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Unkontrollierbares Grenzgebiet

Der jüngste Fehlschlag liegt gerade erst eine Woche zurück. Nach Monaten permanenter Überfälle auf die Versorgungskonvois für Afghanistan schloss Pakistan kurzerhand die Grenze zum Nachbarland, um dort eine nachhaltige Operation gegen die Aufständischen einzuleiten.

Eine Sendung von Jürgen Hanefeld | 12.01.2009
    Die Route ist von strategischer Bedeutung: Weil Afghanistan nicht am Meer liegt, werden 75 Prozent der Ausrüstung und fast die Hälfte aller Treibstoffe für amerikanische, afghanische und ISAF-Verbände im pakistanischen Hafen Karachi auf Lkw umgeladen und meist über den legendären Khyber-Pass an ihre Bestimmungsorte gebracht.

    Doch nachdem bis Weihnachten Hunderte von Containern samt ihrer wertvollen Fracht gestohlen oder in Flammen aufgegangen waren, baten die USA darum, die Nabelschnur der eigenen Truppen vorübergehend abzuklemmen und das Gebiet von Aufständischen - wie es im militärischen Jargon heißt - zu säubern. Wie bei einer ähnlichen Offensive vor einem halben Jahr blieb das Ergebnis überschaubar: Hubschrauber, Panzer, Artillerie und Bodentruppen durchkämmten das unwegsame Bergland, doch der Feind war verschwunden. 5 Tote, vier davon Zivilisten, und 43 Festnahmen, so lautete die Bilanz der dreitägigen Aktion. Das NATO-Kommando in Kabul begrüßte - etwas schmallippig - die "Anstrengung" der pakistanischen Alliierten.

    "Wer immer in Amerika oder Europa glaubt, man könne Terrorismus mit militärischen Mitteln bekämpfen, ist ein Narr."

    Tariq Sayeed ist kein Militär, aber als Präsident der Südasiatischen Handelskammern ein über Pakistan hinaus einflussreicher Geschäftsmann. Und als solcher braucht er nicht einmal höflich zu sein, wenn er die US-amerikanische Politik geißelt.

    "Wessen Krieg führen wir denn? Es ist der Krieg der Amerikaner. Und wir opfern dafür unsere Leute. 1200 unserer Soldaten sind allein im zurückliegenden Jahr getötet worden an der Grenze zu Afghanistan. Jeden Tag sterben unschuldige Zivilisten. Die Amerikaner bombardieren unser Land auf der Suche nach Al Qaeda, ohne zu wissen, wo die sind. Sie behaupten andauernd, militante Ausländer getötet zu haben. Aber Bilder von diesen Toten gibt es nicht. Ich kenne nur Bilder von getöteten Pakistanern. Und von Hunderttausenden, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, die sich in anderen Landesteilen ansiedeln mussten."
    Die Stimmung in der pakistanischen Gesellschaft ist gegen die US-amerikanische Politik in Afghanistan und gegen das Bündnis mit Washington, zu dem sich Pakistans Diktator Musharraf nach den Angriffen vom 11. September 2001 hat bewegen lassen. Auch in der Armee findet die Allianz wenig Unterstützung. Der dem Westen wohlgesonnene General im Ruhestand, Jamshed Ayaz, betreibt seit seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst ein renommiertes Forschungsinstitut. Er formuliert so höflich wie möglich:

    "Die pakistanische Armee muss mit den Amerikanern kooperieren, denn sie ist ja der Regierung unterstellt. Mehr als 150.000 Soldaten stehen an der Nordwestgrenze. Ich persönlich glaube, dieser Krieg dient nicht allein den Amerikanern, sondern auch Pakistan. Denn Extremismus und Terrorismus gab es in dieser Region ja auch schon vor dem 11. September. Allerdings reichen militärische Mittel nicht aus. Man muss den politischen Dialog suchen. Denn es handelt sich ja um unsere Bürger! Wir können nicht, wie die Amerikaner, von "Kollateralschäden" reden und ungestraft davonkommen. Wir müssen die Region gut verwalten, gut regieren, befrieden, Wohlstand schaffen; und nur dann, wenn es wirklich unumgänglich ist, sollte das Militär eingreifen - als letztes Mittel."

    Doch die Amerikaner wollen schnelle Ergebnisse. Im diesem Jahr sollen in Afghanistan Wahlen stattfinden. Die USA befürchten aus diesem Anlass vermehrte Attacken der Taliban. Denen wollen sie mit einer Aufstockung der zivilen Hilfe, aber auch mit militärischer Stärke begegnen. Der künftige Präsident Barack Obama kündigte an:

    "In Afghanistan hat der Krieg gegen den Terror begonnen, und dort muss er auch beendet werden. Wir werden unser Engagement verstärken und die Zahl der Bodentruppen erhöhen, um die Gefahren des 21. Jahrhunderts abzuwehren."

