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"Unglaube ist der erste Schritt zur Philosophie"

Der Autor Denis Diderot war eine der bedeutendsten Figuren der französischen Aufklärung. Zusammen mit d’Alembert gab er die große "Encyclopédie" heraus, die insgesamt 72.000 Artikel umfasste. Zu seinem 300. Geburtstag begeben wir uns auf die literarische Spur des großen Aufklärers.

Von Dagmar Lorenz | 03.10.2013
    "Ich: ‚Ihr unterwieset, sagtet Ihr, in der Begleitung und Tonsetzung?‘
    Er: ‚Ja.‘
    Ich: ‚Und wusstet gar nichts davon?‘
    Er: ‚Nein, bei Gott! Und deswegen waren jene viel schlimmer als ich, die sich einbildeten, sie verstünden was.‘
    Ich: ‚Wie machtet Ihr das aber?‘
    Er: ‚Wie sie’s alle machen. Ich kam, ich warf mich in einen Stuhl. Was das Wetter schlecht ist! Wie das Pflaster ermüdet! Dann kam es an einige Neuigkeiten: Mademoiselle Lemierre sollte eine Vestalin in der neuen Oper machen: Sie ist aber zum zweiten Mal guter Hoffnung, man weiß nicht, wer sie doublieren wird. Mademoiselle Arnould hat ihren kleinen Grafen fahren lassen. […] Frisch, Mademoiselle, Ihr Notenbuch! - Und indem Mademoiselle sich gar nicht übereilt, das Buch sucht, das sie verlegt hat, man das Kammermädchen ruft, fahre ich fort.‘

    Unterdessen hatte man das Notenbuch unter einem Sessel gefunden, wo es ein kleiner Hund, eine kleine Katze herumgeschleppt, zerkaut, zerrissen hatte. Nun setzte sich das schöne Kind ans Klavier, nun machte sie erst allein gewaltigen Lärm darauf. Ich nahte mich dann und machte der Mutter heimlich ein Zeichen des Beifalls. - Nun, das geht so übel nicht, sagte die Mutter, man braucht nur zu wollen; aber man will nicht, man verdirbt lieber seine Zeit mit Schwätzen, Tändeln, Auslaufen und mit Gott weiß was. […] Unterdessen, da doch etwas geschehen musste, so nahm ich ihr die Hände und setzte sie anders. Ich tat böse, ich schrie: ‚Sol, sol, sol, Mademoiselle, es ist ein sol!‘

    So ging die Stunde vorbei. Meine Schülerin reichte mir die Marke mit anmutiger Armbewegung, mit einer Reverenz, wie sie der Tanzmeister gelehrt hatte. Ich steckte es in meine Tasche. […] Ich schwatzte noch einen Augenblick der Schicklichkeit wegen, dann verschwand ich und das hieß man damals ‚eine Lektion in der Begleitung.‘"


    Der sich hier so virtuos als Musiklehrer durchschwindelt, ist nicht etwa der große Komponist und Musiktheoretiker Jean Philippe Rameau, von dem diese Cembaloklänge stammen - es ist vielmehr der kleine Rameau, genauer gesagt: Rameaus Neffe, die fiktive Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Denis Diderot: übersetzt und erstmals herausgegeben von Johann Wolfgang von Goethe. Diderot siedelt seinen Roman in der eigenen Gegenwart an, in der Regierungszeit Ludwigs des Fünfzehnten - und an einem inspirierenden Ort.

    "Es mag schönes oder hässliches Wetter sein: Meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall, um fünf Uhr abends im Palais Royal spazieren zu gehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d’Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst, von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie, und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder töricht."

    Goethes Einfluss wird bis in die Moderne sichtbar
    Goethe war ein Bewunderer von Diderot. (picture alliance / dpa / Ian Langsdon)
    Das Leben und Überleben in der besseren Pariser Gesellschaft
    Das Palais Royal, ursprünglich ein königlicher Palast, war mit seinen Innenhöfen und Außenanlagen ein Brennpunkt städtischen Lebens. In den umliegenden Cafés trafen sich Schachspieler und Schauspieler, vor allem aber die Intellektuellen. Und so verwundert es kaum, dass der Erzähler in Diderots Roman ausgerechnet hier eben diesem kleinen Neffen des großen Komponisten Rameau begegnet.
    "Eines Nachmittags war ich dort, beobachtete viel, sprach wenig und hörte so wenig als möglich, als einer der wunderlichsten Personen zu mir trat, die nur jemals dieses Land hervorbrachte […]. Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn; die Begriffe von Ehrbarem und Unehrbarem müssen ganz wunderbar in seinem Kopf durcheinander gehen: Denn er zeigt, was ihm die Natur an guten Eigenschaften gegeben hat, ohne Prahlerei, und was sie ihm an schlechten gab, ohne Scham."

