Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Ungarn und die Demokratie
Noch ein Abschied von Europa?

"Die ungarische Tradition hat einen sehr starken Nationalstolz", sagte der in Deutschland lebende ungarische Schriftsteller György Dalos im DLF über sein Heimatland. Die antieuropäischen Bewegungen in seinem Land seien aus einer falschen Nostalgie gespeist. Es gebe aber genug intellektuelle Köpfe, die diese Bewegungen öffentlich kritisierten.

György Dalos im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 09.07.2015
    Flüchtlinge bei Szeged in Ungarn werden von der Polizei festgenommen.
    Bei Szeged (170 km südöstlich von Budapest) festgenommene Flüchtlinge. (Zoltan Gergely Kelemen, dpa picture-alliance)
    Stefan Koldehoff: Während alle Welt gebannt nach Griechenland starrt, geht es dem übrigen Europa auch nicht überall gut. Ursprünglich war die europäische Idee ja nicht eine rein ökonomische, zu der sie inzwischen verkommen zu sein scheint, sondern vor allem die einer Kultur- und Wertegemeinschaft. Liest man in den letzten Tagen allerdings die Nachrichten, die aus Ungarn kommen, dann ist auch davon nicht mehr viel zu erkennen: "Ungarn plant Grenzzaun", heißt es da. "Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen." "Amnesty prangert Polizeiwillkür an." "Verwaltungsgericht Münster stoppt Abschiebung nach Ungarn wegen dortigen Umgangs mit Flüchtlingen." Und zuletzt: "Ungarn schränkt wieder Informationsfreiheit ein." Den in Berlin lebenden ungarischen Schriftsteller György Dalos habe ich gefragt, ob wir da gerade den Abschied eines zweiten Staates aus Europa erleben – nicht aus ökonomischen, sondern aus kulturellen Gründen.
    György Dalos: Nun, all das, was aus Ungarn kommt, ist natürlich: Obwohl es oberflächliche Ähnlichkeiten mit Griechenland gibt, Ungarn ist kein Griechenland. Griechenland hat langjährige Erfahrungen mit der EU und gleichzeitig ist es wirklich Pleite. Ungarn ist zum Glück noch nicht pleite und andererseits war es nach der Wende der EU beigetreten, 2004, was eine sehr große Errungenschaft der Demokratie war, und erst seit 2010 gibt es immer wieder diese merkwürdigen Stimmen, die einerseits gegen die EU gerichtet sind und andererseits eine Art völlig falsche Nostalgie gegenüber Ländern wie Russland, China, Aserbaidschan, Kasachstan haben, als wäre Ungarn kein Teil der EU.
    Koldehoff: Was ist das für eine Nostalgie, von der Sie da sprechen? Worauf ist die ausgerichtet? War es früher alles schöner, besser?
    Dalos: Ich glaube nicht. Natürlich nach der Wende gab es ziemlich schwierige Jahre und man kann natürlich auch die Unkosten der ökonomischen Reform nicht unterschätzen. Damals war ein Drittel der Arbeitsplätze geräumt und wir hatten zweistellige Inflation und Arbeitslosigkeit, was wir heute nicht haben. Umso merkwürdiger ist, dass diese ehemalige Jugendpartei, die damals als eindeutig liberale Kraft in die ungarische Politik gekommen ist, dass sie plötzlich bei einer scheinbar völlig veralteten und nicht praktischen Ideologie der Zwischenkriegszeit gelandet war. Die ungarische Tradition hat einen sehr starken Nationalstolz und ich finde diesen Nationalstolz auch gewissermaßen in Ordnung, wenn es darum geht, dass wir nicht besser aussehen, sondern auch besser sein sollten, zumindest als wir früher waren. Ich glaube aber, es wird jetzt sehr stark mit diesem Stolz manipuliert, sämtliche Probleme, die nach der Wende wirklich auftauchten, plötzlich über diesen Nationalismus behandeln zu wollen. Und das ist so, als hätte man eine Krankheit mit einer anderen behandeln wollen. Man sollte eigentlich die Ungarn nicht wie Kinder, nicht wie eine unerwachsene Gesellschaft behandeln. Schließlich waren wir diejenige Nation, die schon 1989 mit der Grenzöffnung beschäftigt war und nicht mit der Dichtmachung der Grenze, wie das jetzt in Ungarn der Fall ist. Diese Wahnidee, einen 175 Kilometer langen Zaun an der serbischen Grenze zu bauen, das ist völlig unwürdig unserer neuesten Tradition.
    Koldehoff: Wer ist, Herr Dalos, die Stimme der Vernunft in Ungarn? Wer sagt laut und öffentlich, so geht das alles nicht?
    Dalos: Es gibt sehr viele solcher Stimmen. Allerdings die zeigen sich viel weniger in den großen Medien, weil diese großen Medien sind seit 2010 ziemlich eindeutig zur Domäne der Regierungspartei geworden. Es gibt noch einige private Sender oder unabhängige Medien, wie RTL zum Beispiel, oder ATW, die ziemlich offen und diskursiv über dieses Thema sprechen, ohne die Schwierigkeiten zu verschweigen. Es gibt auch Intellektuelle, die immer wieder bereit sind, diesen Flüchtlingen zu helfen. In der Stadt Szeged gibt es Leute, die direkt zum Flüchtlingslager oder zum Bahnhof gehen, um den Leuten zu helfen. Das ist natürlich sicher eine Minderheit, aber vielleicht ist doch diese Minderheit viel größer, als das aufgrund der Medien sichtbar wird.
    Koldehoff: Müssen wir uns, nachdem in dieser Woche das Parlament noch mal eine Einschränkung der Presse- und Informationsfreiheit in Ungarn beschlossen hat, Sorgen um die Demokratie in Ihrem Land machen?
    Dalos: Ja, da wird man eigentlich nicht ganz klug daraus, warum eigentlich das Parlament, das ungarische Parlament, das aufgrund der mehr als Zwei-Drittel-Mehrheit der Regierung eigentlich jedes Gesetz in zehn Minuten erlassen kann, und diese Gesetzesfabrik hat plötzlich etwas produziert, was, ich glaube, selbst die Schöpfer nicht bis zu Ende gedacht haben. Einerseits wollen sie eigentlich die Information, ohne das Recht auf Information der Bürger zu beachten, die wollen diese Information einerseits plötzlich einschränken, und andererseits noch absurder, sie wollen für diese Information Geld haben. Die Regierung beruft sich darauf, dass angeblich unsere Ministerien und unsere Beamten überlastet sind von den vielen Fragen; na ja, da müsste man schon die Informationen einfach ins Internet geben, damit für jeden sie erreichbar wären. Es geht nicht um Staatsgeheimnisse.
    Koldehoff: Der ungarische Schriftsteller György Dalos zur Situation in seinem Heimatland.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.