Donnerstag, 28. März 2024

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Ungarische Gesellschaft ist stark polarisiert

Gerwald Herter: Übermorgen übernimmt Ungarn zum ersten Mal den Vorsitz der Europäischen Union. Die Vorzeichen könnten besser sein, denn, Sie haben es gerade wieder in den Nachrichten gehört, das neue ungarische Mediengesetz sorgt in vielen Ländern Europas für heftige Proteste.

Zoltan Kiselly im Gespräch mit Gerwald Herter | 30.12.2010
    O-Ton Daniel Cohn-Bendit: Im Grunde genommen hat die ungarische Regierung eine Wenn Ungarn am 1. Januar den Ratsvorsitz der Europäischen Union übernimmt, dann steht sie nach Inkrafttreten des neuen Mediengesetzes unter besonderer Beobachtung. Nach Auffassung des Politikwissenschaftlers Zoltan Kiselly zeige sich aber in der Praxis, dass man Gewaltverherrlichung oder jugendgefährdende Inhalte ahnden wolle.

    Zensurbehörde in Ungarn ins Leben gerufen und das ist schon abenteuerlich. Ungarn bewegt sich rückwärts wieder in Richtung kommunistischer Überwachungsdiktatur. Ich glaube, Orbán muss sich auf eine stürmische Parlamentsdebatte vorbereiten, das wird für ihn unangenehm.

    Herter: Der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit prophezeit dem ungarischen Regierungschef Orbán eine schwierige Debatte im Europaparlament. Ist damit schon alles dahin, steht gleichsam fest, dass der ungarische Ratsvorsitz nicht mehr erfolgreich sein kann? Darüber rede ich gleich mit dem ungarischen Politologen Zoltan Kiselly, er spricht von einem Gesellschaftsexperiment, das da gerade in Ungarn stattfindet.

    Eine strengere Überwachung der Medien durch eine neue Behörde, hohe Strafen bei Verstößen gegen das Mediengesetz: Viele in der Europäischen Union glauben, dass es ab übermorgen schwerer wird, Zensur in totalitären Regimen glaubhaft zu kritisieren, weil Ungarn den EU-Ratsvorsitz übernimmt.
    Und wir sind jetzt mit Zoltan Kiselly verbunden, er ist Politologe und unterrichtet sein Fach an einer Budapester Universität. Guten Morgen, Herr Kiselly!

    Zoltan Kiselly: Guten Morgen aus Budapest!

    Herter: Kurz vor der Übernahme des EU-Ratsvorsitzes ist wohl noch kein EU-Staat so harsch von seinen europäischen Partnern kritisiert worden. Haben Sie damit gerechnet?

    Kiselly: Nein, eher weniger, weil Ungarn hat eine sehr stabile Regierung im Gegensatz zur früheren tschechischen Präsidentschaft in 2009 oder zur derzeitigen auslaufenden belgischen Präsidentschaft, wo es seit mehr als einem halben Jahr keine Regierung gibt.

    Das heißt, wir haben nicht mit so einer Kritik gerechnet. Aber natürlich, die Kritikpunkte, die gibt es, aber heute wurde, gestern wurde in Budapest die erste Mahnung der Medienaufsicht erteilt, ein alternativer Rundfunksender in Budapest hat eine Nummer, einen Song eines amerikanischen Rappers in englischer Sprache dann ausgestrahlt, die Gewalt verherrlicht, und die Medienaufsicht hat die erste Anfrage darüber dann gestellt.

    Das heißt, eine Praxis, wenn diese Praxis so weitergeht, dann werden wird nicht wie befürchtet die politischen Meinungen, die missliebigen politischen Meinungen, die der Regierung nicht gefallen, dann hinterfragt oder dann geahndet, sondern es sind, was die Regierung immer sagte, also Gewaltverherrlichung oder jugendgefährdende Sachen. Also die angelaufene Praxis zeigt, dass hier eher weniger politische als jugendgefährdende oder gewaltverherrlichende Texte oder Musiknummern dann geahndet werden.

    Herter: Wurde in diesem Fall auch schon eine Strafe verhängt?

    Kiselly: Nein, es wurde angefragt, es ist eine englische Nummer eines amerikanischen Rappers, der dazu ermutigt, Polizisten zu erschießen. Und es ist ein englischer Text und die Medienbehörde hat diese Anfrage an die Rundfunksender gestellt, warum sie diese Nummer ausgestrahlt haben, warum sie vor der Nummer nicht davor gewarnt haben, dass das für Jugendliche dann nicht vielleicht gut ist, wenn sie solche Texte sich anhören.

    Herter: Kommen wir zurück auf die politische Ebene: Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán ist kein Neuling in der Politik, er war schon mal an der Regierung. Er hat Kritik aus dem Ausland, wie sie auch jetzt wieder aus Berlin geäußert wird, harsch abgebügelt. Nimmt Orbán aus Ihrer Sicht die ganze Aufregung bewusst in Kauf, oder hat er sich verkalkuliert?

