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Ungarn
Flüchtlingsstrom erinnert Ungarn an Mongolensturm

In Ungarn herrsche eine extreme Hysterie, sagte der Schriftsteller György Dalos im DLF. Der Flüchtlingsstrom werde dort fast wie der Mongolensturm dargestellt. Gleichzeitig gebe es zivile Gruppen, die mehr Hilfe geleistet hätten als die Regierung. Insgesamt sei Ungarn bei der Flüchtlingsfrage aber nur ein kleiner Faktor.

György Dalos im Gespräch mit Dirk Oliver Heckmann | 15.09.2015
    Der ungarische Schriftsteller György Dalos.
    Der ungarische Schriftsteller György Dalos. (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    In Ungarn habe sich niemand auf den großen Andrang von Flüchtlingen vorbereitet, sagte der Schriftsteller und Historiker György Dalos. Weder Verwaltung noch irgendeine Art von Infrastruktur seien vorbereitet worden, obwohl die ersten Flüchtlinge bereits Anfang des Jahres nach Ungarn kamen. Es hänge jetzt sehr viel von Europa ab. Dalos kritisierte, dass Europa insgesamt zu wenig Haltung in der Flüchtlingsfrage zeige. Insgesamt sei Ungarn in Europa aber nur ein kleiner Faktor wenn es um die Flüchtlingsfrage gehe.
    Zudem fühlten sich viele durch die Flüchtlinge an den Mongolensturm erinnert, erklärte Dalos. Der Mongolensturm bezeichnet ein historisches Ereignis. Er beschreibt den Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert. Die Mongolen überrannten zunächst die islamische Welt. Ihr Weg führte sie auch nach Osteuropa. Ihre Kämpfer gingen mit äußerster Brutalität und Zerstörung vor. Städte und Dörfer wurden verwüstet und dem Erdboden gleichgemacht. Einer der damalige Mongolen-Herrscher, der heute auch im Westen noch symbolisch für die Zeit steht, ist Dschingis Khan.

    Das Interview in voller Länge
    Dirk-Oliver Heckmann: Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, hat sich zu einer Art Enfant terrible Europas entwickelt. Er hatte mit seinem Mediengesetz, das die Freiheit der Medien zu tangieren drohte, die Alarmglocken in Europa schrillen lassen. Jetzt der Umgang mit den Flüchtlingen, bei dem man den Eindruck hat, Orbán tut alles, damit auch nur ja niemand auf die Idee kommt, in Ungarn bleiben zu wollen. Hinzu kommen Äußerungen, die man auch von dezidierten Islamfeinden erwarten könnte. Was ist los mit Ungarn, dem Land, das entscheidend dafür sorgte, dass der Eiserne Vorhang in Europa fiel? - Dazu begrüße ich jetzt am Telefon György Dalos, Schriftsteller und Historiker. Er war in den 80er-Jahren Mitbegründer der demokratischen Oppositionsbewegung in Ungarn. Er ist Mitglied der sächsischen Akademie der Künste, Träger des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung, seit Jahren lebt er als freier Autor in Berlin. Schönen guten Morgen, Herr Dalos!
    György Dalos: Schönen guten Morgen.
    Heckmann: Herr Dalos, Ungarn hat ja die meisten Flüchtlinge zu schultern gehabt jetzt in den letzten Wochen und Monaten und ist womöglich auch allein gelassen worden von den westlichen Partnern. Dass Orbán jetzt die Gesetze verschärft, muss man dafür nicht auch Verständnis aufbringen?
    Dalos: Ursprünglich war das, was heute in Ungarn passiert, von Orbán noch geplant. Ich meine, er wollte seine antieuropäische Haltung in irgendeiner Frage beweisen, damit er sozusagen den Wind aus den Segeln seiner rechtsradikalen Gegner bei Jobbik nimmt. Das war die ursprüngliche Absicht.
    Aber obwohl die ungarischen Behörden seit zumindest Januar/Februar über diesen Strom einiges wussten, fand sie die Geschichte völlig unvorbereitet. Ich habe im Juli in Budapest die ersten Flüchtlinge massenhaft am Ostbahnhof gesehen und da stellte sich heraus, dass dieser riesige Apparat, was ganz Ungarn unter Kontrolle halten möchte, nicht einmal dazu fähig war, die ersten Gruppen der Flüchtlinge aufzufangen. Und dann begann ein ganz anderes Spiel: Ungarn versuchte, die Verantwortung einfach auf andere Länder, vor allem auf Nachbarländer zu schieben. Andererseits ist diese Geschichte natürlich keine reine ungarische Geschichte, weil der Flüchtlingsstrom kommt nach Ungarn eigentlich in ein Transitland und möchte weiter, und das ist eben das Problem, was ganz Europa lösen müsste.
