Freitag, 29. März 2024

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UNO-Gesandter Salamé
"Die libysche Bevölkerung will Wahlen"

Der Chef der UNO-Mission für Libyen, Ghassan Salamé, hat sich für eine neue Verfassung und das Abhalten von Wahlen in dem Bürgerkriegsland ausgesprochen. Die Schaffung einer einheitlichen und allgemein anerkannten Regierungsgewalt sei auch der Weg, um die Migrationsfrage zu lösen, sagte Salamé im Dlf.

Ghassan Salamé im Gespräch mit Sarah Zerback | 10.10.2018
    Der UNO-Gesandte für Libyen, Ghassan Salame
    Der UNO-Gesandte für Libyen, Ghassan Salame (imago stock&people)
    Sarah Zerback: Aus Libyen soll wieder ein Staat werden, nicht nur ein Land, in dem unterschiedlichste Milizen mehr oder weniger zusammenarbeiten, das im Bürgerkrieg versinkt seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes 2011, in dem Feuerpausen von den Vereinten Nationen vermittelt und immer wieder gebrochen werden und das zum Knotenpunkt der Migrations- und Flüchtlingsbewegung nach Europa geworden ist, mit katastrophalen humanitären Folgen für Menschen, die fliehen, ebenso wie für die, die bleiben müssen. Das Land zu stabilisieren, darum bemüht sich Ghassan Salame, seit Juni 2017 Chef der UNO-Mission für Libyen. Mit ihm habe ich vor dieser Sendung sprechen können und ihn zunächst gefragt, wie groß er die Chancen dafür sieht, oder ob Libyen bereits zum gescheiterten Staat geworden ist.
    Ghassan Salamé: Die Antwort ist komplexer, als Ihre Frage nahelegt. Es gibt Teile des Landes, die wenn nicht gut, so doch fast normal funktionieren. Wir haben immerhin die höchste Ölproduktion seit dem Jahr 2014 mit mehr als 1.200.000 Fass pro Tag. Die Justiz ist einig und funktioniert nahezu normal. Die Gehälter an die Bürger werden ausgezahlt. Ein Drittel aller Bürger bekommt ja das Geld vom Staat, und dieses wird auch rechtzeitig überwiesen. In Teilen funktioniert das Land fast normal.
    Es gibt aber auch erhebliche Problemfelder. Zum ersten gibt es mehr als 100 bewaffnete Gruppen. Sehr viele Waffen zirkulieren im Land. Man schätzt, dass auf jeden Libyer zwei bis drei Waffen kommen. Die Sicherheitskräfte der regulären Truppen sind keineswegs vereinigt. Hier bleibt sehr viel zu tun.
    Darüber hinaus ist die international anerkannte Regierung nicht in der Macht, die Kontrolle über das Territorium auszuüben. Es gibt Teile des Landes, die außerhalb des Einflussbereiches der offiziellen Regierung liegen. Sehr viel ist da zu tun. Die politischen Institutionen funktionieren darüber hinaus noch nicht einwandfrei. So kann man sagen: Einerseits steht es in vielen Teilen des Landes bereits schon fast gut; andererseits ist aber noch sehr viel zu tun.
    "Niveau der Gewalt viel niedriger als in Syrien"
    Zerback: Angesichts der anhaltenden Kämpfe in und um Tripolis, der ausgerufene Ausnahmezustand, der Zusammenbruch der Wirtschaft, der Menschenrechtsverletzungen auch, da gibt es bereits Stimmen, die sagen, Libyen wird zum nächsten Syrien. Teilen Sie diese Bedenken?
    Salame: Nein! Zunächst einmal, weil wir viel weniger Opfer dort zu beklagen haben. Wir hatten einige Wochen lang in Tripolis heftige bewaffnete Kämpfe und da sind etwa 100 Menschen zu Tode gekommen, während man in einem normalen Monat in Libyen fünf, sechs oder sieben zivile getötete Opfer zu verzeichnen hat. Das Niveau der Gewalt ist in Libyen sehr viel niedriger als in Syrien. Bedenken Sie: Libyen ist ein reiches Land. Der Konflikt dreht sich im Wesentlichen um Zugang zu den Ressourcen, während Syrien im Vergleich dazu ärmer ist und in Syrien spielen auch ideologische, religiöse und politische Kämpfe eine viel größere Rolle als in Libyen, das ja sprachlich und auch religiös viel homogener ist. Es ist der Kampf um Ressourcen. Jede Partei und jede Gruppe möchte ein möglichst großes Stück von dem Ölkuchen für sich abhaben.
