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Unglückliche Liebe

Die Ich-Erzählerin Nadeshda berichtet in Marica Bodrozics neuem Buch von ihrer Amour fou mit dem Serben Ilja. Sie nimmt den Leser mit auf eine innere und äußere Reise, und der Wechsel zwischen Erzähltem und Reflexion über das Erzählen gelingt.

Von Oliver Seppelfricke | 17.01.2011
    Die 1973 geborene Marica Bodrozic gehört zu den begabtesten deutschsprachigen Autorinnen. In Dalmatien geboren und im Alter von zehn Jahren nach Deutschland gekommen, hat sie in vielen Veröffentlichungen immer wieder die alte und neue Heimat besungen. Im neuen Werk "Das Gedächtnis der Libellen" ist das nun ein wenig anders: Marica Bodrozic führt uns nach Amsterdam, ein bislang noch nicht betretenes Gebiet. Aber mit einem uralten Thema: einer unglücklichen Liebe. Und mit einem ganz bestimmten Ziel. Marica Bodrozic:

    "Ich habe schon Lust gehabt, bestimmte Räume, die mir bekannt sind, in einen Roman zu übersetzen und sie eben auch in einer Liebesgeschichte zu situieren. Und eine Familiengeschichte zu erzählen, die, sagen wir einmal, so ein bisschen über die Kontinente hinweg wirksam ist. Um zu zeigen, in welcher Welt wir leben. Dass die Welt, die früher so dem Film ein bisschen gehört hat, dass so zwischen 'Casablanca' und sonst etwas die Welt funktioniert hat in Filmen. Und jetzt ist es nicht mal nur so, dass diese Welt in der Wirklichkeit angekommen ist, sondern eben auch in der Literatur und in unserer Wirklichkeit."

    Nadeshda, die Ich-Erzählerin in diesem Roman, erlebt eine wahre Amour fou. Sie ist in Ilja verliebt, einen Serben. Mit ihm ist alles anders. Sie sieht alles aus einer anderen Perspektive. Aus schwarz wird weiß, Hitze und Kälte übersieht sie. "Ilja ist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David" heißt es an einer Stelle. Und das klingt gar nicht mal kitschig. So redet eine blind verliebte Frau, "alles gehört einem, wenn man liebt." Doch wo so viel geliebt wird, liegt auch das Scheitern nahe. Nadeshda nimmt diesen Preis in Kauf. Marica Bodrozic:

    "Für die Nadeshda ist diese unglückliche Liebe eigentlich etwas sehr Wesentliches, vielleicht das Größte überhaupt. Also dieses Scheitern dieser Liebegeschichte. Dass sie bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hat. Nämlich weil ihre ganzen Koordinaten nicht mehr funktionieren. Weil die Liebe sie einfach vor alle Fragen stellt, die sich früher oder später alle Menschen stellen müssen. Und es gibt so einen Satz in dem Buch, den Nadeshda sagt, dass die Liebe vielleicht das Einzige ist, das uns heute verändern kann. Jetzt, da wir alle nicht mehr an Gott glauben."

    In einer Zeit der Gottlosigkeit, der Glaubenszweifel, findet Nadeshda, eine ausgebildete Physikerin, ihren Halt in der Liebe. Ilja, der in Sarajewo geboren und dort aufgewachsen ist, sagt, dass er auf der ganzen Welt zuhause sei, dass seine Wurzeln aber auf immer in Sarajewo sein werden. Egal wo er sich befinde auf der Welt. Nadeshda erzählt dies mit großer Intensität und Überzeugungskraft. Und die Passagen, in denen sie ihren Geliebten beschreibt, gehören zu den schönsten in diesem Buch. Zum Beispiel, wenn sie seine Hände und Finger beschreibt. Für Marica Bodrozic eine Herausforderung, doch keine besondere:

    "Ich kann diese Dinge beschreiben, weil ich sie tief erlebe. Weil ich beobachten kann. Und weil ich das, was ich sehe und beobachte, so gut ausdrucken kann, dass es Literatur wird. Ich glaube, es ist einfach Beobachtung. Und dieses Interesse für Einzelheiten."

