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"Ungeheuere Veränderungsdynamik innerhalb der Türkei"

Bundespräsident Christian Wulff (CDU) spricht heute vor den Abgeordneten des türkischen Parlaments, als erstes deutsche Staatsoberhaupt überhaupt. Jürgen Trittin empfiehlt ihm, die Türkei für den eingeleiteten Prozess der Demokratisierung zu loben.

Jürgen Trittin im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 19.10.2010
    Tobias Armbrüster: Schönen guten Morgen, Herr Trittin.

    Jürgen Trittin: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Was sollte Christian Wulff den türkischen Abgeordneten heute sagen?

    Wulff: Ich glaube, er sollte sie dafür loben, aber auch auffordern, diesen Weg weiterzugehen, den Prozess der Demokratisierung, den die Türkei in den letzten Jahren im Zuge des Beitrittsprozesses und der Orientierung nach Europa durchlaufen hat, diesen Prozess fortzusetzen. Da war die Verfassungsänderung, die die Macht des Militärs ja beschnitten hat, ein ganz wesentlicher Schritt nach vorne.

    Armbrüster: Sollte er denn auch die Integrationsdebatte, die wir gerade in Deutschland führen, etwas geraderücken?

    Trittin: Ich glaube, der Bundespräsident hat da am wenigsten Grund, etwas geradezurücken. Er hat am 3. Oktober, am Tag der Deutschen Einheit, sehr deutliche Worte gefunden über sein Rollenverständnis und auch sein Verständnis, wie er seine Amtsführung versteht. Er hat klargestellt, dass er sich als Präsident auch und gerade jener Mitbürgerinnen und Mitbürger versteht, die mit dem Hintergrund einer Migration aus der Türkei und mit der religiösen Überzeugung als Muslime nach Deutschland gekommen sind, heute deutsche Staatsbürger sind, und er sei auch der Präsident dieser Migranten, dieser Deutschen muslimischen Hintergrundes, und ich finde, da hat er gegenüber der türkischen Öffentlichkeit, glaube ich, den geringsten Klarstellungsbedarf, wenn man es vergleicht mit anderen Mitgliedern aus der Bundesregierung etwa.

    Armbrüster: Das heißt, Herr Trittin, Sie unterstützen Christian Wulff dabei also voll und ganz?

    Trittin: Ich halte das, was er da gesagt hat, für die Anerkennung der Realität, die wir seit Jahrzehnten durchleben. Wir sind lange Zeit ein Einwanderungsland gewesen. Mittlerweile sind wir, auch wenn Herr Seehofer das noch nicht ganz begriffen hat, wieder zu einem Auswanderungsland geworden, aus dem mehr Menschen auswandern als einwandern. Aber die Realität und auch den komplexen Problemen einer Gesellschaft mit Menschen unterschiedlicher Herkunft sich zu stellen, das war die Botschaft von Christian Wulff vom 3. Oktober.

    Armbrüster: Nun sind bei diesem Besuch ein weiteres wichtiges Thema - Sie haben es angesprochen - die Beitrittsverhandlungen zwischen Türkei und Europäischer Union. Wie weit ist die Türkei Ihrer Ansicht nach auf dem Weg hin zu einer EU-Vollmitgliedschaft?

    Trittin: Die Türkei hat viel getan im Bereich der wirtschaftlichen Voraussetzungen, die Türkei ist ein sehr schnell und beachtlich wachsendes Land, ein sich ökonomisch entwickelndes Land. Dazu hat beigetragen die Auflösung des militärisch dominierten Staatssektors der Wirtschaft. Die Türkei hat aber nach wie vor einen Bedarf an Klarstellung im Bereich des Strafrechts, der individuellen Menschenrechte, sie hat nach wie vor ein bis heute nicht gelöstes Problem oder nicht vollständig gelöstes Problem mit den Minoritäten im Lande, insbesondere den Kurdinnen und Kurden, und es gibt zwischen der Türkei und der Europäischen Union natürlich noch Auffassungsunterschiede, wie etwa mit dem Prozess auf Zypern umzugehen ist. Diese Fragen sind nicht von heute auf morgen zu lösen, aber sie sind lösbar. Der Versuch, sie zu lösen, hat dazu geführt, dass die Türkei sich demokratisch weiterentwickelt hat, und das ist der große Vorteil einer Perspektive eines Beitrittes zur Europäischen Union, dass dies eine ungeheuere Veränderungsdynamik innerhalb der Türkei freigesetzt hat.

