Britische Punk-Band Shame

"Jeder ist bei unseren Konzerten irgendwie nackt"

Charlie Steen von der Londoner Band Shame steht bei einem Live-Auftritt im September 2017 mit einem Band-Mitglied oben ohne auf der Bühne und singt kraftvoll in ein Mikrofon, die Arme nach hinten gestreckt.
Charlie Steen von der Londoner Band Shame bei einem Live-Auftritt im September 2017 © imago / PA Images / Richard Gray / EMPICS
Charlie Steen und Eddie Green im Gespräch mit Dirk Schneider · 04.12.2017
Die Londoner Newcomer Shame sind zwar erst 19 Jahre alt, haben aber bereits den Ruf als aufregende Live-Band. "Wir wollen, dass bei unseren Konzerten alle aufhören, sich zu kontrollieren, und wirklich sie selbst sein können", sagt einer der Musiker vor ihrer Deutschlandtour.
Dirk Schneider: Shame, das ist ja ein großer Name, der klingt wie ein Aufschrei - ist das so gemeint?
Eddie Green: Nein, das war nicht als Aufschrei gemeint. Tatsächlich war der Name der Vorschlag eines engen Freundes. Und wir fanden ihn erst gar nicht gut. Aber aus irgendeinem Grund haben wir ihn dann doch genommen. Wir haben uns nicht sonderlich viele Gedanken darüber gemacht.
Charlie Steen: Ja, in den meisten Dingen steckt ja nicht so viel Absicht, wie man oft denkt.
Dirk Schneider: Ich weiß sehr wenig über Sie, über die Musik hinaus, darum frage ich ganz einfach mal: Kommen Sie aus der Arbeiterklasse? Sie sehen erstmal nicht so aus. Sie sehen auch nicht aus wie Punks.
Eddie Green: Wir kommen aus dem Süden von London. Und wir sind sicher keine Punks im klassischen Sinne, auch wenn unsere Musik sicher irgendwie Punk ist. Aber heute braucht man die Punk-Ästhetik auch wirklich nicht mehr.
Charlie Steen: Ja, einen Irokesenschnitt tragen und kaputte Hosen ist natürlich Quatsch. Diese ganzen Codes sind sowieso völlig ineinander übergegangen, und wir wollen auch nicht mit so einem Etikett belegt werden.

Texte als Kommentar zur sozialen Lage

Dirk Schneider: Warum ich diese Frage stelle, hat natürlich den Grund, dass ich wissen möchte, welchen Blick Sie auf die Welt haben, und woher Ihre Wut kommt.
Eddie Green: Es gibt so viel soziale Ungerechtigkeit in Großbritannien in diesen Tagen, das betrifft eigentlich alle jungen Menschen, egal, welchen sozialen Hintergrund sie haben. Unter dem Brexit werden alle leiden. Die unglaublichen Preise in London, die einem das Leben dort fast unmöglich machen. Es gibt viel Wut in der Musik, nicht nur bei uns, und die speist sich aus diesen Sachen.
Charlie Steen: Ich würde auch nicht nur von Wut sprechen, sondern auch von Unsicherheit.
Eddie Green: Ja, wir sehen all diese schrägen Dinge, die vor sich gehen, und unsere Musik ist ein Kommentar dazu.
Dirk Schneider: Auf Ihrem Album findet ganz oft ein Dialog mit einem imaginären Gegenüber statt. Haben Sie eine politische Agenda, oder geht es eher um zwischenmenschliche Dinge, oder singen Sie darüber, wie sich der Zustand der Welt auf das Zwischenmenschliche auswirkt?
Charlie Steen: Ich schreibe alle Texte, die sind entstanden seit ich 17 war, jetzt bin ich 20, so lange gibt es auch unsere Band schon. Es geht in jedem Text um etwas anderes, aber alle sind irgendwie auch als Kommentar zur sozialen Lage zu verstehen. Es gibt einen explizit politischen Song, der von Theresa May und dem Brexit handelt, aber alles andere sind Beobachtungen.
Eddie Green: Ja, ich würde auch nicht sagen, dass wir eine Agenda haben. Wir haben unsere Überzeugungen, und die drücken wir in der Musik aus.

