Donnerstag, 25. April 2024

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Unglück als treuer Begleiter

Eine Schaustellertruppe zieht umher. Eine Erzählerin, ein Großvater mit hochfliegenden Träumen, ein Pfau, eine vor ehelicher Gewalt flüchtende Fremde. Unheil naht und bricht aus, doch die Erzählerin bleibt gelassen, distanziert. Silvia Geist legt eine Novelle vor, in der man sich nie sicher sein darf, und von der Rezensent Anton Thuswalder sagt: "Ein starkes Prosadebüt einer starken Autorin gilt es zu beachten".

Rezensiert von Anton Thuswaldner | 16.12.2008
    Bei Sylvia Geist dominiert das Prinzip der Heimtücke. Sie führt uns inmitten einer Gruppe recht sympathischer Leute, die sich allesamt mit Träumen gegen das harte Leben wappnen. Und dann lässt sie all die schönen Vorstellungen einer freundlichen Welt wie beiläufig als Illusionen verpuffen. Dabei befinden wir uns sowieso im Milieu, das vom Verkauf des schönen Scheins lebt. Eine Schaustellertruppe ist unterwegs, tingelt mit dem Roller Coaster, einer Art Hochschaubahn, von Provinznest zu Provinznest. Eine öde Form der Freiheit ist das! Für Popp, der Großvater der Erzählerin, wäre der Soul Lifter, den es nur in der Fantasie gibt, das Ideal seines Lebens. Gemeinsam mit seinem früheren Partner hat er sich diese Wunderachterbahn ausgedacht. Daraus wird nie etwas werden. Zu dieser Truppe gesellt sich Lil, eine junge Frau, die offenbar vor ihrem gewalttätigen Mann flieht. Sie trägt die Variation eines glücklicheren Lebens als des vorläufigen in sich und scheitert. Selbst die Natur in Gestalt eines Pfaus liegt mit ihren Sehnsüchten falsch. Das Tier vergöttert die Zapfsäule an einer Tankstelle und umschwärmt sie liebestrunken. Nirgends gehen Glückserwartungen auf. Stattdessen wird das Unglück zum treuen Begleiter, das Unglück, von dem es heißt, es hafte an den Menschen "wie giftiger Staub". Am Ende stehen wir da, um ein paar Hoffnungen ärmer, die sich nicht einmal in der Literatur erfüllt haben. Was soll dann noch das sowieso so trockene Leben dagegen ausrichten. Aber einen Gewinn tragen wir als Leser davon: Mit Sylvia Geist, die sich als Lyrikerin schon auffällig verhalten hat, lernen wir eine großartige Prosaautorin kennen. Mit dem Buch "Der Pfau" legt sie eine klassische Novelle vor.

    Eine Novelle ist, das wissen wir aus dem Seminar, zuerst einmal ein formales Problem. Sie gehorcht strengen Regeln, ist die ideale ästhetische Schule für eine Zeit, in der die Beliebigkeit in der Prosaliteratur zur Normalität geworden ist. Auf knappem Raum entwickelt Sylvia Geist eine Geschichte, die in einem unerhörten Ereignis kulminiert. Im Text sind Motive ausgelegt, die kunstvoll miteinander verwoben sind, eine prägende Idee stiftet jene Einheit, unter der jede Einzelheit Sinn macht. Das ist durchaus konservativ und vollkommen schlüssig: Alles ist mit allem auf unterirdische Weise geheimnisvoll verbunden. Gewiss wird Sylvia Geist nicht als die große Neuerin in die Literaturgeschichte eingehen, die der deutschen Literatur eine radikal unerwartete Gangart aufzwingt. Sie kennt die Tradition und fügt sich ein als eine, die selbstgewiss eine Variante des Bestehenden vorschlägt. Sie mag auch nicht glauben, dass man mit einer Allerweltssprache durch ein Literatenleben kommt. Deshalb verwendet sie ausgesuchte Wörter und erfindet wunderschöne Bilder. Die stehen da als kleine Monolithen und wollen bewundert werden. Der Tüftlerin Sylvia Geist kommt es auf die Details an, ohne dass sie das große Ganze, die Architektur ihrer Novelle, aus dem Blick verliert. Das will etwas heißen.
    Als Feuer ausbricht, beobachtet die Erzählerin die Szene so:

    In sicherer Entfernung vom Wagen hatte sich ein Häuflein kopfschüttelnder Männer zusammengeschart, niemand dachte daran, sich dem jetzt hellauf lodernden Hänger zu nähern, sei es aus Angst vor einer Explosion oder aus Gleichgültigkeit. Irgendjemand packte mich an der Schulter und sagte was über die Feuerwehr, die jeden Augenblick eintreffen müsse. Dann stand Popp neben mir, mit ausdrucklosem Gesicht, von derselben distanzierten Faszination erfasst, mit der einen der Augenblick eines Unglücks zugleich in Erregung versetzt und lähmt. Einem fast lautlos anrollenden Löschwagen entstiegen drei, vier Feuerwehrleute, in aller Ruhe, dachte ich, es kam sowieso nicht mehr darauf an.