    Armbrüster: Sie sagen nun, die Türkei habe sich demokratisch weiterentwickelt. Wir erleben in der Türkei allerdings auch, dass dort die streng religiösen Kräfte neuen Auftrieb bekommen. Man sieht in den Städten immer mehr verschleierte Frauen, der Ruf der Muezzine, der wird lauter, es gibt auch immer mehr Alkoholverbote. Wollen wir ein solches Land tatsächlich in der Europäischen Union haben?

    Trittin: Ich glaube, dass für den Bestand der Europäischen Union gilt die Respektierung der Grundwerte, der Regeln der Europäischen Union. Nur das und das kann der Maßstab sein. Wie sich die Türkei in diesem Prozess, der natürlich nicht widerspruchsfrei ist, wo es auch aus Angst vor der Moderne Rückentwicklung und Rückschläge gibt, wie sich das entwickelt, wissen wir am Ende des Tages nicht. Deswegen ist das ja ein Prozess, wo sich die Türkei zu entscheiden hat, ob sie sich auf Europa und die europäischen Werte zubewegt. Wer heute sagt, wir brechen diesen Prozess ab, der wird sich umgucken, wie schnell und wie radikal sich solche Entwicklungen zuspitzen werden. Das kann übrigens auch nicht im Interesse Europas sein, übrigens auch nicht im Interesse des Westens, wenn man dann den Begriff des Westens einmal ernst nehmen möchte. Das ist übrigens der Grund, warum Barack Obama bei seiner großen Europarede in Prag sehr dafür geworben hat, dass dieser Annäherungsprozess der Türkei an Europa fortgesetzt wird. Das geht aber nur mit einer Beitrittsperspektive.

    Armbrüster: Aber könnte es nicht sein, wenn wir uns tatsächlich solche streng religiösen Kräfte mitten in die Europäische Union holen, dass das auch die EU selbst gefährdet?

    Trittin: Noch mal: Ob sich diese Kräfte in der Türkei so durchsetzen, das ist ein Teil des Prozesses und der offenen Fragen, die an dieser Stelle da sind. Beitrittsperspektive heißt nicht, dass die Türkei heute alle Voraussetzungen dafür erfüllt hat.

    Armbrüster: Heißt das, wenn die Aussichten auf eine Mitgliedschaft positiver werden, dann werden die religiösen Kräfte in der Türkei ins Hintertreffen geraten?

    Trittin: Ich glaube, dass wir gerade in der Türkei erlebt haben, dass diese Gesellschaft sich sehr stärker in Richtung weltliche Entwicklung entwickelt hat, dass sie sich umfassend modernisiert hat, und das, was man da zum Teil beobachtet an Entwicklungen, sind teilweise Reaktionen auf einen erfolgreichen Modernisierungs- und Öffnungsprozess dieser Gesellschaft. Wie der ausgeht, kann Ihnen heute niemand prophezeien. Deswegen sagen wir, man hält sich an das, was man vereinbart hat, nämlich einen Entwicklungsprozess mit einer Beitrittsperspektive, und macht nicht durch eigene Handlungen - wie heißt das so schön? - "self fullfilling prophecy", sich selbst erfüllende Prophezeiung. Das wäre, wenn man von Europa aus den Annäherungsprozess der Türkei an Europa jetzt abbricht.

    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag und zuständig für außenpolitische Fragen. Vielen Dank für das Gespräch, Her Trittin.

    Trittin: Danke Ihnen!