    Dieser seltsame Kauz verwickelt den Erzähler in ein Gespräch: über das Leben und Überleben in der besseren Pariser Gesellschaft, über die schönen Künste und ihre Herabwürdigung als Mittel zum bloßen Eigennutz, über die Eitelkeiten und Intrigen in adligen und bürgerlichen Milieus - und nicht zuletzt über die Heuchelei und Bigotterie einer Elite, die zwar vorgibt, sittlichen Werten zu folgen, aber in Wahrheit ebenso käuflich ist, wie diejenigen, die von ihr abhängen. Und abhängig ist nicht zuletzt auch der kleine Rameau, der seine Meinungen, Standpunkte und Überredungskünste bedenkenlos an jeden verkauft, der ihm ein Mittagessen spendiert, die Miete für sein Zimmer bezahlt oder das Honorar für einen Musikunterricht, der nie stattfindet.

    Dabei verfügt dieser Bohémien durchaus über Geist und Begabung: Er hat das Talent zum Musiker - doch im Gegensatz zu seinem großen Onkel stellt er es nicht in den Dienst der Kunst, sondern nutzt es ausschließlich, um seine egoistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Mit scharfem Verstand durchschaut er die Spielregeln der Gesellschaft - doch er gebraucht dieses Wissen nicht etwa in menschenfreundlicher, sondern in manipulativer Weise: was er auch offen zugibt, ja rechtfertigt, denn: Handeln denn nicht alle so? Dieser fiktive Neffe ist ein "moralisches Monster", wie spätere Interpreten immer wieder bemerkt haben - aber, so betont der Ich-Erzähler im Roman, eines, das bei seinem Gesprächspartner aufschlussreiche Erkenntnisse zutage fördert.

    "Kommt ein solcher in eine Gesellschaft, so ist er ein Krümchen Sauerteig, das das Ganze hebt und jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückgibt. Er schüttelt, er bewegt, bringt Lob und Tadel zur Sprache, treibt die Wahrheit hervor, macht rechtliche Leute kenntlich, entlarvt die Schelme, und da horcht ein Vernünftiger zu und sondert seine Leute."

    Vernunft gegen die Triebe
    Diderots Roman ist ein Dialog zwischen einem "Ich" - dem Erzähler - und einem "Er": eben dem Neffen des großen Rameau. Der "Ich"-Erzähler tritt als Vertreter jener geistigen Spezies auf, die man in jener Epoche als philosophe bezeichnete: als jemanden, der sich die Vernunft als oberste Instanz für sein Urteilen und Handeln gewählt hatte - was die Opposition gegen Vorurteile, religiösen Aberglauben und unkontrollierte Emotionalität mit einschließt.

    "Die anderen Menschen lassen sich durch ihre Leidenschaften hinreißen, ohne dass den Handlungen, die sie ausführen, die Überlegung vorausgeht."

    … heißt es in der berühmten von Diderot herausgegebenen "Enzyklopädie" unter dem Stichwort "philosophe". Und weiter:

    "Solche Menschen gehen ihren Weg in der Finsternis, wogegen der ‚philosophe‘ immer, auch in seinen Leidenschaften, erst aufgrund einer Überlegung handelt. Er sucht den Weg in der Nacht, aber ihm leuchtet eine Fackel voraus."
    Diesem vom Geist der Aufklärung und der Hoffnung auf die Einsichtsfähigkeit des Menschen geleiteten Intellektuellen stellt Diderot in seinem Roman den amoralischen Zyniker entgegen. Rameaus Neffe, der deklassierte Künstler, der sich sein Mittagessen tagtäglich mit mehr oder minder entwürdigenden Tricks verdient, zerpflückt all die Werte und Tugenden, von denen der aufklärerisch gesinnte philosophe hofft, dass sie sich irgendwann einmal durchsetzen werden, wenn der Mensch gelernt haben würde, sich seines Verstandes zu bedienen und seine kurzsichtigen Egoismen hinter sich zu lassen.