    Um bis zu 30.000 Mann wollen die Amerikaner ihr Kontingent aufstocken. Auch die afghanische Regierung plant, ihre Armee bis zum Jahresende zu verstärken, und zwar um dieselbe Zahl: 30.000. Insgesamt stünden dann rund 200.000 Soldaten in Afghanistan, je zur Hälfte Einheimische und NATO-Verbände, von denen wiederum zwei Drittel Amerikaner wären. Selbst wenn diese maximalen Truppenstärken nicht erreicht werden, unterm Strich sind künftig deutlich mehr Soldaten damit beschäftigt, Sicherheit und Wiederaufbau in Afghanistan zu gewährleisten, als zur Zeit der sowjetischen Besatzung.

    Deren 100.000 Mann waren in den 1980er Jahren nicht in der Lage, das Land zu halten. Wohl auch deshalb, weil sich die militanten Islamisten - aufgebaut und ausgerüstet von den USA - stets ins pakistanische Hinterland zurückziehen konnten, um von dort aus am Ende die Sowjetmacht aus dem Lande zu jagen. Damit sich dieses Szenario nun, wo sich die Vorzeichen umgedreht haben, nicht wiederholt, verlangen die USA von Islamabad, die Grenze besser zu kontrollieren. Doch Ex-General Jamshed Ayaz winkt ab:

    "Die Taliban operieren eindeutig hier. Und sie passieren die Grenze in beiden Richtungen, obwohl wir mehr als 1.000 Checkpoints haben. Aber sie dürfen das! Sie haben Verträge, die bis auf das Jahr der Staatsgründung 1947 zurückgehen, weil durch die Grenzziehung damals ihre Familien geteilt wurden. Und die Militanten unter ihnen erfahren Unterstützung aus der lokalen Bevölkerung, sei es materiell oder ideell."

    Die Grenze, die täglich angeblich 40.000 Menschen überqueren, existiert völkerrechtlich gesehen gar nicht. Es gibt lediglich eine noch von den britischen Kolonialherren geschaffene Demarkationslinie, die ganz bewusst die Siedlungsgebiete der Paschtunen durchschneiden sollte, um das stolze und kriegerische Volk besser beherrschen zu können.

    Vergeblich, wie Tariq Sayeed, der Präsident der südasiatischen Handelskammern, im Brustton der Überzeugung sagt:

    "Unsere Paschtunen vergessen nie. Sie nehmen auch nach hundert Jahren noch Rache. Das ist die Kultur dieser Stämme. Über 1000 Jahre hat sich kein fremder Besatzer im Land der Paschtunen halten können. Sie kamen, aber konnten nicht bleiben. Denn das sind Krieger! Wenn Amerikaner oder wer auch immer glauben, sie könnten dort länger bleiben, von wegen: Sie werden weglaufen!"

    Weder die Paschtunen noch die Regierung in Kabul haben sich jemals mit dieser willkürlichen Grenze abgefunden. Sie schärfer zu überwachen, wie es Washington verlangt, scheitert aber auch an geographischen Gegebenheiten: Es geht um eine 2.560 Kilometer lange Linie in einem unübersichtlichen, bergigen Terrain, in dem der Staat Pakistan nach Meinung von Experten gar keine Autorität hat. Hier regieren schon immer die Stammesfürsten. Sie stehen nicht nur im Verdacht, Terroristen Unterschlupf zu gewähren, sie umgibt vor allem der Nimbus der Unbesiegbarkeit. Und deshalb liegt bei ihnen nach Meinung des Generals im Ruhestand auch der Schlüssel zur Lösung des Problems:

    "Die meisten Stammesfürsten sind friedliebende Leute. Sie haben Pakistan seit 1947 immer wieder verteidigt. Sie sollten auch die militanten Kräfte bekämpfen, jedenfalls die Ausländer unter ihnen."

