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Ungarn auf dem Weg nach rechts

Seit Frühjahr stellt die rechtsextreme ungarische Partei Jobbik die drittgrößte Fraktion im Budapester Parlament. Paul Lendvai nimmt die Jahre seit dem Ende des Eisernen Vorhangs unter die Lupe auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, warum das Land nach rechts kippt.

Von Mariele Schulze-Berndt | 06.12.2010
    Als einer der besten Kenner der politischen Zusammenhänge und Akteure entschlüsselt Paul Lendvai die Ursachen für den Erfolg des neuen Nationalismus unter Fidesz-Chef Viktor Orban. Und dieser Erfolg ist beachtlich, errang Orban doch bei der Wahl im April 2010 eine Zweidrittelmehrheit der Sitze in Ungarns Parlament. Lendvai klärt seine Leser darüber auf, dass diese Zweidrittel-Mehrheit aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung allerdings nur ein Drittel der Wahlberechtigten repräsentiert. Dennoch, das Wahlsystem ermöglichte Orban mittlerweile, einen Staatspräsidenten seines Geschmacks wählen zu lassen. Das Verfassungsgericht ist "orbanisiert" und eine Medienbehörde, gewählt auf neun Jahre, gewährleistet nun die Orban genehme Berichterstattung in Ungarns öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Fernsehen sowie in der ungarischen Nachrichtenagentur. Auch die Zeitungen entgehen der Überwachung nicht.

    Lendvai: "Victor Orban ist ein unglaublich begabter Machtpolitiker. Er hat erkannt, 1995, dass am linken Rand und links von der Mitte die Postkommunisten und die SDS, die Liberalen, die Freien Demokraten sind, er hat nur eine Chance durch eine Öffnung nach rechts."
    Doch Orban ist nicht der einzige ungarische Regierungschef, den Lendvai aus der Nähe betrachtet. Neben dem politischen Phänomen Joszef Antall und dem Postkommunisten Guyla Horn beleuchtet er den "Blender" Péter Medgyessy und den Verfasser der berühmt gewordenen Lügenrede, Ferenc Gyurcsany. Gyurcsany hatte als sozialdemokratischer Ministerpräsident hinter verschlossenen Türen seiner Fraktion gestanden, vor der Wiederwahl habe man die Bevölkerung jahrelang belogen, um Akzeptanz für nötige Reformen zu erreichen. Nachdem 2006 Ausschnitte aus der Rede veröffentlicht wurden, zwangen ihn wütende Straßenproteste schließlich zum Rücktritt. Er scheiterte nach Ansicht Lendvais auch deshalb, weil "die Leute wirklich glaubten, dass sie alles haben können. 1990 die Freiheit, aber gleichzeitig einen Lebensstandard, der auf Pump und falschen Rechnungen aufgebaut wurde. Es gab keinen Kassensturz. Das gab es sehr selten in der ungarischen Geschichte, nur nach großen Niederlagen."
    Der subjektive Blick Lendvais gibt seinen Darstellungen eine besondere Farbe. Das gilt auch dort, wo er sich mit dem Vertrag von Trianon beschäftigt, der heute sowohl von Orban als auch von der rechtsextremen Jobbik-Partei benutzt wird, um großungarische Träume wiederzubeleben. Nach dem Ersten Weltkrieg, 1920, verlor Ungarn im Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Territoriums und drei Fünftel seiner damaligen Bevölkerung. Dieses ungarische Trauma sei nie wirklich rational aufgearbeitet worden.

    "Man hat die nationale Frage, Patriotismus und all das, sozusagen in einen Kühlschrank gegeben. Und 1990 wurde dieser Kühlschrank geöffnet, alles war noch sehr lebendig, und man hat in den letzten 20 Jahren, die Sozialisten und die Liberalen, die Frage unter den Teppich gekehrt und die rechte Seite und vor allem seit seinem Rechtsschwenk hat Orban diese Frage hochgespielt und die nationale Frage zu einer zentralen Frage der Politik hochstilisiert."
    Lendvai selbst hält den Vertrag von Trianon für die "größte Tragödie der ungarischen Geschichte". Aus dem Verlust der früheren Größe leitet er eine Ursache für den wieder zunehmenden ungarischen Antisemitismus ab. Erschreckend sei die Unkenntnis in Ungarn über den eigenen Anteil an der Deportation und Vernichtung von 564.000 Juden unter dem Horthy-Regime und der deutschen Besatzung ab 1944. Um Antisemitismus und Fremdenhass näher zu beschreiben, zieht Lendvai sozialwissenschaftliche Studien und Umfragen heran. Und er belegt das Wiederaufleben des Antisemitismus mit zahlreichen Beispielen der jüngsten Vergangenheit, aus Wahlkampfreden von Jobbik-Funktionären und der FIDESZ nahestehenden Zeitungen. Lendvai gelingt es jedoch nicht, die Ursachen für die virulente Roma-Feindlichkeit in Ungarn erschöpfend zu ergründen. Dies wäre vielleicht auch zu viel verlangt, ist das Buch doch eher ereignisgeschichtlich und phänomenologisch angelegt. Es besticht durch den flüssigen und anschaulichen Stil, die gekonnten Charakterisierungen und - gerade für westeuropäische Leser - die Person des Autors, der selbst einen großen Teil der dargestellten Geschichte miterlebt und professionell begleitet hat. Nur vor diesem Hintergrund kann ein Autor wohl so unbefangen den Charakter eines Volkes beschreiben und ein persönliches Bild von dem Land zeichnen, das er am besten kennt und um dessen Zukunft er sich Sorgen macht; denn es ist auf dem Weg zu einer Demokratie ohne nennenswerte Opposition.

    Paul Lendvai: Mein verspieltes Land – Ungarn im Umbruch. Das Buch ist im Ecowin Verlag erschienen, für 23 Euro 60 gibt es 272 Seiten, ISBN: 978-3-902-40494-7.