    Das Ethos der Aufklärung verheißt die Befreiung des Menschen qua Vernunft und Wissen aus selbst verschuldeter Beschränktheit. Wie sich dieses Ethos zu einer Realität verhält, die den Gebrauch der Vernunft scheinbar nur zu ausschließlich strategisch-instrumentellen Zwecken zulässt, lotet Diderot in "Rameaus Neffe" aus. Dass sein Text allerdings mehr ist als ein abstraktes Gedankenexperiment, zeigen keineswegs nur die zahlreichen historisch nachweisbaren Personen und Bezüge, auf die er anspielt. Auch die existenzielle Situation des bohemienhaften Neffen war Denis Diderot aus persönlicher Erfahrung wohlbekannt - zählte der Autor doch einst selbst zu jenen Literaten, die sich im vorrevolutionären Paris durchzuschlagen suchten.

    Von den Jesuiten erzogen
    Geboren am 5. Oktober 1713 in Langres, Region Champagne-Ardenne, als Sohn eines angesehenen Messerschmieds, wurde der wissbegierige Junge zunächst in das Jesuitenkolleg in Langres gegeben, wo er den niederen geistlichen Rang eines Abbés erhielt. Als sich die Pläne seiner Familie auf eine geistliche Karriere in der Provinz zerschlugen, übersiedelte er bereits als Fünfzehnjähriger nach Paris, um dort weiterzustudieren. Er erwarb erste Abschlüsse, arbeitete zeitweise als Anwaltsgehilfe, bevor er seine Stelle kündigte und ihm der Vater jede weitere finanzielle Unterstützung verweigerte.

    Junge, gebildete Leute in ähnlicher Lage gab es zuhauf im Paris jener Epoche: Da sie weder adlig noch wohlhabend waren, konnten sie sich kaum Hoffnung auf ein einträgliches Amt machen und verdingten sich daher als Lohnschreiber, Theaterautoren und -kritiker, Kopisten, Reden- und Zeitungsschreiber, Verfasser verbotener pornografischer Literatur - oder, was in den Augen der königlichen Zensurbehörden noch bedenklicher war: Manche von ihnen verfassten politische Schriften, in denen Kirche und Religion verspottet und königliche Würdenträger kritisiert wurden. Dabei verdankten sich beileibe nicht alle dieser aufrührerischen Bücher und Pamphlete dem Mut und der ehrlichen Überzeugung ihrer Verfasser. Mit verbotener Untergrundliteratur ließ sich ebenso gutes Geld verdienen, wie mit erotischen Geschichten.

    Und so mancher mittellose Literat spitzte seine Feder im Auftrag hochgestellter adliger Persönlichkeiten, die durch ein Flugblatt, ein gefälschtes Briefchen oder ein in Umlauf gebrachtes Gerücht den Ruf ihres jeweiligen Konkurrenten um Macht und Einfluss bei Hofe schädigen wollten. Bei all dem freilich hatte man als mittelloser Schreiberling die Verfolgung durch die königliche Polizei zu fürchten - wenn man sich nicht gleich als Polizeispitzel zur Verfügung stellte, der in Kneipen, Cafés und Spelunken wirkliche oder vermeintliche Aufrührer belauschte.

    Aus der anonymen Masse dieser Kleinliteraten aufzutauchen, in die tonangebenden Salons und Debattierzirkel eingeladen zu werden, gar dereinst akademische Ehren einzuheimsen - oder wenigstens eine solide bürgerliche Existenz führen zu können: Davon träumte vermutlich nahezu jeder Angehörige dieses seltsamen Prekariats, das der gesellschaftlich längst arrivierte Aufklärer Voltaire einmal verächtlich die "Kanaille der Literatur" nannte.