Mit Facebook-Post zu Billy Bragg

Dirk Schneider: Ihre Musik hat eine wahnsinnige Dynamik. Und dann gibt es aber auch so textliche Dynamiken, wie das Frage-und-Antwort-Schema in Ihrem Song "Concrete". Man fragt sich, wie Sie in der Band kommunizieren, wie Sie gemeinsam über Themen sprechen, wie Sie gemeinsam funktionieren. Machen Sie nur Musik, oder sitzen Sie auch viel zusammen und diskutieren über Dinge?
Eddie Green: Wir verbringen die ganze Zeit zusammen.
Charlie Steen: Ja, mehr als mit unseren Eltern und Freundinnen, mit den Leuten, die wir eigentlich lieben.
Eddie Green: Ja, vielleicht kommt dieses Frage-Antwort-Schema wirklich daher, darüber habe ich noch nie nachgedacht.
Charlie Steen: Es geht in dem Song um interne Streitigkeiten. Man kann über die Band sehr viel erzählen, aber ich möchte jetzt wirklich nicht zu viel davon ausplaudern.
Dirk Schneider: Sie wurden von Billy Bragg eingeladen, auf der Leftfield Stage beim Glastonbury Festival zu spielen. Was hat Ihnen das bedeutet?
Eddie Green: Das war natürlich eine große Ehre, dass Billy Bragg uns wahrgenommen und eingeladen hat. Wir alle haben ihn schon immer bewundert, als Musiker und als politischen Aktivisten. Das war schon surreal, dass wir nach Glastonbury gefahren sind und ihn dort getroffen haben. Er ist ein großartiger Typ.
Charlie Steen: Er hat uns wegen unserer Musik eingeladen. Aber aufmerksam wurde er auf uns wohl wegen eines Facebook-Posts. Wir haben beim Reading-Festival gespielt, wo in dem Jahr nur drei Bands mit Frauen aufgetreten sind, und haben kommentiert, dass wir dem Festival nur noch mehr Testosteron hinzufügen. Und daraufhin hat er uns eine Nachricht geschrieben. Das war wirklich eine große Sache für uns. Und für unsere Eltern.
Eddie Green: Ja. Jeder liebt Billy Bragg.

"Das erzeugt eine ungeheure Kraft"

Dirk Schneider: Bewundern Sie ihn wirklich vorbehaltlos, oder gibt es nicht auch einen Bruch zwischen seiner Generation und Ihrer?
Charlie Steen: Wir sehen das gar nicht so. Die meisten unserer Freunde sind viel älter, aber das nehmen wir kaum war. Wir wollen uns auch nicht von Menschen abgrenzen, nur weil sie älter sind. Aber Billy Bragg hat wirklich jeden Respekt verdient. Er hat sich nie verkauft, er macht immer noch seine Musik und arbeitet sehr hart.
Dirk Schneider: Sie haben sich schon einen großen Ruf als Live-Band erspielt. Was ist denn das Besondere an Ihren Auftritten? Sofern Sie das überhaupt selber beurteilen können.
Eddie Green: Bei unseren Auftritten geht es uns wirklich vor allem um Unterhaltung. Wir wollen, dass wirklich jeder Spaß daran hat, auch Leute, die unsere Musik nicht unbedingt mögen. Wir haben vor einem sehr kleinen Publikum begonnen, und auf der Bühne wirklich durchzudrehen war für uns eine sehr befreiende Erfahrung. Wir haben mit unserer Bühnenenergie kompensiert, dass wir in leeren Pubs gespielt haben, und ich glaube, daher kommt dieser Ruf. Unsere Auftritte sind gar nicht so verrückt, wie gerne behauptet wird.
Charlie Steen: Wir wollen einfach, dass bei unseren Konzerten alle aufhören, sich zu kontrollieren, und wirklich sie selbst sein können. Das erzeugt wirklich eine ungeheure Kraft, im Publikum, und damit auch wieder bei uns. Unsere Energie speist sich nicht nur aus Wut, sie hat viele Aspekte. Und wir verneinen die Grenze zwischen Band und Publikum. Jeder ist bei unseren Konzerten involviert. Und jeder ist irgendwie nackt.
Dirk Schneider: Sie gehen jetzt mit der Berliner Band Gurr auf Tour, kennen Sie diese Band schon?
Charlie Steen: Wir haben die Band vor langer Zeit mal getroffen.
Eddie Green: Wirklich?
Charlie Steen: Ja, in Rotterdam.
Eddie: Aaaah ja, richtig! Klar, ich kenne die Musik.
Charlie Steen: Ja, wir freuen uns. Es ist auch unsere erste Tour in Deutschland. Also, kommt alle, und lasst den Schweiß fließen!

Im Dezember hat Shame als Support der deutschen Indie-Band GURR zwölf Aufritte in Deutschland. Mehr Infos zur Band auf ihrer Website.

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