Donnerstag, 28. März 2024

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Ungemütlich

So richtig ernst genommen wird er nicht. Der Provencale Alphonse Daudet gehört zu den Schriftstellern, die vom französischen Literaturbetrieb allenfalls belächelt werden. Natürlich, so der Gestus, sind die volkstümlichen Geschichtchen aus der Provence das Schmuckeste und vielleicht auch Herzhafteste, was die französische Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu bieten hat. Denn wo findet man – in diesem grauen Zeitalter der Industrie, Maschinen und Spekulanten - noch so viel Herz , gute Laune und Lokalkolorit wie in den nach Lavendel duftenden Büchern des

24.02.2004
    Südfranzosen. In den apokalyptischen Romanen eines Emile Zola jedenfalls nicht. Und auch nicht in den Büchern des geldbesessenen Balzac. Vom pessimistischen Flaubert ganz zu schweigen.

    Und dennoch: so populär sie auch sein mögen, diese liebenswürdigen Dorfgeschichten mit ihrem Grillengezirpe reichen –in den Augen strenger Literaturkenner- lange nicht aus, um Daudet einen eigenständigen Platz zu sichern neben den Monumenten des französischen Kulturstolzes: Hugo, Balzac und Zola. Anders als diese, ist Alphonse Daudet ist kein Epiker. Ihm fehlt der lange Atem eines Hugo. Seine Bücher sind kleinteilig und provinziell. Ja selbst, wenn sie breit angelegt sind, zerfallen seine Romane in biedermeierlich anmutende Miniaturen und lächerlich mikroskopische Episoden. Gemessen an den gigantischen Gewaltmärschen eines Zola, nehmen sich die charmanten Stücke aus der Provence gemütlich und behäbig aus. Alphonse Daudet, ein Kleinmeister des Pittoresken.

    Soweit jedenfalls das heute in Frankreich gepflegte Klischee. Ganz anders in England. Für die Engländer ist Daudet ein brillanter Dichter, der von seinen Landsleuten unfairerweise als Stiefkind behandelt wird. Allen voran Julian Barnes. Als der englische Schriftsteller vor ein paar Jahren in den Archiven der Pariser Bibliothèque Nationale stöberte, entdeckte er zufällig ein bislang unveröffentlichtes Manuskript Daudets.

    La Doulou - so der provenzalische Originaltitel - zu deutsch "Der Schmerz" - ist ein verwirrendes Buch. Eine irritierende Aneinanderreihung von scheinbar unzusammenhängenden Fragmenten und Episoden. Eine Abfolge von medizinischen Beobachtungen, Traumsequenzen und rinnerungsfetzen, die sich im ersten Überfliegen zu keiner Handlung zusammenschließen wollen. Einen roten Faden scheint es nicht zu geben, wohl aber ein Leitmotiv: Der Schmerz durchzieht das gesamte Buch. Alphonse Daudet litt an der Syphilis. Zunächst schleichend, bald aber mit unverhohlener Brutalität ergriff die Krankheit Besitz von seinem Körper. Zu einem Zeitpunkt, da er um seinen sicheren Tod wusste, entschloss sich Daudet dann in den wenigen schmerzfreien Momenten, die ihm das Morphium vergönnte – dieses Buch zu schreiben.

    Das liegt nun mehr als 100 Jahre zurück. Und "La Doulou" wäre ganz sicher in der Versenkung geblieben, hätte sich der Engländer Julian Barnes nicht sofort daran gemacht, den Roman ins Englische zu übersetzen. Unter dem Titel "The Land of pain" veröffentlicht, wurde das Buch, von der englischen Presse als literarische Entdeckung gefeiert. Erst über diesen Umweg kehrte Daudet Daudet dorthin zurück, wo er usprünglich hingehörte: nach Frankreich. Verwundert rieben sich die Franzosen die Augen und beeilten sich, das unfreiwillig abgeschobene Stiefkind in die Heimat zurückzuholen. Allerdings ganz lieblos und pflichtschuldig. Der Verlag "Les éditions des Mille et une Nuits" rang sich offenbar nur widerwillig dazu durch, "La Doulou" herauszubringen. Denn was dabei herauskam, ist ein grottenhässliches Wergwerfbuch für gerade mal drei Euro.