    Zu diesen Bohémiens gehörte Denis Diderot in den 1730er-Jahren. Auch er schrieb Predigten für Geistliche, arbeitete zeitweise als Hauslehrer, verfasste Artikel für Zeitschriften und begeisterte sich nicht nur für das Theater, sondern auch für die Mathematik. Er besuchte Vorlesungen in Medizin, Anatomie und später auch Chemie, lernte Englisch und übersetzte ein medizinisches Fachlexikon, aber auch Schriften des englischen Aufklärers Shaftsbury. Daneben knüpfte er Kontakte und Freundschaften: zum Mathematiker D’Alembert, zu Jean-Jacques Rousseau, der wiederum die Bekanntschaft mit dem aufklärerischen Erkenntnistheoretiker Abbé de Condillac vermittelte.

    Diese kreative und kommunikative Atmosphäre wurde zudem noch befeuert durch Lektüren, welche die Autoren des englischen Empirismus, wie etwa John Locke, ebenso umfasste, wie Lawrence Sternes Roman "Tristram Shandy", dessen Spuren sich auch in Diderots "Rameaus Neffe" finden. Diderot setzte sich mit der italienischen Oper ebenso auseinander wie mit den Naturwissenschaften, sprachtheoretischen Problemen und den Fragen von Macht und Herrschaft.

    Jean-Jaques Rousseau gemalt von Maurice-Quentin La Tour
    Jean-Jaques Rousseau, gemalt von Maurice-Quentin La Tour. (Wikipedia)
    Vernunft statt Glauben
    Wenn dieser ehemalige Seminarist bei seiner Ankunft in Paris noch nicht vom Geist der Aufklärung inspiriert gewesen sein sollte - die Rezeption solcher Wissensbestände spätestens mussten ihn zum Adepten der Aufklärung machen. Die Gegenstände des neuen Wissens ließen sich längst nicht mehr mit dem Kirchenglauben seiner Zeit und den aus Überlieferung, althergebrachter Gewohnheit und religiös begründeter Legitimität abgeleiteten Urteilen und Erkenntniskategorien fassen. Es galt, sich, frei nach Kant, des eigenen Verstandes zu bedienen, die Vernunft statt des Glaubens als höchste Berufungsinstanz in ihr Recht zu setzen.

    Derartige Überlegungen schlagen sich in den Werken nieder, die Denis Diderot in jenen Jahren verfasste: Neben einem Buch mit dem Titel "Spaziergang eines Skeptikers" ein weiteres Werk mit dem Titel "Philosophische Gedanken", in dem der Autor einen Christen, einen Skeptiker, einen Atheisten und einen Deisten auftreten und miteinander streiten lässt: Dass dabei Witz und Ironie nicht zu kurz kommen, versteht sich bei diesem Verfasser fast schon von selbst. Das Buch erschien ohne Autorennamen und wurde unter dem Ladentisch verkauft - woraufhin der Pariser Gerichtshof erwartungsgemäß reagierte und noch im Jahr seines Erscheinens - 1746 - die Verbrennung des Buches anordnete, mit der Begründung, dieses Werk biete …

    "… unruhigen und vermessenen Gemütern das Gift der frevlerischsten und widersinnigsten Meinungen, zu deren Verderbtheit der menschliche Verstand fähig ist; mit vorgetäuschter Unentschiedenheit werden alle Religionen auf dieselbe Stufe gestellt, so dass schließlich keinerlei Religion anerkannt wird."

    Was im absolutistischen Frankreich, in dem der Katholizismus Staatsreligion war, tatsächlich skandalös anmutete, den illegalen Verkauf des Buches aber nur noch mehr förderte. Auch hatte das Urteil selbst zunächst keine weiteren Folgen für seinen Autor, der nun im Begriff war, sich einen Ruf zu erschreiben. Und Diderot verfasste bald weitere skandalöse Bücher: 1748 einen nicht gerade intellektuell anspruchsvollen, aber dafür schlüpfrigen erotischen Roman unter dem Titel "Die indiskreten Kleinode", sowie eine 1749 ebenfalls anonym publizierte Schrift, betitelt mit "Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden". Einige Pariser Ärzte hatten in diesen Jahren Augenoperationen an blind geborenen Patienten durchgeführt - was in den Kreisen der städtischen Intellektuellen zu einer Debatte darüber führte, auf welchen Grundlagen die menschliche Wahrnehmung beruhe.