    Ungarische Staatschef streben oft zu hohe Ziele an
    Heckmann: Herr Dalos, aber ich verstehe Sie richtig, dass Sie der Einschätzung sind, dass die ungarische Regierung unter Herrn Orbán diese Krise einfach hat über sich hinwegrollen lassen, nicht reagiert hat oder sogar sie bewusst in Kauf genommen hat, sie sogar verschärft hat?
    Dalos: Ja. Weder die Verwaltung, noch die anderen Infrastrukturen, zum Beispiel die medizinische Versorgung der Flüchtlingslager, waren bereit, diese Masse aufzufassen, und dazu kam noch diese ständige Schwankung der Haltung der ungarischen und auch anderen Regierungen. Wir erinnern uns noch daran, dass es einige Tage gab, wo die Bundesrepublik eigentlich die Flüchtlinge bereit war aufzunehmen und in demselben Augenblick verschwanden die Polizisten vom Ostbahnhof und die Flüchtlinge haben einfach die Züge besetzt, um nach Österreich und nach Deutschland zu kommen. Zwei Tage später wurden dann wieder die Einreiseregeln in Deutschland und dann auch in Österreich zumindest suspendiert und das führte hier zu einem Chaos, was sicher nicht das Ziel von Orbán war, aber das ist sehr oft, dass ungarische Staatschefs ein bisschen zu hohe Ziele anstreben, welchen sie dann nicht entsprechen können.
    Jetzt ab diesem Tag beziehungsweise ab null Uhr dieses Tages gibt es eine Neuregelung, laut der der Grenzübergang nach Ungarn - und zwar jetzt über Serbien - nicht mehr eine Regelverletzung ist, sondern eine kriminelle Tat.
    Heckmann: Zumindest, wenn dieser Übergang illegal erfolgt.
    Dalos: Ja! Illegal hat man sie auch bis jetzt genannt, aber heute ist das strafbar. Aber das bedeutet wiederum nicht - möglicherweise bis Ende des Jahres bis zu 200.000 kann das noch kommen . Dass 200.000 Menschen in Ungarn eingekerkert werden. So was gibt es nicht. Aber was wirklich möglich ist, dass diese Leute, wenn sie sich nicht in Ungarn registrieren lassen und davor haben sie Angst, weil sie schlechte Erfahrung mit den ungarischen Behörden haben, dann werden sie nach Serbien zurückgeschickt und Serbien ist bereit, nur 80 Flüchtlinge aus Syrien, aus Afghanistan, aus anderen Ländern wieder aufzunehmen, und die Zahl der Flüchtlinge ist einfach viel mehr.
    "Ungarn will diese Ausländer nicht haben"
    Heckmann: Es gingen ja in der Tat unglaubliche Bilder um die Welt. Da war diese Kamerafrau, die einem Flüchtling mit einem Kind auf dem Arm ein Bein stellte und eine andere Frau noch getreten hat. Dann gab es ungarische Beamte, Polizisten offenbar, Sicherheitsbeamte, die eingepferchten Flüchtlingen Essen zuwerfen wie bei einer Zoofütterung, hatte das ja den Anschein. Viele haben den Eindruck, die ungarische Regierung tut alles, damit ja kein Flüchtling im Land bleiben will. Teilen Sie diesen Eindruck?
    Dalos: Ich bin sicher, dass die keine Flüchtlinge haben wollen. Das ist natürlich, ich würde sagen, so ein unfrommer Wunsch. Es gibt auch noch welche Staaten und Länder und es gibt auch noch viele Leute in Europa, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen und dies trotzdem tun, weil man kann natürlich nicht so tun, als wenn Europa als einziger Kontinent dastehen würde.
    Mehr noch: Es gibt noch Politiker, die der Meinung sind, dass ein Teil dieser Flüchtlinge für sie auch wichtig ist. Das große Problem Ungarn ist, dass einerseits hier immer noch Innenpolitik betrieben wird. In Ungarn, ich würde sagen, wütet ständig Wahlkampf und Orbán denkt schon an das Jahr 2018. Er möchte seine Herrschaft verlängern und er ist bereit, diejenigen Schichten der ungarischen Gesellschaft aufzuhetzen, die sozusagen dazu geeignet sind.
    Heckmann: Aber diese Schichten sind ja offenbar auch bereit. Viele Ungarn, die wir jetzt in den letzten Tagen im Originalton im Fernsehen, im Radio, bei uns auch im Deutschlandfunk gehört haben, die haben gesagt, wir wollen hier keine Ausländer, wir wollen vor allem auch keine Moslems hier haben im Land. Wie ist diese rigide Abwehrhaltung zu erklären aus Ihrer Sicht?