    Genau das Richtige um schlaflose Nächte möglichst schnell hinter sich zu bringen. So jedenfalls das Konzept dieser Reihe, die nicht von ungefähr auf den sprechenden Namen Les editions des Milles et une Nuits, hört, der "Verlag der 1001 Nächte". Dass das Buch zum schnellen Konsum gedacht war, wäre halb so schlimm, hätten die Herausgeber den Text wenigstens vollständig abgedruckt. Doch stattdessen haben sie ihn aus unerfindlichen Gründen derart zurechtgestutzt, dass das lieblos angeklatschte Nachwort umso berechtigter erscheint. Daudet – so der Tenor des
    Schlusskommentars - habe sich eben auf das miniaturhafte Genre spezialisiert. Das Entwerfen größerer Erzählzusammenhänge habe ihm einfach nicht gelegen. Fast entschuldigend bittet der Kommentator um Nachsicht. Denn "La Doulou" sei nichts anderes als ein Tagebuch, kein literarisches Werk, sondern ein unter Schmerzen entstandener Krankenbericht.

    "Nicht Daudet, sondern der Schmerz führte die Feder" ergeht sich der Kommentator im herablassenden Gefühlskitsch. Dass Daudet weder Entschuldigung noch Schutz braucht, wird erst durch schön gebundene deutsche Ausgabe deutlich, die jetzt beim Manholt Verlag erschienen ist. Fast glaubt man ein anderes Buch zu lesen. Zum einen offeriert es den Text ungekürzt und ist von Dirk Hemjeoltmanns glanzvoll übersetzt. Zum anderen verfügt es über ein aufschlussreiches Vorwort. Kein anderer als Julian Barnes, der Entdecker des Originals, bereitet den Leser auf ein großes Stück Literatur vor, auf einen in sich abgerundenen Textkörper, der durchaus ein Ganzes bildet. Konsequent verzichtet der Übersetzer und Herausgeber der deutschen Ausgabe auf
    die zwischen den einzelnen Passagen eingeschobenen Sternchen, die den französischen Text so auseinander reißen. Stattdessen trennen Leerzeilen die Episoden klar voneinander, ohne ihren geheimen Zusammenhalt zu zerstören. Dadurch wirkt der Text flüssiger, ja wie aus einem Guss gestaltet.

    Und liest man ihn auch so, dann scheint sich aus den einzelnen Episoden, so disparat sie auch sein mögen, tatsächlich ein großes, zusammenhängendes Ganzes zu formen: ein Krankenbericht, der in poetischen Assoziationen fortschreitet. In regelmäßiger und fast rythmischer Abfolge wechseln sich nüchterne, medizinische, und naturalistisch-wissenschaftlich anmutende Beobachtungen mit poetischen Traumsequenzen und delirienhaften Szenen ab. Manchmal sind die Sätze stakkatohaft, die Sprache verkürzt und die Syntax reduziert. Dann lässt sich Daudet zur freien Erfindung phantastischer Traumbilder hinreißen. Das Ganze ist im Präsens geschrieben- wie in Guys de Maupassants Novelle "Le Horla", einem fiktiven Krankenbericht. Durch diesen Kunstgriff wirkt der Text unmittelbarer, spontaner und auch dramatischer.


    Dass Daudet die kunstvollen Bildern mitten in einer Krise schöpfte, ist schwer zu glauben. Überhaupt hat das Buch nur wenig mit einem Tagebuch gemein. Vielmehr verrät die Konstruktion den starken Formenwillen eines Schriftstellers, der gegen den Tod anschrieb. "Was machen Sie? Ich leide" heißt es lapidar am Anfang des Buches, ganz so als sei das Leiden für Daudet eine aktive Handlung. Und tatsächlich ist der Daudet nicht gewillt den Schmerz passiv hinzunehmen. Vielmehr ist er ihm ästhetische Herausforderung. Kraft seiner Imaginationskraft transformiert er immer wieder die physischen Schmerzen in poetische Bilder, die er wie in einem Bewusstseinsstrom in Assoziationsketten aneinanderreiht.

