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Unmut trotz Machtzuwachs

Seit der Vertrag von Lissabon in Kraft trat, ist das EU-Parlament von einem beratenden Parlament zu einer Institution mit legislativer Macht geworden. Doch trotz des Machtgewinns haben viele EU-Parlamentarier das Gefühl, bei den entscheidenden Themen außen vor zu sein.

Von Doris Simon | 13.07.2012
    Mit überwältigender Mehrheit wurde ACTA abgelehnt im Europäischen Parlament, ein internationaler Vertrag, der jahrelang ausgehandelt worden war zu Urheberrechten und dem Schutz geistigen Eigentums, der aber die Europaabgeordneten nicht überzeugen konnte. Jetzt ist ACTA erst mal Geschichte und der zweite Fall, in dem das Europäische Parlament nicht der Europäischen Kommission und den Mitgliedsstaaten folgen wollte in einem internationalen Abkommen. 2010 hatten die Parlamentarier das Bankdatenabkommen SWIFT mit den USA gekippt. Der Grüne Jan-Philipp Albrecht:

    "Erst die Abstimmungsmöglichkeit, erst das Zustimmenmüssen, hat im Grunde die Aufmerksamkeit gebracht, dass die Abgeordneten im EP
    was zu sagen haben, und dass sie sich dann selber auch in der Verantwortung sehen und im Zugzwang, zu liefern. Und das muss jetzt meines Erachtens auch bei der Gestaltung der Europäischen Union passieren."

    Ob bei der verstärkten europäischen Aufsicht über die nationalen Haushalte oder bei einer europäischen Bankenaufsicht, das Europäische Parlament war zuletzt immer vorne dabei: Meistens lange, bevor die Regierungen in der EU bereit waren, stimmten die Abgeordneten, sehr oft mit großer Mehrheit quer durch die Fraktionen, für vorausschauende Regeln. Guy Verhofstadt, der Fraktionsvorsitzende der europäischen Liberalen und frühere belgische Regierungschef, wünscht sich noch mehr Energie:

    "Viele Kollegen im Parlament begreifen noch nicht, dass ein Parlament sich seine Macht greifen muss. Man bekommt die Macht nicht in der Politik, man muss danach greifen, ganz sicher ein Parlament."

    Zumal die Regierungen in der Europäischen Union sich nicht damit aufhalten, das europäische Parlament überall einzubinden. Im Gegenteil, wenn es nicht vorgeschrieben ist, verzichten die 27 gerne mal auf das Engagement der Europaabgeordneten. So etwa beim von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy geführten Quartett, das bis zum Oktober erste Vorschläge für die Weiterentwicklung der Europäischen Union präsentieren soll: Mit EU-Kommissionspräsident Barroso, Eurogruppenchef Juncker und EZB-Chef Draghi – aber ohne den Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz. Dass dieser bei EU-Gipfeln nach wie vor nur einen Gastauftritt von einer Stunde bekommt, regt die Abgeordneten seit Langem auf. Parlamentspräsidenten müssten an den gesamten Gipfelberatungen teilnehmen, forderte erregt Joseph Daul, der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei, der auch CDU und CSU angehören:

    "Damit der Präsident des Europaparlamentes endlich mit den Regierungschefs über alles diskutieren kann, was die Zukunft der Europäer betrifft. Der Präsident der Europäischen Kommission nimmt an den Gipfeln teil, so wie auch der EZB-Präsident. Ist der demokratisch gewählte Parlamentspräsident weniger wert als der Präsident der Europäischen Zentralbank?"

    Noch ist nicht absehbar, wann der Präsident des Europäischen Parlamentes erstmals eine lange Gipfelnacht hinter den geschlossenen Türen erlebt. Doch der Widerstand im Europäischen Parlament gegen die, wie man es dort sieht, strukturelle Missachtung wächst massiv, in allen Fraktionen. Das zeigt auch die geeinte Reaktion des Europäischen Parlaments geschlossen auf eine Entscheidung der EU-Inneminister zu Schengen, bei der das Parlament bewusst außen vor gehalten wurde: Die Abgeordneten beschlossen, andere Gesetzgebungsvorhaben, an denen die Regierungen interessiert sind, vorerst auf Eis zu legen. Als der zuständige dänische Minister den Parlamentariern daraufhin einen Dialog zu Schengen anbot, kam es zu einer erregten Debatte im Parlament. Liberalen-Chef Guy Verhofstadt:

    "Wir leben nicht mehr im Mittelalter, als es einen Dialog zwischen König und Parlament gab. Heute leben wir im 21 Jahrhundert, und da geht’s nicht um Dialog, sondern um Mitentscheidung."

    Tatsächlich wundert sich der europäische Liberalenchef nicht darüber, dass Regierungen und Minister immer wieder das Europaparlament außen vor lassen. Sie hätten es einfach noch nicht auf dem Schirm, dass viele Entscheidungen nur mit der Zustimmung der Parlamentarier fallen könnten, sagt der frühere belgische Premier und grinst: Das gelte für ACTA, aber auch für viele reguläre Gesetzgebungsverfahren:

    "Mit dem Vertrag von Lissabon hat der europäische Parlament gleiche Macht mit dem Rat bekommen. Es wird vielleicht noch ein paar Jahre dauern, bis die europäischen Regierungschefs begreifen, was sie mit dem Vertrag entschieden haben."