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Ungeheuerliche Authentizität

Es gibt Bücher, die möchte man wieder weglegen, bevor man sie aufgeschlagen hat – ein solches ist der schmale Band "Der Kommandant" von Jörg Amann - ein Monodrama in 16 Stationen, das seine Ungeheuerlichkeit aus der nahezu absoluten Authentizität bezieht. Bettina Hess spricht mit dem Autor darüber.

Von Bettina Hesse | 20.06.2011
    Es gibt Bücher, die möchte man wieder weglegen, bevor man sie aufgeschlagen hat – ein solches ist der schmale Band "Der Kommandant" von Jörg Amann. Grafisch ist der Titel wie die Inschrift über dem Tor des KZ Auschwitz gestaltet, und als Gattungsbezeichnung führt es auf dem weißen Umschlag den Begriff Monolog – ursprünglich war er als Text für einen Schauspieler gedacht. Nun ist "Der Kommandant" ein Monodrama in 16 Stationen, das seine Ungeheuerlichkeit aus der nahezu absoluten Authentizität bezieht.
    Zugrunde liegen dem Text die Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß – ein 300 Seiten eng bedrucktes Dokument aus dessen Zeit in der Krakauer Untersuchungshaft nach Kriegsende –, die Jürg Amann dramaturgisch soweit strukturiert und verknappt hat, bis das erschütternde Selbstzeugnis auf seine Essenz reduziert wird.
    "Nichts ist erfunden, kaum ein Wort hinzugefügt", schreibt Amann in der editorischen Notiz, die er mit der Behauptung beginnt: "Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön." Ob die Radikalität dieser Aussage zulässig ist und das literarische Vorgehen rechtfertigt, ist eine Frage, die mit dem konkreten Anlass für den Text zu tun hat: Er entstand als Reaktion auf den Roman "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell. Ist diese Methode eine Antwort auf die Obszönität der literarischen Fiktionalisierung eines solchen Themas?

    "In diesem Fall Ja, das war natürlich ein Glücksfall, in dem Moment als die 'Wohlgesinnten' auf den Markt kamen, regte sich in mir eine Form von innerer Empörung, dass man überhaupt den Versuch unternehmen kann, sich in das Unnachvollziehbare einzufühlen, in das wirklich menschlich nicht mehr Denkbare einzudenken, und in fiktiv-romanesker Form sich einem Nazitäter affirmativ zu nähern; da haben sich mir die inneren Haare irgendwie gesträubt, und ich habe sofort den Impuls verspürt, darauf zu reagieren ... Da ich als Schweizer jetzt nicht sozusagen selbstverständlich mit dem Thema vertraut war, musste ich mir dazu erst mal einen Horizont anlesen, und beim Anlesen dieses zeitgeschichtlichen Horizonts bin ich auf dieses Original-Material von Höß gestoßen."

    Amann folgt in seiner Bearbeitung eng der Chronologie des Originaltextes, der mit einigen alten Formulierungen deutlich durch die Straffung hindurchscheint. Höß' Kindheit und Jugend ist unauffällig. Aus einem tief katholischen Elternhaus kommend, soll er Priester werden, doch als sein Beichtvater das Beichtgeheimnis verletzt, wendet er sich vom Glauben ab. Er hat zwei Schwestern, neigt zum Einzelgängertum und ist sehr tierlieb. Als 15-Jähriger zieht es ihn in den Krieg, mit 17 ist er der jüngste Unteroffizier des Heeres und wird mit dem Eisernen Kreuz Eins ausgezeichnet. Die ersten Stationen seines Lebens sind von der soldatischen Kameradschaft geprägt. Nach Kriegsende meldet sich Höß zu den Freikorps und geht wieder als Soldat ins Baltikum, wo er grausame Kriegserfahrungen macht.

    "Ich glaubte damals, dass es eine Steigerung menschlichen Vernichtungswahns nicht mehr geben kann."

    In den Freikorps entsteht eine Art Selbstjustiz. Im Zusammenhang mit der Hinrichtung eines Verräters wird Höß zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Nach sechs Jahren Haft schließt er sich dem Bund der Artamanen an, eine junge, national denkende Zurück-zur-Natur-Bewegung; er geht ins abgeschiedene Pommern, um dort mit Frau und später drei Kindern ein hartes Landleben zu führen. Erst Himmlers Aufforderung, in die aktive SS einzutreten, weckt 1934 in ihm den alten Wunsch nach dem "Wieder-Soldat-Werden". Er soll zur Wachtruppe in ein Konzentrationslager gehen, der Begriff Konzentrationslager ist ihm unbekannt. Er kommt nach Dachau, wo er auf eine 'einfache' Prügelstrafe an einem Häftling mit extremer Schauer und Abscheu reagiert. Die Blockführer empfindet er als roh und gewalttätig, ihre Missachtung der Häftlinge, die für sie keine Menschen sind, beunruhigt ihn innerlich zutiefst.

    "Und hier beginnt eigentlich meine Schuld."

    Eine Schuld, die Höß darin sieht, den Dienst im Konzentrationslager nicht sofort quittiert zu haben, als er einsah, nicht geeignet zu sein, weil er zu viel Mitleid mit den Häftlingen hatte.