    Ein konsequenter Materialismus
    Diderot nahm diese Debatte zum Anlass, die These aufzustellen, dass nicht nur die visuelle Vorstellung des Menschen von seiner Außenwelt, sondern auch moralische Normen und metaphysisch-religiöse Konzepte an die Wahrnehmung durch unsere Sinne gekoppelt sind, also letztlich von der Beschaffenheit unserer Sinnesorgane abhängen. Im Gegensatz zu seinen früheren Schriften vertrat Diderot hier einen konsequenten Materialismus, der zugleich eine Relativierung herrschender Moralvorstellungen sowie atheistische Positionen mit einschließt.

    Dieses Mal kannten Polizei und Zensurbehörde kein Pardon. Diderot wurde längst überwacht. Schriftliche Denunziationen wegen angeblicher Gotteslästerung lagen schon in den Akten bereit. Eine Intrige führte schließlich dazu, dass ein Lettre de Cachet ausgestellt wurde - jenes berüchtigte Dokument, das einen Verdächtigen damals ohne jedes Gerichtsverfahren manchmal lebenslang hinter Gitter bringen konnte. Im Juli 1749 wurde Diderot verhaftet, verhört und in die Festung Vincennes bei Paris gebracht.

    Es war nicht die erste Gefangenschaft, die Diderot erfahren musste. Wenige Jahre zuvor hatte ihn sein eigener Vater kraft seiner Autorität in ein Kloster einsperren lassen, weil er gegen dessen Willen eine mittellose Näherin heiraten wollte. Den Klostermauern kaum entkommen, hatte Diderot heimlich dennoch geheiratet. Doch in Vincennes lag der Fall anders. Hier bedurfte es einflussreicher Fürsprecher, um seine Freilassung zu erwirken.

    Voltaire als Unterstützer
    Und Diderot hat Glück. Voltaire setzt sich für ihn ein - und mobilisiert zugleich die mit dem Geist der Aufklärung sympathisierenden Salons der literarischen Oberschicht. Aus dem weitgehend unbekannten Literaten ist ein prominenter Gefangener geworden, der seine Zelle in ein Studierzimmer verwandelt, in dem Verleger und Mitarbeiter ein und ausgehen. Diderot nämlich arbeitet zu dieser Zeit längst schon an jenem Lebensprojekt, das, wie einmal der amerikanische Historiker Robert Darnton schrieb,

    "die Topografie allen menschlichen Wissens verwandelte".

    Es handelt sich dabei um die legendäre "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers", auf Deutsch "Enzyklopädie oder wohldurchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, der Künste und des Handwerks".
    Als Diderot und d’Alembert im Oktober 1747 von einer Verlegergemeinschaft zu ihren Herausgebern ernannt wurden, waren dem Projekt schon einige gescheiterte Versuche vorangegangen. Ursprünglich hatte der Verleger die Übersetzung eines zweibändigen englischen Wörterbuchs geplant, dann überwarf man sich mit dem Übersetzer und nach etlichen Querelen und Gerichtsverfahren landete das Projekt schließlich bei Diderot, der das ursprüngliche Konzept radikal veränderte und in ein gemeinschaftlich erstelltes Werk unterschiedlicher Fachautoren verwandelte. Was dies bedeutete, erschließt sich in dem von Diderot selbst verfassten Lexikon-Eintrag unter dem Stichwort "Enzyklopädie".

    "‚Enzyklopädie‘ - Dieses Wort bedeutet ‚Verknüpfung der Wissenschaften‘ […]. Tatsächlich zielt eine Enzyklopädie darauf ab, die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen zu überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei; damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben."

    Ein ehrgeiziges Ziel, das zu jenem aufklärerischen Ethos des Wissensfortschritts passte, welches, so hoffte man wenigstens, auch die Zensur gerade noch zu tolerieren bereit war. Die versteckte Agenda dahinter jedoch beschrieb Diderot seiner Geliebten Sophie Volland in einem Brief:

    "Dieses Werk wird sicher mit der Zeit eine Umwandlung der Geister mit sich bringen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, die Unterdrücker, die Fanatiker und die Intoleranten dabei nicht gewinnen werden. Wir werden der Menschheit gedient haben."