    Kiselly: Also er nimmt ein, es passiert in Ungarn ein großes Gesellschaftsexperiment: Es ist in Mittelosteuropa, östlich der Elbe immer üblich, dass man sich verspätet fühlt, dass man im Vergleich zu Westeuropa oder heute zu China sich als nicht so gut entwickelt sieht, und deswegen ist der Staat so wichtig.

    Und die Fidesz-Regierung, jetzt wieder an der Macht, benutzt den Staat um eine Modernisierung vorzunehmen, um das, was in den letzten 60 Jahren geschehen ist – Kommunismus und dass das Land eine andere Entwicklung genommen hat als die meisten westeuropäischen Staaten –, dass sie das versuchen dann zu mildern oder umzugestalten. Und dazu ist der Staat ein Mittel, dazu ist das Mediengesetz auch ein Mittel. Deswegen nimmt er keine Änderungen vor, weil er hat ein Ziel vor Augen, er hat eine Zweidrittelmehrheit dazu, was er im Parlament auch nützt. Und diese Modernisierung, die von ihm und von den bürgerlichen Parteien und der Intelligenzelite dann für gut gehalten wird, das führt er durch. Ein Problem ist, dass hier weniger Kompromisse geschlossen werden und Alternativen, die durch die Opposition vorgestellt werden, dann wenig Beachtung finden. Das ist glaube ich eher ein Nachteil, dass hier wenig Kompromissbereitschaft vorliegt.

    Herter: Wie überhaupt in Ungarn, es kann einen verwundert, wie gespalten die ungarische Gesellschaft noch immer ist und wie oft die Regierungen gewechselt haben. Ist das ein wichtiger Hintergrund für Orbáns Politik?

    Kiselly: Auf jeden Fall. Wir haben eine sehr starke Trennlinie in der Gesellschaft, wir haben ungefähr ein Drittel der zehn Millionen Menschen, die nennen wir postsozialistisch. Denen ging es im Sozialismus sehr gut und sie fühlen sich, sie haben eine Ostalgie nach dem Sozialismus, nach der Berechenbarkeit und dem mittleren Wohlstand, den sie damals hatten. Wir haben ein weiteres Drittel, das sind die Antikommunisten, denen es nach 45, in der sowjetischen Besatzungszeit und dann im Sozialismus, schlechter ging als vor dem Krieg. Und diese zwei Drittel der Gesellschaft stehen sich unversöhnlich gegenüber. Und wir haben ein weiteres Drittel, die sind die unentschlossenen oder Wechselwähler, die haben davon gar keine Ahnung, sie wollen einfach gut leben, aber sie stoßen dann von der einen Seite zur anderen. Also das ist das Grundproblem, dass eine sehr starke Polarisierung in der Gesellschaft in Ungarn vorherrscht.

    Herter: Und der häufige Machtwechsel bewegt Orbán offenbar dazu, jetzt Veränderungen zu schaffen, mithilfe der Zweidrittelmehrheit im Parlament die Verfassung zu ändern, Änderungen, die auch nach einem Regierungswechsel nicht mehr so einfach rückgängig zu machen wären.

    Kiselly: Genau. Also er macht Weichenstellungen, er denkt wie dieses eine Drittel der Bevölkerung, dass das Land dann in eine richtige Richtung geht, wenn konservative Werte dann auch in der Verfassung oder auch dann als Vorgaben, als Normen eingesetzt werden. Und jetzt hat er die Zweidrittelmehrheit dazu. Man muss auch sagen, wir hatten jetzt acht Jahre linksliberale Regierung vor der Wahl im April 2010, das heißt die Zweidrittelmehrheit kam auch zustande, weil die linksliberale Regierungskoalition zuvor sehr schlecht gewirtschaftet hatte. Korruption und schwache Wirtschaftsleistungen waren da an der Tagesordnung. Und deswegen hatte die Fidesz-Partei diese Chance zur Zweidrittelmehrheit, weil die Vorgängerregierungen sehr schlecht gewirtschaftet haben, der Kontrast war sehr stark. Und durch diese Ermächtigungen, die sie von den Wählern bekommen haben, fühlt sich die Fidesz-Regierung ermächtigt, dann auch solche gravierende Änderungen vorzunehmen. Wie gesagt, Kritik kann angesetzt werden, dass wenig Konsultation stattfindet.

    Herter: Sie hören im Deutschlandfunk die "Informationen am Morgen". Der ungarische Politologe Zoltan Kiselly über die Politik von Regierungschef Orbán und die bald beginnende EU-Ratspräsidentschaft. Herr Kiselly, deutsche Unternehmen gibt es in Ungarn zuhauf, Audi, Bosch, die Telekom zum Beispiel. Viele ausländische Unternehmen beklagen sich über verschlechternde Bedingungen. Will Orbán die ungarische Wirtschaft ungarischer machen?