    "Umso erstaunter war ich, mit welcher Pflicht, geradezu Besessenheit er akribisch, fast buchhalterisch darüber Rechenschaft ablegt, wie es zu ihm, so wie er geworden ist, gekommen ist, einerseits, und wie er dann aus dem Nichts, sozusagen, im Auftrag Himmlers diese größte Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten, wie er es selber nennt, aufgebaut hat, und eben zu immer höherer Effizienz getrieben hat. Und das hat mich so überrascht, auch erstaunt gemacht, fast auch entwaffnet wiederum, dass ich eine gewisse Form von Nähe zu diesem Vorgang entwickeln konnte, natürlich nicht zum Inhalt des Geschriebenen, aber dazu, dass ein Mensch bereit ist, in so unschuldiger Form eine Selbstdenunziation zu veranstalten, das hat mich schon umgehauen."

    Und wie lässt sich das, was passiert ist, durch die Anlage einer solchen Persönlichkeit erklären?

    "Ich glaube, letztlich ist das nicht zu erklären, das ist ja vielleicht auch gut so, dass wir das nicht erklären können, dass es sich da offensichtlich auch um eine menschliche, in Anführungszeichen, 'Möglichkeit' handelt. Ich hab auch bei der Bearbeitung des Stoffes natürlich immer wieder mich selbst hinterfragt, wäre ich nicht von Station zu Station auch verführbar oder fehlleitbar gewesen."

    Höß, der behauptet die Juden nie gehasst zu haben, spricht von "Streiflichtern", um zu sagen, dass er nur Ausschnitte aus dem Gesamt des ungeheuren Vorgangs schildert. Das Ausmaß der Vernichtung übersteigt selbst die Dimension eines Massenmörders.
    Könnte man bei ihrem Text von einem authentischen Realismus sprechen?

    "Ich bin ja zum Glück wirklich nicht der Autor dieses Inhalts, sondern nur dieser Form. Aber insofern ist es natürlich trotz allem, wenn wir von zwei Polen ausgehen, viel näher bei der Authentizität als die Erfindung eines Jonathan Littell, weil ich mich einfach wirklich beschränke auf die Selbstsicht eines Massenmörders und man kann nicht sagen, er hätte beschönigt."

    Methodisch geht Jürg Amann in seinem Werk oft von einer realen Begebenheit, von einer Nachricht oder Zeitungsnotiz aus, zu nennen wären die 'Pornografische Novelle', 'Liebe Frau Mermeth' und 'Die Reise zum Horizont'. Nach der Radikalität – im doppelten Wortsinn –, mit der Sie sich im Kommandanten an das Original halten und die Methode auf die Spitze treiben, ist eigentlich keine Steigerung mehr möglich.

    "Sie haben jetzt drei Dinge erzählt, die wirklich eine Steigerung sind, von der Notiz der aufgeschlitzten Frauenleiche im Bahnhofshotel über den Kannibalismus als einzige Überlebensmöglichkeit bis hin zum selbst Gewählten, das ist ja die Steigerung, dort war es nur ein Unfall, hier ist es die selbst gewählte Lebensmöglichkeit, nämlich die Vernichtung der anderen. Das ist schon auf die Spitze getrieben, also weiter kann ichs nicht mehr treiben, und ich muss sagen, ich bin auch froh darüber, dass jetzt das Ende der Fahnenstange in der Beziehung erreicht ist."

    Ähnlich ergeht es einem beim Lesen des Kommandanten. Die schlicht, aber genau erzählte Lebensgeschichte von Rudolf Höß, seine innere Rätselhaftigkeit, entwickelt jedoch, gerade aufgrund seiner nicht mehr zu hinterfragenden Authentizität, eine ungeheure Kraft. Nicht zuletzt durch Amanns Methode des Zusammenschneidens, was die Literatur gewissermaßen auf ihren Wahrheitsgehalt zurückführt.
    Wenn Sie mit dieser literarischen Methode, einer Art Defiktionalisierung, innerhalb Ihres Werkes an einen Endpunkt angelangt sind, wie geht es dann weiter?

    "Anschließend macht man zum Beispiel 'Die Briefe der Puppe', um sich von so etwas radikal Bösen auch wieder zu lösen ... In dieser kleinen Brieferzählung, 'Die Briefe der Puppe', habe ich aus einer Episode, die verbrieft ist, habe ich einem Autor, der für mich immer eine Leitfigur war, Franz Kafka, der nicht gerade für das menschlich Warme steht, eine warme Seite abgewinnen können, die mich ja selber überrascht hat und die mich dann eben zum Schreiben gebracht hat. Also Sie sehen, vielleicht bin ich gerade im Moment dabei, mich wieder zu erholen von dieser auf die Spitze getriebenen, eben auch menschlichen Möglichkeit. Ich bin, glaube ich, schon grundsätzlich als Schriftsteller einer, der sich für die Grenze des Menschlichen interessiert, der also im Grunde, um es mit dem Horizontbegriff noch mal zu vereinen, der also die Grenzverschiebungen des menschlichen Horizonts vermisst. Das kann man allgemein sagen. Aber jetzt bin ich so weit ins eine Extrem gegangen, dass ich vielleicht dazu neige, wieder auf die andere Seite hinüberzupendeln."

    Jürg Amann: "Der Kommandant." Monolog. 112 Seiten. Arche Verlag, 14 Euro