Hörspiel des Monats August

Die Arbeit an der Rolle

Lucia Lucas, 2020
Lucia Lucas, 2020 © picture alliance / Everett Collection
Von Noam Brusilovsky und Lucia Lucas · 06.11.2021
Sie arbeitet als Heldenbaritonistin, singt und spielt auf der Opernbühne ausschließlich maskuline Rollen. Dies kennt sie auch aus ihrer eigenen Biografie: Jahrelang wurde die Opernsängerin Lucia Lucas als Mann wahrgenommen, bis sie sich im Jahr 2014 als Transgender-Frau outete.
Während sich ihre äußerliche Erscheinung dramatisch veränderte, blieb ihre Stimme unverändert. "Ich suche ständig nach der authentischsten Version von mir selbst," legt Lucas offen.
Das Hörspiel untersucht Rollenspiel und Authentizität in einem Medium, in dem die Einzigartigkeit der Stimme im Vordergrund steht.
Das Hörspiel "Die Arbeit an der Rolle" wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zum Hörspiel des Monats August gekürt.
Begründung der Jury:
Singen lernen bedeutet, die eigene Stimme kennenzulernen. Ist die Tonlage hell oder dunkel, weiblich oder männlich? Wie sehr ist eine Stimme geschlechtlich konnotiert? Mit diesen Fragen haben sich Theater- und Hörspielregisseur Noam Brusilovsky und Sängerin Lucia Lucas beschäftigt und ein vielschichtiges Hörspiel entwickelt, das rund um Mozarts Oper "Don Giovanni" mit echten Überraschungsmomenten aufwartet. In "Die Arbeit an der Rolle" beschreibt Lucia Lucas die Ausbildung ihrer eigenen Stimmlage sowie ihren beruflichen Werdegang, der sie 2009 von Oklahoma nach Deutschland an verschiedene Opernhäuser führte. Allerdings hört man dies alles eine männliche Stimme erzählen. Warum? Lucia Lucas singt auch nicht die Rolle der Donna Anna, sondern die des Titelhelden Don Giovanni, den Prototypen des männlichen Verführers. Wie sehr sich vorgefertigte akustische Bilder beim Hören manifestieren, wird erst klar, als sich Lucas als Trangsgendersängerin vorstellt, ein weiblicher Bariton, der ungeachtet ihrer geschlechtlichen Identität eine klassische Männerstimmlage beherrscht und praktiziert.
Dieser spannende Aspekt aktueller Identitätsdiskurse ist Kern eines raffiniert gebauten Hörspiels, das sich atmosphärisch und szenisch herleitet aus E.T.A. Hoffmanns Novelle "Don Juan", in dem sich ein auf Reisen befindlicher Opernliebhaber im Hotel auf seinen "Don Giovanni"-Besuch vorbereitet. Dieses historische Setting voller Vorfreude auf das Hörvergnügen wird immer wieder verschnitten mit der Gegenwart: mit Lucas‘ Erzählung, mit Reflexionen von Gesangslehrerinnen und Gesangslehrern und internationalen Musikerinnen und Musikern.
Im Sprachengewirr bildet sich nicht nur eine Vielfalt an charaktervollen Sprechstimmen ab, sondern mischen sich auch übende Gesangsstimmen darunter und plötzlich auch ein Computerspiel-Sound, der das Spiel "World of Warcraft" und dessen Zusammenbauen individueller Heldenfiguren analog zu Lucas‘ Identitätsfindung im realen Leben lesbar macht. Man könnte sie eine "Heldenbaritonistin" nennen. Ein Kritiker bezeichnete sie als "Baritonesse".
Das Hörspiel besticht nicht nur durch seine spannend entschlüsselte Dramaturgie und eine sonst wenig beachtete Thematik, sondern hält ausgehend von Lucas‘ "Don Giovanni" auch viel Wissen über klassische Stimmausbildung und Gesangspraxis bereit. Die einigermaßen eng definierten Rollenfächer (der Heldenbariton eignet sich beispielsweise für die Figuren böser Väter oder beleidigter Liebhaber) sind ein ideales Anschauungsfeld bzw. Hör-Feld, um Identitätsschablonen zu diskutieren und aufzubrechen.
Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zeichnet jeden Monat ein Hörspiel aus den Produktionen der ARD-Anstalten aus. Die Entscheidung über das HÖRSPIEL DES MONATS trifft eine Jury, die jeweils für ein Jahr unter der Schirmherrschaft einer ARD-Anstalt arbeitet. Am Ende des Jahres wählt die Jury aus den 12 Hörspielen des Monats das HÖRSPIEL DES JAHRES.

Die Arbeit an der Rolle
Von Noam Brusilovsky und Lucia Lucas
Regie: Noam Brusilovsky
Mit Lucia Lucas, Mechthild Großmann, Vassilissa Reznikoff, Benjamin Lee, James Edgar Knight
Klavier: Alessandro Praticò
Ton und Technik: Andreas Völzing, Phillip Stein
Produktion: SWR 2021

Lucia Lucas, geboren 1980 in den USA, lebt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland und ist in Belgien, Deutschland, England, Irland, Italien, Korea und den USA aufgetreten. Sie verkörperte u.a. Wotan in der "Walküre", die Titelrolle des "Don Giovanni", Monterone in "Rigoletto" oder Figaro in "Le nozze di Figaro".
Noam Brusilovsky, geboren 1989 in Israel, absolvierte 2007 die Thelma Yellin High School of the Arts in Giv’atajim. Er zog 2012 nach Berlin, wo er 2018 sein Studium der Theaterregie an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" absolvierte. Sein Stück "Woran man einen Juden erkennen kann" gastierte 2015 auf dem Körber Studio Junge Regie in Hamburg und wurde 2016 als Hörspiel produziert. Für SWR2 inszenierte er die Hörspiele "Broken German" (Hörspielpreis der ARD 2017) und "Wie die Blinden träumen" von Tomer Gardi sowie "Testo-Junkie" nach dem Text von Paul B. Preciado.