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Universitäten
Wird am Holocaust "vorbeistudiert"?

An Universitäten gibt es nur wenige Veranstaltungen zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust - das ist die Erkenntnis einer Studie. Selbst in den Politikwissenschaften und in der Pädagogik, so die Befürchtung, könne bei einem Bachelor-Abschluss an diesem Thema vorbeistudiert werden - mit Konsequenzen auch für die Schulbildung.

Von Thomas Weinert | 08.11.2016
    Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, aufgenommen am 21.09.2016.
    Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin: An der Uni gibt es wenige Veranstaltungen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen. (picture alliance / Monika Skolimowska)
    "Das sah so aus, dass es eine neue Ausschreibung über eine Professur für politische Bildung gab. Und dieser Ausschreibungstext in unseren Institutsrat gegeben wurde, ohne dass in irgendeiner Weise dem Thema Holocaust oder NS-Zeit Rechnung getragen wurde."
    Lennart Pahlke studiert Politikwissenschaft auf Lehramt am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und was er hier beschreibt, das ist die alltägliche Konsequenz dessen, was eine Studie der FU nun auch wissenschaftlich belegen konnte: Es gibt ein deutliches Vermittlungsdefizit an unseren Universitäten zum Thema Nationalsozialismus und insbesondere zum Thema Holocaust.
    Und dieses Defizit ist inzwischen so groß, dass – wie eben gehört – das Thema Holocaust bei einer Stellenausschreibung zum Thema politische Bildung nicht einmal mehr abgefragt wird.
    Verena Nägel hat ebenfalls am Otto-Suhr-Institut studiert und in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn genau dieses Phänomen erforscht. In zwei Schritten ermittelte sie den Status Quo der universitären Lehre über den Holocaust in Deutschland:
    "Der erste Teil ist die Auswertung von Vorlesungsverzeichnissen an 79 Universitäten und der zweite Teil sind Experteninterviews, die wir inhaltsanalytisch ausgewertet haben mit 13 Expertinnen und Experten der Holocaustforschung."
    Erschreckende Ergebnisse für die Politikwissenschaften und Pädagogik
    Mit erschreckenden Ergebnissen – vor allem für die Fächer Politikwissenschaft und Pädagogik. Johannes Tuchel hat als Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand die Studie begleitet:
    "Es ist eindeutig so, dass auch in dem von mir vertretenen Fach der Politikwissenschaft die historischen Grundlagen der Politik massiv an Bedeutung verloren haben. Bei den pädagogischen Wissenschaften ist es so, dass man sich sehr bemüht, von einem zahlenmäßig niedrigen Niveau aus eine gewisse Stabilisierung zu erreichen. Aber wir können davon ausgehen, dass es in beiden Bereichen – sowohl in der Pädagogik als auch in den Politikwissenschaften - längst nicht ausreichend Veranstaltungen für eine Grundversorgung mit Wissen über die nationalsozialistische Diktatur gibt."
    Es stand die steile These im Raum, dass es in unserem Land möglich ist, einen Bachelor zu machen, ohne das Thema Holocaust mitbekommen zu haben. Verena Nägel bemüht sich zumindest um eine wissenschaftliche Relativierung:
    "Ich glaube nicht, dass die Studierenden nichts von der Thematik mitbekommen haben. Der Punkt ist eher, es ist möglich, daran vorbeizustudieren."
    Besonders problematisch findet Tuchel das für die angehenden Lehrerinnen und Lehrer.
    "Wir haben hier natürlich in Berlin das Zentrum für Antisemitismusforschung, den Lehrstuhl von Michael Wild, das Holocaust-Forschungsinstitut des Instituts für Zeitgeschichte. Aber es geht mir in diesem Fall nicht nur um Leuchttürme, sondern was ich brauche, sind die vielen kleinen Leuchtfeuer, die uns eine Orientierung ermöglichen. Das heißt, ich möchte, dass es an jeder deutschen Universität die Möglichkeit für Lehramtsstudierende gibt, wenigstens eine Basisinformation über den Nationalsozialismus und den Holocaust zu haben – dieses ist im Moment nicht gewährleistet."
    "Es ist besorgniserregend"
    Johannes Tuchel ist als Chef der Gedenkstätte Deutscher Widerstand quasi im Hauptberuf zum Thema tätig. Wenn es so weiter gehe, so seine Klage, dann erodiere die Erinnerungskultur, weil immer weniger Lehrerinnen und Lehrer Wissen über den Holocaust an unsere Kinder weitergeben:
    "Wir haben die erste Erhebung zu diesem Thema gemacht. Wir haben dabei den Eindruck gewinnen können, dass früher die Information, der Breitegrad, gerade auch für Lehramtsstudierende größer gewesen ist. Und dass es heute besorgniserregend ist, dass wir auf diesem Niveau so zurückgefallen sind."
    Lennart Pahlke und seine Kommilitonen wollten in der Studierendenvertretung eine Holocaust -Qualifikation in der Ausschreibung für die neue Professur zumindest erwähnt haben. Das wurde abgelehnt mit der Begründung, dass sich dadurch das Bewerberfeld zu sehr einschränken würde:
    "Letztendlich ist dann dieser Vorschlag von uns heruntergekürzt worden auf die Formulierung 'Kenntnisse des Rechtsextremismus auch in seiner historischen Dimension.'"