    Die von Diderot avisierte "Umwandlung" allerdings ergab sich nur teilweise aus den einzelnen Lexikonartikeln selbst: Diderot und die Vielzahl der Autoren, die er im Verlaufe von zwanzig Jahren verpflichtete, mussten vorsichtig vorgehen, denn schließlich hatte ihr Herausgeber bei seiner Entlassung aus Vincennes versichern müssen, künftig keine blasphemischen Schriften mehr zu verfassen. Doch die eigentlich subversive Leistung dieses Großprojekts steckte sowieso in den Gliederungsprinzipien dieser "Enzyklopädie", die Diderot erläuterte, indem er darauf hinwies, dass die jeweiligen Wissensbestände in jeweils spezifischer Weise vom menschlichen Verstand verarbeitet würden.

    "Daraus ergibt sich eine allgemeine, wohl recht gut begründete Einteilung des menschlichen Wissens in ‚Geschichte‘, die sich auf das Gedächtnis bezieht, in ‚Philosophie‘, die von der Vernunft ausgeht, und in ‚Poesie‘, die aus der Einbildung entsteht."
    Damit hatte Diderot indirekt eine Wissenschaft entthront, die seit dem Mittelalter beanspruchte, alle anderen Wissenschaften ihrer Lehre zu unterwerfen: die Theologie. In Diderots neuer Wissensordnung mutierte die Theologie nicht nur zu einer Wissenschaft unter anderen, sie wurde gar zur Unterkategorie der Philosophie degradiert.

    Doch damit nicht genug: Diderots "Enzyklopädie" behandelte neben den Wissenschaften und den Künsten auch Kenntnisse und Techniken des Handwerks - was die Welt der traditionellen Hierarchien auf den Kopf stellte, galt doch die Tätigkeit von Handwerkern in gebildeten Kreisen als monoton und geistlos. Aus der Welt des Wissens und der standesgemäßen Beschäftigungen der Geburts- und Bildungseliten waren diese Techniken ausgeschlossen.

    Der französische Philosoph und Aufklärer Voltaire
    Der französische Philosoph und Aufklärer Voltaire. (picture alliance / dpa)
    Das Handwerk als Kunst
    Indem sich nun die sogenannten edlen Künste wie das Regieren, das Kriegshandwerk oder die Rhetorik neben der Beschreibung des Buchdruckens oder des Marmorschleifens finden, wird dem Leser zu verstehen gegeben, dass es keine naturgegebene Hierarchie menschlicher Tätigkeiten gebe. Die starre ständische Gesellschaftsordnung, das Rückgrat des ancien régime am Vorabend der Französischen Revolution, wird in der "Enzyklopädie" unterminiert. Die alphabetische Reihung der Artikel und die zahlreichen Querverweise - letztere eine Neuheit zu jener Zeit - tragen ebenfalls zu dem in der Textgestalt eingeschriebenen Prinzip der Relativierung bei.

    Siebzehn Textbände und elf Bände mit Bildtafeln, 18.000 Seiten und 71.818 Artikel von mehr als 140 Autoren sollte die "Enzyklopädie" bei ihrem vorläufigen Abschluss im Jahre 1772 umfassen. Als Diderot dieses Werk beendete, blieben ihm bis zu seinem Tode 1784 noch zwölf Jahre Zeit zum Schreiben, aber auch zum Reisen - und zwar an den Hof seiner Gönnerin, der russischen Zarin Katharina der Zweiten.

    Während der Arbeit an der "Enzyklopädie" hatte er die jeweiligen Bände konzipiert, die einzelnen Artikel geplant, die Autoren ausgewählt, die Aufträge erteilt, Manuskripte gelesen und die Fahnen korrigiert. Zahlreiche Beiträge stammten aus seiner Feder. Er leitete die Drucker und Zeichner an - und wenn es sich darum handelte, eine Handwerkstechnik oder eine mechanische Vorrichtung zu beschreiben, recherchierte er vor Ort. Aufklärung - das bedeutete nicht zuletzt Erkundung - und manchmal sogar die Entwicklung einer Fachsprache. Diderot erklärt:

    "Wir machten uns die Mühe, die Handwerker in ihren Werkstätten aufzusuchen, sie auszufragen, nach ihrem Diktat Aufzeichnungen zu machen, ihre Gedanken nachzuvollziehen, aus diesen Gedanken die jeweils eigentümlichen Fachausdrücke zutage zu fördern, Verzeichnisse derselben anzufertigen und sie zu erklären; ferner, mit den Handwerkern zu sprechen, von denen wir Denkschriften erhalten hatten, und im Verlauf von langen Gesprächen mit anderen Handwerkern das zu verbessern, was ihre Kollegen unvollständig, unklar und manchmal auch falsch auseinandergesetzt hatten."