    So empfindet der Erzähler zum Beispiel gleich am Anfang des Buches ein krankheitsbedingtes Übelkeitsgefühl, das ihm wenige Seiten später zur Seekrankheit mutiert, und ihn anschließend von Schiffen und fernen Reisen träumen lässt. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass der Schmerz Daudet unerahnte Welten eröffnet – wie das Opium in Thomas de Quinceys "Bekenntnisse eines Opiumsessers". Ein Beispiel: Um die Syphilis zu bekämpfen, unterzog sich Daudet der sogenannten Seyre-Methode, die darin bestand, den Patienten aufzuhängen. Eine ebenso bizarre wie schmerzhafte Prozedur, die Daudet als "Tortur" empfand, und die ihn offensichtlich an die Qualen von Christus am Kreuz erinnerte –und mehr noch: ihn das Leiden Christi nachempfinden ließ:

    Il Crociato. Die Kreuzigung, ja, das war es, in der letzten Nacht. Die Marter des Kreuzes, Verdrehung der Hände, der F´ße, der Knie, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Der grobe Strick läßt den Körper bluten, Lanzenstiche in die Seiten. Um meinen Durst zu lindern, ein Löffelvoll Brom mit dem Geschmack nach bitterem Salz auf meine brennende Lippen, die aufgesprungen, ausgtrocknet, vom Fieber verkrustet sind: Es war war der mit Essig unfd Galle befeuchtete Schwamm.

    Immer wieder stilisiert sich Daudet zum literarischen, historischen oder mythologischen Helden. Die Überhöhung seines Leidens ins Heroisch-Erhabene wirkt dabei umso grotesker, als Daudet seine Krankheit mehrfach als banal, gewöhnlich und sogar langweilig bezeichnet. Und tatsächlich lösen solche skurrilen Leidensbilder auch beim Leser gemischte Gefühle aus –an der Grenze zwischen Tragik und Komik. Ähnlich ist es in folgendem Beispiel. Die durch akute Atemnot zusammenpresste Brust erweckt in Daudet das Bild, in einem Harnisch zu stecken. Dieser lässt ihn schnurstracks an Don Quichotte denken, den ebenfalls körperlich hinfälligen Ritter von der traurigen Gestalt, dessen Heroismus in der bewussten Negierung seiner erbärmlichen Existenz liegt:

    Jeden Abend fürchterliche Thoraxspasmen. Ich lese lange, im Bett sitzend – die einzige erträgliche Position; armer verwundeter Don Quichotte, auf dem Hintern in seiner Rüstung, am Fuß eines Baumes. Nur noch Rüstung, grausam um die Lenden mit einer stählernen Gürtelschnalle gepresst – Glutdorn, spitz wie Nadeln. Dann das Chloral, das Klappern meines Löffels im Glas, das Ausruhen. Monate lang hält mich dieser Harnisch fest, den ich nicht habe loswerden können, kein Durchatmen.

    Wie immer man "Im Land der Schmerzen" auch deuten mag, eines ist jedenfalls sicher. Diese Poetik des Schmerzes hat mit dem überkommenen Bild vom braven Daudet nichts mehr gemein. Zu diesem Eindruck passt auch das Ende des Buches. Es läuft rätselhaft ins Offene aus, wie eine Frage. Und egal, ob dies gewollt oder der schlichten Not der Umstände geschuldet ist , mit diesem Buch tritt ein anderer Daudet in den Kreis der großen französischen Schriftsteller des Fin de Siècle, kein
    gemütlicher Erzähler, sondern ein moderner Autors avant la lettre.

    Alphonse Daudet
    Im Land der Schmerzen
    Manesse, 102 S., EUR 17,-