    Mit den "Ausländern" sind die Mujaheddin gemeint, die "Heiligen Krieger" der Al Qaeda, deren Gründer Osama bin Laden sich womöglich noch immer in dieser Region versteckt hält. Doch ihre Anzahl ist offenbar gering. Der pakistanische Militär-Geheimdienst ISI schätzt, dass sich im gesamten Grenzgebiet rund 7.000 Kämpfer bewegen, darunter aber kaum mehr als 150 dieser meist aus Arabien stammenden Extremisten. Viele von ihnen wurden vom ISI selbst ausgebildet, und zwar auf Geheiß der USA, damit sie die Russen aus Afghanistan vertreiben. Als dieses Ziel 1989 erreicht war und sich die USA aus dem Konflikt zurückzogen, setzte Pakistan die Partisanen im Kaschmir-Konflikt ein und zur Unterstützung der Taliban in Afghanistan. Erst nach den Angriffen vom 11. September 2001 vollzog General Musharraf auf Druck der USA die Kehrtwende und sicherte Washington Schützenhilfe im so genannten Krieg gegen den Terror zu. Er versprach, die traditionsreichen Verbindungen zwischen ISI und Dschihadisten zu kappen. Doch ob und wie weit das jemals geschehen ist, bleibt fraglich.
    Taj Haider, der Chefstratege der regierenden Pakistanischen Volkspartei PPP, hat jedenfalls ernsthafte Zweifel. Der böse Geist des Extremismus sei kaum mehr zurück in die Flasche zu zwingen:

    "Der religiöse Extremismus in diesem Land ist das Ergebnis einer Politik, die seit drei Jahrzehnten amerikanischen Vorgaben folgt. Schon der Diktator Zia ul Haq musste Extremisten anheuern, damit sie die Russen in Afghanistan bekämpfen. Die Diktatoren haben die Extremisten militärisch aufgerüstet, die aber entwickelten bald ihre eigenen Ziele. Der letzte Diktator verfolgte eine Doppelstrategie: Oberflächlich wollte Musharraf die Amerikaner bei Laune halten, indem er ihnen erzählte, er bekämpfe die Extremisten. Gleichzeitig ließ er deren Trainingslager bestehen, und viele von ihnen fühlten sich dort weiterhin sicher."

    Auch heute noch? - Taj Haider sagt, er wisse es nicht. Der militärische Geheimdienst müsse es wissen. Das ist insofern richtig, als der ISI - das Kürzel steht für Inter-Services Intelligence - angeblich alles weiß, was in Pakistan und um Pakistan herum vorgeht. Die geheimnisumwitterte Organisation mit ihren womöglich 10.000 fest angestellten Spionen und einer unbekannten Zahl von Zuträgern und Schnüfflern gilt als Staat im Staate, als mächtigste Institution im Lande. Ihr wird alles zugetraut: die Fälschung von Wahlen, der Sturz von Regierungen, wenn es sein muss, auch Mord. Dass der ehemalige Chef der Organisation, General Hamid Gul, solcherart Gerüchte weit von sich weist, kann nicht überraschen. Immerhin bestätigt er im Gespräch mir dem ARD-Studio Südasien, dass die geheimen Trainingslager der Dschihadisten in Pakistan ursprünglich vom ISI gegründet und betrieben wurden - auf Wunsch der Amerikaner und mit deren Geld und Ausrüstung. Doch Gul bestreitet, dass diese Lager heute - ohne die Profis aus dem Militär - weitere Kämpfer schulen könnten.

    "Ich glaube es nicht. Wir haben dort mehr als 27.000 Afghanen pro Jahr ausgebildet. So etwas können sie nicht aufrecht erhalten."

    Dem 72-jährigen Hamid Gul werden auch persönlich enge Verbindungen zu den "Ausländern" unter den Militanten nachgesagt. Er macht kein Hehl aus seiner Bekanntschaft mit Osama bin Laden, dessen Beteiligung an den Anschlägen vom 11. September er aber glatt bestreitet. Vor kurzem hat die US-Regierung beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beantragt, Hamid Gul auf die Liste der "Internationalen Terroristen" zu setzen. Er hält dieses Ansinnen für absurd und politisch motiviert, weil er die Kooperation Pakistans mit den USA entschieden ablehnt:

    "Es ist ein unnatürliches Bündnis. Es war natürlich, als ein unglückseliges, bettelarmes Afghanistan von der Sowjetunion besetzt wurde. Da waren wir als muslimische Nachbarn in der Pflicht. Es war ein gerechtes Ziel zur rechten Zeit. Diesmal aber wurden wir von den USA in den Dienst gezwungen, um einen schmutzigen Job für sie zu erledigen."
    In einem jüngst erschienenen Interview mit der Zeitschrift "Newsweek" hat auch Pakistans neuer Präsident Zardari den General, der seiner ermordeten Ehefrau Benazir Bhutto einst als Geheimdienstchef gedient hatte, als "Ideologen des Terrors" bezeichnet. Doch jeder weiß, dass Zardari einen gefährlichen Balanceakt vollführt. Einerseits ist er persönlich auf das Wohlwollen und sein bankrotter Staat auf die Wirtschaftshilfe des Westens angewiesen. Andererseits muss er die anti-amerikanische Stimmung in Volk und Armee berücksichtigen. Dass es ihm nicht gelingt, die permanenten Verletzungen des pakistanischen Luftraums durch
    US-Kampfflugzeuge, Raketen und Drohnen zu beenden, wird als nationale Demütigung empfunden.

