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"Unsere Familien lebten doch seit 22 Jahren nebeneinander!"

Er ist in Polen bekannt als "Blutiger Sonntag", der 11. Juli 1943: Die Massaker von Wolhynien und Ostgalizien 1943, bei denen bis zu 120.000 Polen von den ukrainischen Nationalisten ermordet worden waren, sind in Deutschland kaum bekannt, belasten die Beziehungen zwischen Warschau und Kiew aber bis heute.

Von Dorota Swierczynska und Margarete Wohlan | 15.07.2013
    Aleksander Pradun: "Es ist kaum zu beschreiben: Alles schrie und weinte. Kinder, die unter den Leichen nach ihren Müttern suchten und erschossen wurden. Meine Mutter wollte, dass wir diesem Morden nicht länger zusehen. Sie drückte mich an sich – und dann schossen sie, erst auf meine Tante. Dann merkte ich, wie der Arm meiner Mutter erschlaffte – sie hatten sie getroffen. Ich lag regungslos da, um mich herum Totenstille. Und dann hörte ich die Ukrainer rufen: 'Die polnische Fresse liegt hier, besiegt!'"

    Es ist der 30. August 1943 und Aleksander Pradun ist 13 Jahre alt. Im Morgengrauen überfallen ukrainische Nationalisten sein Dorf Ostrowka – im Nordwesten der Ukraine, in der Woiwodschaft Wolhynien. Sie treiben die hier lebenden Polen zusammen, trennen die Männer von den Frauen und Kindern, töten zuerst die Männer mit Äxten und Beilen und erschießen dann, im nahegelegenen Wald, die Frauen und Kinder. Insgesamt eintausend Opfer. Fast die ganze Familie von Aleksander Pradun wird ermordet – nur er und sein Vater überleben.

    "Es hat einfach niemand geglaubt, dass so etwas passieren kann. Es ist nicht wahr, dass wir Feinde waren! Wir lebten schon lange friedlich nebeneinander. Und dann soll der eine den anderen ermorden? Weshalb?"

    Und doch geschieht es. Im Februar 1943 beginnt das Morden an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien – genau zu dem Zeitpunkt, als die Wehrmacht die Schlacht um Stalingrad verliert. Der Wendepunkt des Krieges an der Ostfront. Für die ukrainischen Nationalisten die Chance, ihre Idee der ethnisch reinen Ukraine umzusetzen. Nachbarn werden plötzlich zu Feinden, erinnert sich Stanislaw Bzymek, heute 81 Jahre alt:

    "Mein Vater lief zu uns Kindern und meiner Mutter, drehte sich um – und erkannte den, der gerade geschossen hat: Ein Nachbar, Jasiek Hordyk! Da sagte mein Vater zu ihm: Jasiek, was habe ich dir getan? Der ließ den Kopf hängen und erschoss uns nicht. Unsere Familien lebten doch seit 22 Jahren nebeneinander!"

    Stanislaw Bzymek flieht mit seinen Eltern und Geschwistern ins größere Dorf Stare Pendyki, zu Verwandten. Hier wähnen sie sich in Sicherheit. Doch am 29. März 1943 ändert sich das schlagartig.

    "Im Morgengrauen kamen sie. Meine Mutter fing an, Rosenkranz zu beten. Ich schrie: Mama, lass uns fliehen, hier brennt doch alles! Sie wollte nicht. Also lief ich allein fort. Sie schossen hinterher. Die Kugeln pfiffen nur so an mir vorbei, es war, als ob die Erde von dem Kugelhagel in Brand gesetzt werden würde. Aber es gelang mir zu entkommen!"

    Drei Monate später trifft der elf Jahre alte Stanislaw seinen Vater wieder, der mit den zwei jüngeren Kindern fliehen konnte. Die Mutter überlebt nicht.

    Das, was die Familien von Stanislaw Bzymek und Aleksander Pradun durchmachen, wiederholt sich tausendfach in den Dörfern der Woiwodschaft Wolhynien im Nordwesten der Ukraine. Ein Jahr lang – bis Februar 1944 – ermorden die Ukrainer hier 50.000 bis 60.000 Polen, manche Historiker sprechen sogar von 100.000 Polen.

    Das Massaker in Wolhynien weitet sich auf Ostgalizien aus, wo bis zu 25.000 Polen umgebracht werden. Die Polen wiederum üben Rache und töten zehntausend Ukrainer. Wer Feind und wer Freund ist, kann damals niemand auf Anhieb sagen. Und so sind es denn auch Wehrmachtsoldaten, die Stanislaw Bzymek vor den Ukrainern retten:

    "Deutsche haben uns in die Stadt Luzk gebracht und damit aus der unmittelbaren Gefahr heraus. Sie hielten leere LKW der Wehrmacht an und ließen uns rauf. Kurz vor Luzk ließen sie uns raus, denn sie durften ja keine Zivilisten mitnehmen. Ja, ja, die Deutschen haben uns eigentlich gerettet."

    Bis heute belasten die Massaker von Wolhynien die Beziehungen zwischen Warschau und Kiew. Denn die Ukrainer fühlen sich nicht verantwortlich, in ihren Schulen wird nichts darüber erzählt. Für Stanislaw Bzymek, der sich auch nach 70 Jahren noch an jedes Detail erinnert, ist das unbegreiflich:

    "Ich hatte Sehnsucht nach Wolhynien und fuhr im letzten Jahr hin. 180 Dörfer, viele zugewachsen mit Gestrüpp. Ich suchte das Massengrab, in dem die Polen liegen sollen, fragte herum – aber niemand konnte sich erinnern. Wie kann das sein? Ich kann diese Morde nicht vergessen. Und doch müssen wir verzeihen, denn es sind so viele Jahre vergangen und die jungen Ukrainer sind unschuldig."


    Zum 70. Jahrestag senden Deutschlandradio Kultur und das erste Programm von "Polskie Radio" mehrere Beiträge über die damaligen Ereignisse - geschildert von denen, die überlebt haben.
    Beitrag zum Jahrestag des "Blutigen Sonntags" am 11. Juli 1943 auf Polskie Radio

    Mehr auf dradio.de:

    Ukrainisch-polnische Traumata - Die Stadt Luzk und ihre wechselvolle Geschichte