    Zerback: Sie beschreiben die Situation, auch die politische, als äußerst komplex. Im Dezember 2015 wurde das sogenannte Libyen Political Agreement unterzeichnet, vermittelt von der UN. Bislang hat das allerdings nicht dazu geführt, dass die politischen Probleme des Landes gelöst wurden. Warum nicht?
    Salame: Zunächst einmal vielleicht deswegen, weil die Unterzeichner dieses Abkommens nicht repräsentativ genug waren. Viele im Lande haben diese Übereinkunft nicht akzeptiert, obwohl der UN-Sicherheitsrat diese Regierung anerkannt hatte. Erhebliche Teile der Bevölkerung stehen nicht hinter diesem Abkommen.
    Zweitens, weil wichtige Teile dieser Vereinbarung nicht umgesetzt sind. Und deswegen drängen wir darauf, dass sie jetzt in die Tat umgesetzt werden – insbesondere die Wirtschaftsreformen und die Reformen im Bereich Sicherheit. Wir sind im Bereich Wirtschaftsreformen ein gutes Stück des Weges vorangekommen. So haben wir insbesondere jetzt auch jeden Tag ein Treffen, um die Sicherheit in der Hauptstadt sicherzustellen. Mit Hilfe der UNO trifft sich der zuständige Rat jeden Tag. Wir haben auch einen Plan für wirtschaftliche Reformen, den der Premierminister letzte Woche unterzeichnet hat, und als unmittelbare Folge daraus hat der libysche Dinar bereits um 25 Prozent aufgewertet, während die Kosten für die Lebenshaltung um 20 Prozent nach unten gegangen sind.
    Ich fasse zusammen: Dieses Abkommen ist nicht völlig umgesetzt worden und es wird auch nicht von der gesamten Bevölkerung akzeptiert. Aber wir arbeiten an beidem, erstens an der Umsetzung des Abkommens sowie auch an einer höheren Akzeptanz durch die Bevölkerung.
    "Hunderttausende haben sich in Wählerlisten eintragen lassen"
    Zerback: Tatsächlich wurden ja weder Premierminister Sarradsch noch die Mitglieder der Einheitsregierung vom Volk gewählt. Sie werden aber von der UN gestützt. Nach allem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben, können Sie da wirklich eine führende Rolle spielen, um das Land zu stabilisieren?
    Salame: Solange wir es nicht schaffen, eine friedliche Änderung dieses Präsidentenrates herbeizuführen, lehnen wir es rundweg ab, dass durch Gewalt diese Regierung gestürzt werden soll. Aus diesem Grunde haben wir auch kürzlich diesen Waffenstillstand in Tripolis vereinbart. Es gab ja offenkundig Kräfte, die versuchten, diese Regierung der nationalen Einheit gewaltsam zu stürzen. Wir ermutigen die Regierung aber auch, aktiv zu werden und wirklich zuzugehen auf jene Teile der Bevölkerung, die sie bisher noch ablehnen. Ich glaube, auch die Regierungsumbildung, die kürzlich erfolgt ist, spiegelt es wieder, dass die Regierung sich dessen bewusst ist, dass sie mehr tun muss, um eine höhere Akzeptanz in großen Teilen der Bevölkerung herbeizuführen.
    Zerback: Sie, Mr. Salame, haben vor ziemlich genau einem Jahr einen Aktionsplan vorgelegt, um den Friedensprozess wieder in Bewegung zu bringen, damit Wahlen stattfinden können. Die wurden dann beim Pariser Gipfel auch beschlossen und vom französischen Präsidenten verkündet für den 10. Dezember diesen Jahres. Jetzt haben Sie sich kürzlich geäußert und den Termin infrage gestellt. War der Termin denn jemals realistisch, politisch, organisatorisch auch?
    Salame: Hört man sich bei den Libyern um, dann wird klar: Sie wollen die Wahlen, während die regierende Klasse natürlich im Amt bleiben will. Die Libyer selbst wollen sie austauschen. Als Beweis dafür ist anzuführen, dass die libyschen Bürger geradezu zu den Eintragungslisten gestürmt sind. Zu Hunderttausenden haben sie sich in den Wählerlisten eintragen lassen. Sie wollen wirklich die Wahlen. Aber es gibt noch einige Bedingungen, die vorher zu erfüllen sind: erstens ein Wahlgesetz. Das gibt es noch nicht. Zweitens müsste das Parlament eine derartige Wahlgesetzgebung verabschieden, und sie sind außerordentlich zögerlich, Wahlen zuzulassen, durch die die Mehrzahl der Abgeordneten wahrscheinlich ersetzt werden würde. Drittens fehlt es noch an Sicherheit und wir brauchen unbedingt auch das Einverständnis der bisherigen Parteien, dass sie die Ergebnisse einer Wahl akzeptieren würden, um denselben Stillstand zu vermeiden, den wir 2014 erlebten, als das Parlament sich weigerte, dem neugewählten Parlament Platz zu machen.