    Umso mehr, wenn die Berichte darüber mit den so genannten Ausgleichszahlungen der USA an Pakistan verknüpft werden. Zehn Milliarden Dollar sollen seit Musharrafs Kehrtwende im so genannten Krieg gegen den Terror nach Islamabad geflossen sein. Doch niemand scheint zu wissen, an wen. Womöglich an den Putsch-General persönlich? Der Handelskammer-Präsident Tariq Sayeed sagt:

    "Das Geld ging nicht an die Regierung. Jedenfalls ist es nicht an die Staatsbank Pakistans überwiesen und im Haushalt verbucht worden. Summen wie diese wandern unkontrolliert an ihre Empfänger. Es gibt darüber keine öffentliche Rechenschaft. Die Amerikaner haben sicherlich an die Armee bezahlt, aber an wen dort, das wissen sie nur selber. Und in welcher Form? In bar, als Scheck, als Überweisung? Niemand weiß das. Klar ist nur: Das pakistanische Volk hat von dieser 'Unterstützung' nichts gehabt."

    Doch auch unabhängig von finanziellen Aspekten halten gemäßigte Militärs wie Ex-General Jamshed Ayaz die Angriffe im Grenzgebiet, bei denen regelmäßig zahllose Zivilisten ums Leben kommen, für absolut kontraproduktiv:

    Je mehr Drohnen hier hineinfliegen, desto mehr Menschen schlagen sich auf die Seite der Aufständischen. Das ist ein Schneeballeffekt! Stattdessen sollte man mit den Leuten in den Stammesgebieten reden. Das sind erprobte Kämpfer. Überzeuge sie, dass das unsere gemeinsame Schlacht ist, dann werden sie die fremden Leute aus Afghanistan, Arabien, Usbekistan oder woher sie auch kommen mögen, hinauswerfen.

    Ein Anfang scheint gemacht. Angeblich sind Stammesführer in einzelnen Grenzregionen dazu bereit, ihre Milizen gegen die "Heiligen Krieger" einzusetzen. Aber nur, wenn und solange sie nicht von amerikanischen Angriffen bedroht werden. Meldungen aus den USA, nach denen es ein geheimes Abkommen mit der Regierung in Islamabad über die Tolerierung der Attacken auf so genannte "wertvolle Ziele" in Pakistan gäbe, weist der Ex-General empört zurück:

    "Das ist absoluter Quatsch. Es gibt kein Abkommen, denn weder das Volk noch die Regierung kann so etwas wollen. Die Armee schon gar nicht, denn deren Leute werden dort ja getötet. Das ist vollkommen unmöglich."

    Tatsächlich hat US-Präsident Bush noch im Dezember wiederholt, dass seine Regierung Luftschläge in den Stammesgebieten weder ankündige noch mit den betroffenen Staaten diskutiere. In einem viel beachteten Essay stellte die prominente indische Schriftstellerin Arundhati Roy kürzlich fest: "Eine Supermacht hat keine Alliierten. Nur Handlanger."

    Statt amerikanischer Einmischung wünscht sich Jamshed Ayaz mehr Unterstützung - zum einen bei der Aufklärung, die nach den Worten des Generals 90 Prozent des militärischen Erfolges ausmache, zum anderen bei der Finanzierung nicht militärischer, sondern ziviler Entwicklungsprojekte im Grenzgebiet. Hier falle Europa und dem Einfluss Europas auf die USA eine große Aufgabe zu. Denn, so das Motto des Ex-Generals, es gehe nicht darum, die Feinde zu beseitigen, sondern die Feindseligkeiten:

    "Ich denke, Europa könnte eine große Rolle dabei spielen, die Politik der USA zu beeinflussen. Bisher ist Europa den Amerikanern immer gefolgt. Aber es ist inzwischen so stark, dass es über die NATO dazu beitragen könnte, den USA Zügel anzulegen und ihnen zu sagen: Lasst uns die Welt zum Besseren wenden!"