    Kiselly: Auf jeden Fall! Wir müssen unterscheiden: Wir unterscheiden zwischen schaffendem Kapital, das sind auch zum Beispiel deutsche Unternehmen, Audi, Bosch oder jetzt auch Mercedes, die massenhaft investieren und Produktionsstandorte nach Ungarn verlegen. Diese Unternehmen haben keine Schwierigkeiten, sie werden von keiner Sondersteuer belegt.

    Wir haben aber sogenanntes raffendes Kapital. Dieses Kapital war meist in Dienstleistungsbranchen, auch Telekommunikationsfirmen, Handelsketten, die sehr hohe Gewinne in Ungarn anwerfen, und die Regierung sagt, man möchte an dieser Wertschöpfung teilhaben, man möchte nicht, dass Ungarn nur als Aufnahmemarkt für westliche Unternehmen – nicht nur für deutsche Unternehmen – gesehen wird. Und deswegen untersucht die Regierung mit Sondersteuern diese Unternehmen in die Verantwortung zu nehmen. Man muss dazu aber ehrlicherweise eingestehen, dass auch deswegen so viele Gewinne in Ungarn angefallen sind, weil hier eine bessere Versteuerung vorherrscht als in Westeuropa. Das heißt, ausländische Banken, Versicherungen, Leasing-Agenturen haben ihre Gewinne hier in Ungarn anfallen lassen, weil hier die Körperschaftssteuer zum Beispiel viel niedriger war als in Deutschland. Und dadurch hatten die Banken zum Beispiel vor der Krise 600 Milliarden ungarischer Forint Gewinne ausgewiesen. Und davon nimmt die Regierung jetzt 200 Milliarden in Form einer Sondersteuer weg.

    Das heißt, das erschwert die Bedingungen für einzelne ausländische Unternehmen, insbesondere in der Dienstleistungsbranche. Aber die Regierung möchte und kann die Bevölkerung nicht mehr belasten. Das heißt, der Durchschnittsverdienst ist bei 700 Euro, aber die Leute haben meist Fremdwährungskredite, zum Beispiel Schweizer Franken oder Euro, und diese müssen sie in der schwachen Landeswährung Forint begleichen. Das heißt also, ein Durchschnittsverdienst geht meistens für die Tilgung früherer Schulden, zum Beispiel für Wohnungen oder Autos weg, oder für die Nebenkosten, zum Beispiel Heizung oder Strom. Und das heißt, die Leute haben sehr wenig Spielraum, dass sie mehr bezahlen können, für Steuererhöhungen ist kaum Platz. Und deswegen möchte die Regierung auch politisch wirksamer nicht die Leute belasten, nicht nur neue Sparmaßnahmen durchführen, sondern die Konzerne und insbesondere die ausländischen Konzerne belasten. Das macht natürlich Platz für ungarische Konzerne, es wird auch versucht ungarische Konzerne hochzupäppeln. Es gibt Ausnahmen zum Beispiel von diesen Sondersteuern, Versicherungen, Banken, die jünger als drei Jahre sind und keine schwarzen Zahlen schreiben können, die müssen zum Beispiel nicht diese Sondersteuer bezahlen und da haben viele Leute dann eine Chance, dann den Platz dieser ausländischen Konzerne einzunehmen, wenn sie den ungarischen Markt verlassen.

    Herter: Herr Kiselly, noch ganz kurz: Ungarn gehört nicht zur Eurozone. Ist das das größte Hindernis für einen erfolgreichen Ratsvorsitz, weil die Stabilität des Euro sicherlich Thema sein wird im nächsten halben Jahr?

    Kiselly: Ja, das ist sicherlich ein Nachteil, dass Ungarn nicht in der Eurozone ist. Da haben wir aber den ständigen Präsidenten des Rates, den früheren belgischen Ministerpräsidenten Herman Van Rompuy, der dort eine größere Erfahrung vielleicht einbringt als Ungarn. Wir haben aber als Ratsvorsitz auch die Möglichkeit dann die Probleme der Eurozone dann mit zu behandeln. Als ehrlicher Makler könnte sich Ungarn dort sehr gut aufführen, als Vermittler zwischen den Interessen. Natürlich, Estland tritt der Eurozone am 1. Januar bei, nicht Ungarn. Also wir haben da natürlich einen Nachteil. Es ist keine Perspektive für den ungarischen Euro-Beitritt vorgesehen, das ist soweit in einer Ferne.

    Herter: Das war der Budapester Politologe Zoltan Kiselly über Ungarn und den ungarischen Ratsvorsitz der EU. Herr Kiselly, vielen Dank!