    Sie sehen: Bedingungen müssen erfüllt werden. Von denen sind einige gegeben, wie zum Beispiel die Wählerlisten. Daneben gibt es aber auch Hindernisse, wie zum Beispiel die Krise, die kürzlich zu verzeichnen war im Bereich des ölproduzierenden Halbmondes, sowie auch Terroranschläge. Der schlimmste dieser Terroranschläge richtete sich ja kürzlich gegen die Wahlkommission, die dadurch gehindert war, ihre Arbeit auszuführen. Die libysche Bevölkerung will aber als solche Wahlen und wir sollten sie dessen nicht berauben. Im Gegenteil: Wir sollten sie dabei unterstützen, derartige Wahlen vorzubereiten, gleiche und gerechte Wahlen. Wir sollten sie mit allen logistischen und sicherheitstechnischen und sonstigen Mitteln unterstützen, um diese Wahlen durchzuführen.
    "Internationale Gemeinschaft muss mehr tun"
    Zerback: Aber vor all diesen Hindernissen, was lässt Sie hoffen, dass Wahlen das Land tatsächlich stabilisieren können, statt die Sicherheitslage noch weiter zu verschlechtern?
    Salame: Sehen Sie, wenn Sie keinen politischen Prozess am Laufen halten, wenn Sie nicht die Versöhnung vorantreiben, Wahlen und eine Verfassung in Aussicht stellen, dann ist ja die einzige Alternative weiterer bewaffneter Kampf. Sie brauchen unbedingt eine Aussicht auf den politischen Prozess, eine Sicht auf Verfassung, auf Wahlen. Und wir haben doch durchaus Erfolge erzielt. Wir haben mit allen 70 Bürgermeistern eine Konferenz abgehalten. Wir hatten viele Bürgerversammlungen, ohne dass auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre. Wir haben Treffen der beiden Parallelregierungen veranstaltet. Wir hatten Treffen der Zentralbank mit den beiden Regierungen in Tripolis und in Beyza. Aber Libyen ist keine leicht zu gewinnende Partie. Hier braucht es wirklich den langen Atem. Aber wenn man nicht die atmosphärischen Voraussetzungen und die Bedingungen schafft, um einen Frieden herbeizuführen, dann wird es wieder zu neuem Krieg führen. Wir brauchen den politischen Prozess, um denjenigen, die mit der jetzigen Lage unzufrieden sind, einen Ausweg zu ebnen, und dieser heißt Verfassung und Wahlen. Diese Punkte müssen wirklich auf der Tagesordnung bleiben, um einen friedlichen Weg zu einer besseren Zukunft in Libyen zu schaffen.
    Zerback: Was die Lage in Libyen sogar noch schwieriger macht ist, dass das Land noch immer der zentrale Ausgangspunkt ist für Flüchtlinge und Migranten, um nach Europa zu kommen. Vermuten Sie hier den wahren Grund für den internationalen Druck, um das Land zu stabilisieren?
    Salame: Diesen Druck spüre ich gar nicht so sehr. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Staatengemeinschaft hier sich besonders einsetzt. Sie sollte im Gegenteil mehr dafür tun. Im Augenblick konzentriert sich alles auf die Eindämmung der Migration. Aber der Weg, um die Migration wirklich zu beenden oder zu bewältigen, wäre die Schaffung einer legitimen, einheitlichen und allgemein anerkannten Regierungsgewalt. Und zurzeit ist vonseiten der Staatengemeinschaft einfach in dieser Richtung viel zu wenig Druck zu spüren. Man beschränkt sich darauf, kurzfristig die Migration zu bewältigen oder einzudämmen. Aber wirklich substanzielles, nachhaltiges Handeln würde darin bestehen, dass man die Migrationsfrage dadurch löst, dass man eine einheitliche, zentrale, anerkannte, legitime Staatlichkeit schafft in Libyen. Und dazu müsste die internationale Staatenwelt sehr viel mehr tun.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.