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Universität Tübingen
Schleppende Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit

Die politische Gleichschaltung an Hochschulen in der Nazi-Zeit machte vor keiner Fachrichtung halt. Schon gar nicht an der Tübinger Universität, die gerne als Hochburg der nationalsozialistischen Ideologie bezeichnet wird. Viele Wissenschaftler vermissen eine systematische Aufarbeitung dieser Zeit.

Von Marie Graef | 30.07.2016
    Fahne der Eberhard Karls Universität Tübingen
    Die Universität Tübingen war im Dritten Reich wichtig für die pseudo-wissenschaftliche Fundierung der Nazi-Ideologie. (Imago/ Klaus Martin Höfer)
    Begeisterte Studierende hissten die Hakenkreuzflagge auf der neuen Aula. Der Gleichschaltungsbeauftrage und Volkskundler Bebermeyer handelte nach dem Motto: Auf einen beurlaubten Hochschullehrer mehr oder weniger, kommt es nicht an. Innerhalb weniger Monate wurde aus einer liberalen Forschungseinrichtung eine straff hierarchisch geordnete Führeruniversität. Ernst Seidl, Direktor des Tübinger Universitätsmuseums:
    "Tübingen war da eine sehr wichtige Universität, einer der Leuchttürme für den Nationalsozialismus. Hier wurden nach der Gleichschaltung ganz wichtige, neue Lehrstühle gegründet, zum Beispiel für Rassenkunde oder auch das Institut für deutsche Volkskunde."
    So wichtig Tübingen für die pseudo-wissenschaftliche Fundierung der Nazi-Ideologie war, so klein und unbedeutend war seine Industrie. Den Zweiten Weltkrieg überstand es deshalb fast ohne Bombardierungen. Nur vier Monate nach Kriegsende konnte die Uni als erste deutsche Universität wiedereröffnet werden. An Aufarbeitung war da aber noch längst nicht zu denken. Honorarprofessor Hans-Joachim Lang:
    "Es war im Grunde genommen nicht nur an der Universität so, sondern in der Stadt auch, dass man zunächst nach hinten die Augen verschlossen hat. Es hat gedauert bis in die 60er-Jahre, bis es kleine, systematische Ansätze gegeben hat, etwas über die Vergangenheit im Nationalsozialismus wissen zu wollen."
    Erster Anstoß zur Aufarbeitung kam von Studenten
    Kein Wunder, schließlich gab es Akademiker damals nicht im Überfluss. Der Gleichschaltungsbeauftragte Bebermeyer lehrte weiter bis zu seinem Tod in den 70ern, allgemein blieb der große Personalwechsel aus. Ein erster Anstoß zur Aufarbeitung kam von einzelnen, engagierten Studierenden. Einige Professoren unterstützten sie und in den 60ern fand die wohl deutschlandweit erste Ringvorlesung über Universitäten im Nationalsozialismus statt. In den nächsten Jahren folgten einige wissenschaftliche Publikationen.
    "Ich geh davon aus, dass die Aufarbeitung tatsächlich immer Sache einzelner Menschen war, die sich dann zusammengefunden haben. Wichtig erschien mir aber, dass sich die Universität nicht dagegen gesperrt hat. Das wäre der absolut falsche Weg gewesen."
    Fasst Ernst Seidl zusammen. Seit 15 Jahren gibt es zwar einen Arbeitskreis der Universität, ihre Forschungen führen die Mitglieder wie Hans-Joachim Lang aber in ihrer Freizeit durch.
    "Natürlich wird man immer, wenn man fragen wird, egal ob das die Universitätsleitung ist oder ob das die Fakultäten sind, niemanden finden, der sagt: Das ist völlig unnötig. Aber es ist leider so, dass die Wissenschaft so organisiert ist, dass sie kaum Zeit hat für Wissenschaftsgeschichte."
    Rassenforscher untersuchte Handabdrücke von Juden
    Hans-Joachim Lang vermisst eine kontinuierliche, systematische Aufarbeitung. Vergangenes Jahr war der Nationalsozialismus ein Schwerpunktthema an der Uni: unter anderem weil Wissenschaftler zufällig auf die Sammlung des Rassenforschers Fleischhacker stießen. Für seine Habilitationsschrift untersuchte der die Handabdrücke von 600 Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt. Ernst Seidel.
    "Man muss sich das vorstellen wie Fingerabdrücke, nur die ganze Handfläche: Auf DIN A5 Blätter, mit einem Stempel Litzmannstadt und beschriftet mit Jude oder Jüdin. Das heißt sie haben ein Abbild eines individuellen Menschen, der höchstwahrscheinlich umgekommen ist. Viele von ihnen wurden wohl nach Auschwitz deportiert und das ist etwas, was dann schon sehr berührt."
    Lokale Diskussion blieb aus
    Um diese Ausstellung entstand dann ein umfangreiches Programm: Ringvorlesungen, Stadtführungen, eine Kinoreihe und noch zwei weitere Ausstellungen. Obwohl die Ausstellung viele Besucher anzog und auch in der überregionalen Presse lobend besprochen wurde, blieb eine lokale Diskussion weitgehend aus. Honorarprofessor Lang, seit Jahren einer der engagiertesten Tübinger Aufklärer, kennt das mittlerweile: Der Aufarbeitungsprozess läuft, aber er läuft schleppend.
    "Ich vermisse etwas, das ich als Primärinteresse der Uni bezeichnen würde. Also das Interesse, selber Themen zu setzen. Selber die Geschichte systematisch zu erforschen. Es genügt nicht sich hinzustellen und zu sagen: Tübingen oder die Tübinger Universität ist eine Hochburg des Nationalsozialismus. Ich möchte gerne wissen: Wodurch zeichnet sich das aus? Was ist eine Hochburg? Wie definiere ich das? Und wie sieht das an anderen Universitäten aus?"