    Das ist ein Buch des Unheils, aber erzählt wird es mit der Gelassenheit eines Menschen, der Abstand zu den Dingen und zu sich selbst gewonnen hat. Alles was geschehen ist, verletzt diese Erzählerin nicht mehr unmittelbar. Sie schlägt Szenen der Schönheit daraus, selbst das Sterben vollzieht sich als ein Prozess, dem nichts Schmutziges oder Bedrängendes anhaftet. Das hat mit dem Fatalismus zu tun, der als Haltung hinter der Erzählung steht. Schlimm, was geschieht, aber dagegen kann man nun einmal nichts machen.

    Die verprügelte Frau, der zu Schaden gekommene Roller Coaster, ein Mitarbeiter springt ab, Verdienstausfall droht, ein Kraftwagen geht ein, jetzt sind sie dazu verdammt, Woche für Woche in einem entlegenen Kaff irgendwo im Süden von Spanien zu verharren. Die Bevölkerung ist dennoch dankbar für das bisschen Abwechslung. Aber es wird nur alles noch schlimmer. Das hat der Zug dieser Novelle so an sich, aber durch die Erzählung wird die Form, die den Rhythmus des Scheiterns vorgibt, beglaubigt. Bilder der Düsternis sind nur der Vorschein der Düsternis, die Menschen heimsuchen wird. Ein See in unmittelbarer Nähe der Tankstelle könnte eigentlich als Fluchtort vor dem Hitzeansturm dienen. Aber so wie ihn die Erzählerin wahrnimmt, wird er zum Negativpol der Geschichte.

    Ich ging in die Hocke und ließ mich vorsichtig auf den nächsttieferen Felsvorsprung und ins Wasser gleiten. Es war lau und schleimig weich, wie dünnflüssiger Schlamm. Der ertrunkene Junge kam mir in den Sinn, und wo genau das Unglück geschehen sein mochte. Nach ein paar Metern war der Grund nicht mehr zu erkennen. Von den Förderbändern und Kränen, die Daniel erwähnt hatte, war nichts zu sehen, vielleicht befanden sie sich in der Nähe des gegenüberliegenden Ufers, da, wo etwas aus dem Wasser ragte, nach oben hin auseinander strebende, verbogene Stangen oder Rohre, auf die ich jetzt zuhielt.

    Sylvia Geist zu lesen bedeutet, und das kennt man schon aus ihrer Lyrik, dass man sich nie sicher sein darf. So wie der See unter seiner Oberfläche todbringende Geheimnisse birgt, so ist auch den Menschen nicht zu trauen. Sie tragen eine offizielle Identität zur Schau und leben ein geheimes inneres, anderen unzugängliches Leben. Da lernt man jemanden kennen, freundet sich gar an mit ihm und unvermutet nimmt er Züge an, die ihn zu einer Person machen, vor der man sich hüten soll. Geist führt eine doppelte Buchführung über Menschen. Was hat es bloß mit jener Lil auf sich, die unvermutet ins Leben der Schaustellertruppe tritt und zunehmend stärker ihr eigenes Ich ausspielt, stark, selbstbewusst und unberechenbar wird. Geheimnisvoll ist sie sowieso. Das zerbrechliche Wesen, dringend der Hilfe bedürftig, in Wahrheit ein Ungeheuer? Oder beides?
    Ein starkes Prosadebüt einer starken Autorin gilt es zu beachten. Lyrik beherrscht sie, das wusste man. Jetzt hat sie sich auch als Erzählerin deutlich nach vorne gedrängt. Da gehört sie auch hin. Damit sie sich nicht allzu verloren vorkommt so weit im Vordergrund, sollten wir sie lesen. Das wird ihr gut tun und uns auch. Und das, obwohl die Autorin alles daran setzt, uns den scharfen Wind der harten Existenz um die Ohren pfeifen zu lassen. Unseren Mitmenschen werden wir jedenfalls in Zukunft etwas vorsichtiger begegnen.