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Universität Bremen
Russische und ukrainische Wissenschaftler erforschen politischen Protest

Unter welchen Bedingungen entwickeln sich Proteste zu einer Bewegung, die die politische Ordnung eines Landes in Frage stellt? In Russland und der Ukraine ist diese Frage zurzeit besonders relevant. Die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen hat hierzu ein Projekt entwickelt.

Von Almut Knigge | 01.04.2016
    Auf dem verwüsteten Unabhängigkeitsplatz in Kiew versuchen mehrere Männer mit Schaufeln, qualmenden Schutt zu entfernen.
    Aufräumarbeiten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew / Ukraine nach den Protesten im Februar 2014 (picture alliance / dpa / Sergey Dolzhenko)
    März 2012. Das hat Russland lange nicht erlebt: Tausende aufgebrachte Demonstranten auf den Straßen der Großstädte. Lautstarker Protest gegen Wahlbetrug bei der Parlamentswahl und das - wie sie sagen – "System Putin". Allein in Moskau formierten sich über 6000 Demonstranten.
    "Warum sind die Proteste vorher nur mit ein paar hundert oder maximal 1000 Teilnehmern gewesen und jetzt auf einmal ist es so ein richtiger Massenprotest mit Hunderttausenden?"
    Fragt Professor Heiko Pleines, stellvertretender Direktor an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.
    "Und die andere Frage ist: Was passiert danach?"
    Pleines ist Politologe. Zusammen mit der Historikerin Professor Susanne Schattenberg, die das Institut leitet, hat er ein Forschungsprojekt entwickelt, das gleich auf mehrfache Weise Brücken bauen soll. Brücken zwischen Wissenschaftlern aus der Ukraine und Russland und Wissenschaftlern aus den Disziplinen Politik und Geschichte.
    Was gar nicht so einfach war. Viele hatten Bedenken – sobald Fördergelder aus dem Ausland im Spiel sind, stehen zivilgesellschaftliche aber offensichtlich auch Wissenschaftliche Organisationen unter besonderer Beobachtung des Staates ständig vom Schließung und Verbot bedroht.
    Erforschung der großen politischen Proteste in Osteuropa
    Ziel des Projekts ist also die Erforschung der großen politischen Proteste in Osteuropa, ihrer Vorgeschichte, ihrer Entwicklung – und ihrer Konsequenz. Angefangen bei der Entstalinisierung der Sowjetunion bis hin zur Perestroika. Wie geht das Russland unter Putin mit den großen politischen Protesten 2011/12 um? Was passierte in der Ukraine während der Orangen Revolution 2004? Bis hin zu den Protesten 2013/14: Was eint sie, was unterscheidet sie – und welche Rolle spielt das Internet?
    "Was glaube ich auch sehr wichtig ist, bestimmte Mythen oder Vorurteile erstmal zu entkräften. Wie man zum Beispiel immer sagt: 'Und durch das Internet wird das alles revolutioniert.' In gewisser Hinsicht mag das auch stimmen. Aber wir haben bei uns zum Beispiel die Proteste in der Perestroika drin. Wo, wenn man jetzt nicht wüsste, dass es das Internet nicht gab, wenn man sich die Proteste anschaut, der Unterschied nicht erkennbar ist."
    Ob ein Protest erfolgreich ist – oder nicht – das entscheidet sich erst lange nach den eigentlichen Demonstrationen. Bricht das Regime zusammen? Entwickelt sich Demokratie? Was passiert mit den Protagonisten. Das sind nur ein paar der Fragestellungen, die das Institut an die Wissenschaftler weitergegeben hat, erklärt Susanne Schattenberg:
    "Wir wollen zeigen zum einen, wie solche Protestkultur übermittelt wird durch Personen oder auch über Medien, wie das Traditionen entstehen aber uns auch anschauen, wie es überhaupt zu Protesten kommt."
    Und: Wie ist der Charakter der Proteste? Wer protestiert denn da? Ist das nur ein Ereignis in der Hauptstadt. Oder ist es ein breiterer Bevölkerungsteil. Und wer organisiert das Ganze?
    Politischer Protest ist mehr als Mäkelei
    "Also sie brauchen halt Leute, die bestimmte Eigenschaften haben. Die gibt es an Unis, die gibt es aber auch woanders. Dazu gehört, dass man ein bisschen in der Lage ist, die politische Situation einzuschätzen und nicht einfach nur zu sagen: Es ist alles Mist, die sind alle korrupt. Sondern dass man ein bisschen intelligenter formulieren kann und auch Zusammenhänge aufzeigen kann. Dazu gehört, dass man organisieren kann. Man muss es irgendwie ankündigen, sei es über das Internet, sei es über Plakate, über Handzettel, das muss organisiert werden, und man braucht Zeit, um das zu machen. Das gibt es an Unis relativ oft."
    Und die Voraussetzung dafür ist, dass System, in dem man lebt, auch wenn man es nicht stürzen will, kritisch zu hinterfragen.
    "Das heißt, dass auf beiden Seiten die Wissenschaftler sofort verstanden haben, wir können hier wirklich was voneinander lernen, weil das sehr ähnliche Gesellschaften sind."
    Die aus einem ähnlichen Grund auf die Straße gegangen sind - Protest gegen das autoritäre Regime: Das Ergebnis der Proteste in den Ländern ist aber völlig unterschiedlich. Den Grund suchen die Wissenschaftler aus Russland, Deutschland und der Ukraine nun gemeinsam.