    Nadeshda erzählt sprunghaft. Eine Erinnerung jagt die nächste, von Amsterdam geht es nach Paris und weiter durch Europa. Für den Leser ist es manchmal anstrengend, dem Scheitern dieser Liebe auf der Spur zu bleiben, für die Autorin ist es jedoch wichtig, sprunghaft zu erzählen. Sie nimmt den Leser mit auf eine innere und äußere Reise, und der Wechsel zwischen Erzähltem und Reflexion über das Erzählen gelingt. Eine Liebesgeschichte, die in ihrem Unglück verfängt und die dem Leser keine ruhige Minute lässt.

    "Ja, das war mir sehr wichtig, dieser Wechsel, und zwar aus verschiedenen Gründen. Der eine Grund ist der Beruf, der erste Beruf der Nadeshda, die ja Physikerin war. Und sie wird Schriftstellerin. Also sie sucht ja etwas, nicht nur in der Liebe, sondern eigentlich im Leben selbst. Und sie hat verstanden, die intellektuelle Welt, deren Teil sie war, diese Welt hatte sie angezogen, in dieser Formelhaftigkeit auch fasziniert. Das zeigt sich eben manchmal in der logischen Sprache. Im Nachdenken auch über Sprache. Und natürlich hängt das auch damit zusammen, dass ich eine bestimmte Idee vom Roman habe. In dem auch das Nachdenken über den Roman, über die Figuren, über die Sprache, über bestimmte Themen, immer einen Platz haben."

    Nadeshdas Vater ist der titelgebende Libellensammler, als grausam und fast unmenschlich wird er geschildert. Und auch wenn er zu den Figuren gehört, die am wenigsten in diesem Roman überzeugen, so ist es doch gerade er, an dem das grundlegende Erzählprinzip von Marica Bodrozic am deutlichsten wird: einen Menschen zu zeigen, wie er ist und wie er geworden ist, ohne ein abschließendes Urteil über ihn zu fällen:

    "Für mich war die Idee, eben nicht zu werten in diesem Buch. Nicht zu sagen, der Geliebte ist schlecht, weil er die Liebe nicht einlösen kann, die er verspricht. Und nicht nur das: die er auch fühlt. Oder der Vater ist ein böser Mensch, durch und durch. Das ist es nicht. Die Idee in diesem Roman war eher, zu betrachten und zu sagen, so sind die Möglichkeiten eines Menschen, und so sind seine Begrenzungen. Bis zu einem bestimmten Punkt kann er leben, und intensiv leben, und ab dann eben nicht. Weil er die Sicherheit braucht, weil er flüchtet, und so weiter."

    Der jugoslawische Krieg scheint immer wieder, und nicht nur in der Figur des Ilja, in diesem Buch durch. Er hat die Menschen geprägt. Das ist normal und überhaupt nicht erstaunlich. Erstaunlich und verwunderlich ist es eher, dass die Autorin ihrer Hauptfigur Nadeshda viele ihrer eigenen Züge mitzugeben scheint. Das gemeinsame Geburtsjahr 1973, die Herkunft aus dem ehemaligen Jugoslawien, die Sehnsucht nach der Kindheit. Und dennoch: Für Marica Bodrozic ist die Nähe zwischen Nadeshda und der eigenen Vita eine blinde Fährte:

    "Ich bin eigentlich sehr stolz, dass es mein erstes Buch ist, das mit dem Ich spielt und das sich vom Autobiografischen ablöst. Und das für mich auch ein vielversprechendes Ich ist. Also literarisch gesehen. Weil es für mich auch neue Erzählräume und Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen, eröffnet."

    Die Liebe endet unglücklich, doch der Roman überzeugt. Gerade in der Intensität der Beschreibungen, egal ob von äußeren Merkmalen oder von inneren Zuständen, gelingt Marica Bodrozic eine Kraft, in diese Amour fou ganz sanft hineinzusaugen. Man reist mit der Ich-Erzählerin durch verschiedene Städte und Zustände der großen Enttäuschung und ist am Ende um eine Erfahrung reicher: Das Schönste im Leben ist nicht geliebt zu werden, sondern zu lieben. Auch, wenn diese Liebe nicht erwidert wird!

    Marica Bodrozic: "Das Gedächtnis der Libellen". Roman, Luchterhand, 253 Seiten, Euro 19,99