens ihr Thema ist und nicht ihre Sucht". Es wäre ein Missverständnis, Sebald, der jahrelang intensiv für seine Bücher recherchierte, zum nichts als trauernden Geist zu verklären. Das Andenken, das all die gefährdeten Einzelheiten aufheben soll, hat einen Zweck, den Sebald in seiner letzten Rede kurz vor seinem Tod benannte: Es dient der Restitution, der Wiedergutmachung des Unrechts, indem es an die erinnert, denen es geschah. Das sollte nicht vergessen, wer diesen schönen Band aufschlägt.