    Dalos: Erstens glaube ich, dass manchmal und besonders in einer so scharfen Situation nicht nur die Antworten, sondern selbst die Fragen falsch gestellt sind. Ich bin sicher, dass sehr viele Ungarn diese Ausländer nicht haben wollen, aber ob sie mit der brutalen Behandlung durch Einzelne oder auch offizielle Behörden - ich meine jetzt nicht direkt die Polizei, die bis jetzt sich ziemlich zurückhaltend verhielt -, aber die Frage ist, ob sie diese Brutalität auch teilen, und da habe ich bestimmte Zweifel. Es gibt in Ungarn auch zivile Gruppen, die sehr lange von der Regierung einfach mit Argwohn beobachtet wurden, die jetzt insgesamt mehr Hilfe geleistet haben als die Regierung als solche.
    Ausländerablehnung geschieht in einer "extremen Hysterie"
    Heckmann: Aber, Herr Dalos, es gibt ja auch Umfrageergebnisse und die sagen in der Tat, es gibt eine große Mehrheit in der ungarischen Bevölkerung, die wirklich sagen, wir wollen hier keine Ausländer, wir wollen hier keine Moslems. Noch mal die Frage: Wie ist das aus Ihrer Sicht zu erklären?
    Dalos: Ja, viele wollen nicht. Gleich in Oppositionsparteien gibt es bis zu 40 Prozent kommende Befragten, die diese Ausländer nicht haben wollen. Aber das, was sie jetzt nicht haben wollen, das geschieht alles in einer Atmosphäre einer extremen Hysterie und dieser Strom der Ausländer wird fast wie der Mongolenfeldzug im 13. Jahrhundert dargestellt. Und Feindbilder zu schaffen, das ist natürlich in einem Land, wo die Mehrheit der Medien der Regierung gehört, leicht.
    Ich weiß, wenn das Ganze ein bisschen ruhiger wäre, wenn die Behörden ihre Pflicht von Anfang an getan hätten, dann wäre diese Frage nicht so scharf. Wenn man in Westungarn in einer Stadt spazieren geht - ich habe das ungefähr vor zwei Wochen gemacht, ich hatte Urlaub in Westungarn gemacht und ich habe kleine Städte und Dörfer gesehen und keine Spur von irgendwelcher Nervosität. Aber heute ist es natürlich so: Je näher an der österreichischen Grenze, desto mehr sind dort die Lager für die Flüchtlinge aufgebaut, die dann zwölf oder 15 Kilometer zu Fuß gehen, um nach Österreich zu gelangen.
    Orbán führt eine persönliche Herrschaft in Ungarn
    Heckmann: Viktor Orbán hat ja in den vergangenen Jahren die Rechte des Verfassungsgerichts eingeschränkt. Er hat die Medien einer fragwürdigen Kontrolle unterworfen. Er hat sich auch für die Wiedereinführung der Todesstrafe ausgesprochen. Sie werden Kontakt haben zu vielen Landsleuten, die noch in Ungarn leben. Was sagen die eigentlich? Fühlen sie sich noch wohl in diesem Land? Ist Ungarn eigentlich noch Teil der europäischen Werteordnung?
    Dalos: Jedenfalls in 2004 hatte die absolute Mehrheit der Ungarn die EU gewollt, und ich glaube auch nicht, dass das sich verändert hat. Aber es ist die Lage völlig anders, und zwar nicht nur einfach weil die Orbán-Mannschaft seit 2010 alles gemacht hat, um die Demokratie einfach auszuhöhlen, sondern weil diese Art von Herrschaft immer wieder persönlich wird. Das ist eine persönliche Herrschaft und ich glaube auch, dass viele Entscheidungen, die dann zurückgezogen werden, weil sie nicht machbar sind, direkt und persönlich von ihm kommen. Das ist eine persönliche Herrschaft mit allen Formen der Demokratie.
    Heckmann: Und glauben Sie - letzte Frage kurz zum Schluss -, dass sich das noch einmal ändern könnte in den nächsten Jahren?
    Dalos: Es wird sich ändern, sicher, weil das ist so nicht haltbar und weil irgendwann jede Macht ein bisschen müde wird von ihrer eigenen Stärke sozusagen. Andererseits hängt sehr viel von Europa ab. Ich habe noch nicht darüber gesprochen, dass auch Europa in diesen Fragen zu wenig Verantwortung zeigt und dass die Haltung von vielen europäischen Regierungen nicht der realen Lage entspricht. Es gibt keinen Konsens. Manchmal tut man so, als ginge es nur um die Quoten. Ich glaube aber nicht. Ich glaube, dass hier irgendeine europäische, wenn nicht internationale Konferenz vonnöten wäre, die den ganzen Fragenkomplex löst. Ungarn ist, ich würde sagen, ein relativ kleiner Faktor in dieser Sache.
    Heckmann: Und über die Entwicklung in Ungarn selber haben wir gesprochen mit György Dalos, Schriftsteller und Historiker aus Ungarn. Er lebt seit Jahren als freier Autor in Berlin. Herr Dalos, danke Ihnen für Ihre Zeit.
    Dalos: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.