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Ungarischer Komponist und Dirigent
Peter Eötvös' Traum von Transsilvanien

Vor über 70 Jahren wurde Peter Eötvös in Transsilvanien geboren. Bis heute ist es für den Komponisten und Dirigenten ein Sehnsuchtsort und die dortige Musikkultur beeinflusste sein Werk. Transsilvanien bleibt aber eine unerfüllte Leidenschaft - Eötvös hat seinen Geburtsort nie wieder besucht.

Von Egbert Hiller | 17.07.2017
    Der ungarische Komponist Peter Eötvös, fotografiert am 25.06.2014 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main (Hessen).
    Der Ungar Peter Eötvös ist einer der wichtigsten Komponisten und Dirigenten unserer Zeit. (picture alliance/dpa - Boris Roessler/dpa)
    Übersicht über die Sommer-Reihe "Das zweite Gesicht" - Musiker und ihre schrägen Leidenschaften
    "Ich bin da geboren 44, 2. Januar 44, das war noch während des Krieges, mein Vater als Soldat, deswegen sind wir überhaupt dahingekommen. Und als die Russen von Osten kamen, Mitte 44, und ich bin gerade geboren, und ein paar Monate später - ich denke so sechs, sieben Monate alt war ich - da haben wir schon Transsylvanien verlassen."
    Musik: Peter Eötvös, "Atlantis", Part 2
    "Als Geburtsort dieses Székelyudvarhely galt in meiner Kindheit als eine Traumwelt, also nur dadurch, dass ich gefragt wurde damals, wo bist du geboren, dann war ich ganz stolz und habe gesagt, also in Transsilvanien, ach, und das war irgendwas Besonderes."
    Peter Eötvös hat Sehnsuchtsort nie mehr besucht
    Etwas Besonderes sind Transsilvanien und das Städtchen Székelyudvarhely für den Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös bis heute geblieben. Ein paar Monate im Säuglingsalter reichten aus, diese Region ein Leben lang im Herzen zu tragen – gerade weil sie zur Projektionsfläche seiner Träume geriet, nicht nur seiner Kinderträume:
    "Dann habe ich auch die Mütze, die transsilvanische Mütze, getragen – lange, als ich schon 30 war, immer mit der Pelzmütze. Diese sehr große Neigung kommt daher, dass ich eigentlich nie mehr da gewesen bin, und jetzt bin ich schon 73 und bin noch immer nicht hingegangen, und jetzt möchte ich nicht mehr hingehen, ich möchte diesen Traum irgendwie behalten."
    Es wäre sehr verwunderlich, wenn sich dieser Traum nicht auch in seiner Musik widerspiegeln würde. Klingende Spuren sind jedoch rar gesät. Als Peter Eötvös 1971 von Ungarn nach Deutschland übersiedelte, beflügelte die größer gewordene räumliche Distanz zu Transsilvanien die geistige Nähe umso mehr. Eigentümlich durchdrangen sich bei ihm in diesen Jahren frühe Experimente mit Elektronik und volksmusikalische Einflüsse.
    Traumbild Transsilvanien spiegelt sich in seiner Musik
    "Zum Beispiel Volksflöte, die können so auch da rein summen und dann spielen sie und summen gleichzeitig dazu – das ist identisch mit der elektronischen Modulation. Das heißt, es wird frequenzmoduliert. Was mich damals interessiert hatte, das war die Verbindung zwischen Volksmusiktechnik von verschiedenen Instrumenten, vergleichbar zu der live-elektronischen Denkart."
    Musik: Peter Eötvös, "Atlantis", Part 1
    "Atlantis" von 1995. Jeweils am Schluss der drei Sätze ließ Peter Eötvös transsilvanische Tanzmusik einfließen, wofür er wichtige Gründe hatte. Anfang der 1990er-Jahre beschloss er, von nun an dem Komponieren höchste Priorität einzuräumen. In dieser Phase schöpferischer Selbstfindung besann er sich auf sein zweites Gesicht, den Sehnsuchtsraum Transsilvanien. Dazu kam die Auflösung des Warschauer Paktes, die Eötvös zwar begrüßte, die aber Folgen für die volksmusikalischen Kulturen der osteuropäischen Länder hatte. Zu dieser Zeit befürchtete er, die Musikkultur Transsilvaniens könne sehr bald verschwinden – und das verknüpfte er mit dem Mythos von Atlantis.
    "Amerikanische Disco-Kultur hat Volkstanzkultur weggewischt"
    "In Rumänien, in Transsilvanien in diesem Fall, allmählich hat die amerikanische Disco-Kultur die eigene Volkstanzkultur weggewischt. "Atlantis" bezog sich eigentlich daraufhin, das zu sagen, Mensch, so was tut man nicht. Ihr könnt ganz ruhig mal in die Disco gehen, aber nicht etwas töten dafür."
    Musik: Peter Eötvös, "Atlantis", Part 1
    "Wie eine alte, verlangsamte Phonograph-Aufnahme. Ohne Vibrato, aber mit etwas instabiler Intonation", so lautet die Vortragsbezeichnung am Ende von Teil eins von "Atlantis" – wenn im labyrinthischen Sog der Klänge transsilvanische Tanzsätze wie seelisches Treibgut ans Ufer der Wahrnehmung gespült werden. Visionäre Klangräume und Erinnerungen an ein verloren geglaubtes Paradies verweisen auf den geistigen Kosmos von Peter Eötvös, der auch und gerade in "Shadows" durchscheint – ein Ensemblestück von 1996, das er seinem 1994 verstorbenen Sohn widmete.
    Traum von Transsilvanien lebt weiter
    "'Shadows' hat einen sehr schön gelungenen letzten Satz, der aus der transsilvanischen Tanzmusik kommt, den ich als einen Trauertanz aufgefasst habe. Das hat mich besonders ergriffen damals – wenn sie langsam sind, dann sind sie sehr langsam, das ist unglaublich."
    Musik: Peter Eötvös, "Shadows", 3. Satz
    Nach "Shadows" entzog sich Peter Eötvös der transsilvanischen Volksmusik für lange Zeit. Doch der Traum von Transsilvanien und die ideelle Leidenschaft für die dortige Musikkultur lebten und leben in ihm weiter. In den letzten Jahren ließ er wieder Anklänge zu – etwa im Violinkonzert "DoReMi" von 2012, wo in der Kadenz des dritten Satzes ein transsilvanischer Tanz durchschimmert.
    Musik: Peter Eötvös, "DoReMi", 3. Satz