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"Universalität und Individualität"

Zum 175. Todestag Wilhelm von Humboldts hat die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften dem Mitbegründer der Universität Berlin eine Tagung gewidmet: Unter den Stichworten "Universalität und Individualität" wurde ein Gegensatz beleuchtet, der Humboldts Denken auf den unterschiedlichen Feldern seines Wirkens bestimmte.

Von Arno Orzessek | 10.04.2010
    Nicht wenige Verehrer des schwulen Rekord-Bergsteigers, mondänen Paris-Liebhabers und Kosmos-Autors Alexander von Humboldt halten Wilhelm, den älteren Bruder, bis heute für eine trockene Streberexistenz, wozu Wilhelms etwas rokokohafte Parole, der Zweck des Lebens sei die "proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen", ihren Teil beiträgt.

    Die Tagung "Universalität und Individualität" hat nun die Klischees über Wilhelm von Humboldt so gründlich widerlegt wie hier und dort bestätigt - wobei sie offiziell andere Zwecke verfolgte und vor allem die Sprachphilosophie Wilhelms umkreiste. Deren Kernthese lautet: Sprache transportiert nichts Fertiges, sondern ist selbst "das bildende Organ des Gedankens".

    Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant, der die Tagung mit der Akademie-Mitarbeiterin Ute Tintemann entworfen hatte, wählte für seine Darlegungen eine erlesene intellektuelle Andachtsform. Trabant zeigte: Humboldt schreibt jeder Einzel-Sprache und Sprache des Einzelnen höchste Individualität zu, lässt diese aber durch Verlautung und Austausch an der Universalität der Sprache teilhaben.

    Das Moderne von Humboldts Sprach-Idee liegt laut Trabant darin,

    "dass Sprache und Sprachproduktion im Wesentlichen Produktion des Denkens ist. Also dass Sprache nicht nur zur Kommunikation dient. Das ist die alteuropäische Vorstellung, die aber immer noch lebendig ist, und ich denke, dass das Neue und immer noch Produktive und immer noch schwer zu Verstehende für die Menschen ist: die Produktion des Denkens durch Sprache."

    Die Produktion profunder Gedanken durch Humboldt war einst so groß, dass die Gesammelten Schriften, ediert ab 1903, unvollständig sind. Die Akademie arbeitet zurzeit an der Ausgabe von weiteren, man höre und staune, 22 Bänden weitgehend unveröffentlichten Materials einschließlich von 30 grammatikalischen Untersuchungen über exotische Sprachen wie dem malayisch-polynesischen Idiom, Caribisch und Otomi. Jürgen Trabant:

    "Also die klassische Edition hat ja gewissermaßen das Philosophische getrennt von dem Empirischen. Die haben sozusagen den Philosophen von dem Linguisten getrennt. Und das, was wir jetzt machen, ist ja gerade, dass wir das jetzt zusammen sehen wollen."

    Manfred Geier, der 2009 die lesenswerte, mit Alexander wie Wilhelm gleichermaßen sympathisierende Doppelbiografie "Die Brüder Humboldt" vorgelegt hat, bewunderte am disziplinvernarrten Freigeist Wilhelm die Fähigkeit, sein ausgeklügeltes Privat-Bildungsprogramm bei Gelegenheit einem ganzen Land überzustülpen.

    "Man könnte also fast so formulieren: Wie ich selbst gelernt habe, frei, unabhängig und meinen eigenen Geist benutzend, diese Maximen möchte ich gewissermaßen verallgemeinern und für jeden Menschen fruchtbar machen. Und das kann ich sogar in 16 Monaten, wenn ich gerade mal in Berlin Bildungspolitiker geworden bin. Dann mache ich doch wenigstens, dass diese Maxime, die mir selbst so eigen sind, zur Grundlage einer allgemeinen Reform, einer Bildungsreform in Preußen gemacht werden können."

    Das lag eine Diskussion über Humboldt und die Bologna-Reform zwar nahe, sie wurde auch, genauso wie der Liberalismus bei Humboldt, angerissen - aber insgesamt ging die Tagung mit Aktualisierungen wie auch mit politischen Dimensionen des Humboldt-Erbes sparsam um.

    Humboldt als Privatmensch konnte man in Zwischenbemerkungen zu seinem jugendlichen Spaß an "grober Sinnlichkeit" und überhaupt zu den triebhaften Momenten seiner Philosophie kennenlernen.

    Außerdem gab der Lyrikexperte Ernst Osterkamp erstaunliche Einblicke in Humboldts letzte Tage. Von Parkinson und dem Tod seiner geliebten Caroline gezeichnet, nahm sich der Gelehrte auf Schloss Tegel vor, jeden Abend nach wenigen Minuten der Sammlung ein Sonett zu diktieren - es wurden insgesamt 1183 Sonette. Dank Osterkamps Vortrag ließ sich die dunkle Intensität dieser Spätzeit-Produktionen bestens nachempfinden.

    "Er sitzt dort in der Einsamkeit seines Alters, als Caroline nicht mehr da ist [...], spricht in dieser Situation jetzt ausschließlich mit sich selbst und verfasst unendlich Text. [...] Und es gibt für den unendlichen Text seines Lebens, gibt es keinen Abschluss. An keinem Tag, an keinem Abend kann er sagen, so ich bin jetzt fertig [...]. Und die Sonette sind die Möglichkeit, die Komplexität des Denkens beizubehalten [...] und sie in eine solche Form der Konzentration zu bringen, dass sie notwendig mit Vers 14 ihren Abschluss finden."

    Humboldt selbst wollte die Sonette nie veröffentlichen. Nach Ernst Osterkamp sind sie auch keineswegs große Lyrik, sondern das Werk eines überragenden Multitalents, das als Dichter bloß Dilettant war.

    "Bitte, fordern Sie jetzt keine kritische Edition."