    Diderot beschreibt hier eine genuin aufklärerische Methode, die sich auch in seinen übrigen diskursiven und literarischen Werken immer wieder findet: Von der Beobachtung der empirischen Wirklichkeit gelangt er zu einer Hypothese, die wiederum als Ausgangspunkt neuer Fragestellungen fungiert. Thesen und Erkenntnisse, die daraus abgeleitet werden, sind somit als vorläufige gedacht - sozusagen immer auf dem Sprung zu ihrer Revidierung.

    Die ständische Ordnung auf den Kopf gestellt
    Auf diese Weise führt uns die "Enzyklopädie" wieder zurück zu "Rameaus Neffe" - und damit zur Form des Dialogs, die Diderot auch in einem weiteren berühmten romanesken Werk bemüht: "Jacques le Fataliste", im Deutschen bekannt unter dem Titel "Jakob und sein Herr". In beiden Werken lässt Diderot eine Figur auftreten, die die Welt der moralischen und ständischen Ordnung auf den Kopf stellt. In "Jacques le Fataliste" ist es der Diener, der seinem adligen Herrn ein gleichberechtigtes Verhältnis abfordert, gar eine Art von Gesellschaftsvertrag mit ihm schließt - im Bewusstsein der beiderseitigen Abhängigkeit.

    In "Jacques le Fataliste" wird über Herrschaft und Hierarchien ebenso reflektiert wie über die philosophischen Streitfragen der Epoche: Ist menschliches Handeln durch naturwissenschaftlich begründete Gesetzmäßigkeiten determiniert oder ist der Mensch frei in seinen Entscheidungen? Worauf beruhen moralische Kategorien? Was ist Tugend, was ist Laster? Unter welchen Umständen kann sich das eine in das andere verkehren?

    Wie schon "Rameaus Neffe" gibt auch dieser Dialog keine endgültigen Antworten. Und auch sein Erzähler hat sich von seiner Rolle als allwissender Lenker des fiktiven Geschehens verabschiedet, äußert in eingestreuten Kommentaren Zweifel am Gang der Handlung und scheint sein Spiel mit dem Leser zu treiben: Die Zweifel und die Verkehrung der Rollen auf der Ebene der fiktiven Figuren finden ihre Parallele auf der Ebene der selbstreflexiven literarischen Gestaltung: Damit, so scheint es, hat bereits Diderot Gestaltungsmittel eingesetzt, die eigentlich erst in der Epoche der literarischen Moderne auftauchen.

    Was aber schließen wir daraus? Diderots Aufklärungsverständnis beruht nicht auf fest umrissenen inhaltlichen Bestimmungen, sondern auf einer Methodik der kreativen Überschreitung: Keine These, so scheint es, ist endgültig, alle Positionen erhalten ihren Sinn und ihre Berechtigung nur in Relation zu anderen. Eine Grundhaltung freilich ist auszumachen: Diderot wendet sich gegen Gedankensysteme, die ihre Begründungen nicht dem Gebrauch der Vernunft verdanken, sondern dem Ressentiment, der Denkfaulheit, der Gewohnheit oder eben auch dem Glauben und dem Aberglauben.

    Schlussbemerkung: Die europäische Aufklärung hat eine notorisch schlechte Presse. Ihr Wissensoptimismus wird ausgerechnet von jenen belächelt, die unter "Wissen" vor allem seine ökonomische Verwertbarkeit verstehen. Ihr Eintreten für die universelle Gültigkeit elementarer Menschenrechte wird als westliche Bevormundung missverstanden. Ihre Wertschätzung der Vernunft wird als kalte Rationalität gegeißelt und ihre Religionskritik als unethisch diskreditiert. Der 300. Geburtstag des Aufklärers Diderot mag Anlass sein, derartige Mainstream-Bequemlichkeiten einmal vorurteilslos zu prüfen - etwa qua Lektüre von "Rameaus Neffe". Und was seinen Verfasser angeht, so halte man sich an das Urteil seines Übersetzers Johann Wolfgang von Goethe:

    "Diderot ist Diderot, ein einzig Individuum. Wer an ihm oder seinen Sachen mäkelt, ist ein Philister."