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Unsichtbare Einsamkeit

Markus Orths zählt zu den weniger auffälligen, dafür aber regelmäßig veröffentlichenden deutschen Autoren. Mit dem Roman die "Tarnkappe" liefert er eine weitere Probe seines Talents ab.

Von Oliver Seppelfricke | 11.05.2011
    Die Tarnkappe ist nicht nur ein mittelalterlicher Traum, sie entstammt der ewigen Traumfabrik des Menschen. Es ist ein altehrwürdiges literarisches Motiv, dem jetzt auch der Autor Markus Orths seine Referenz erweist.

    "Es ist ein generelles Interesse, mir vorzustellen, was mit einem Menschen geschieht, den man nicht sehen kann. Also ich habe mir oft vorgestellt, was wäre ich eigentlich, wenn mich niemand sieht. Und die Antwort ist natürlich ganz einfach: Ich wäre niemand, ich wäre nichts. Also man existiert im Prinzip nur durch die Augen der anderen. Ohne gesehen zu werden, ist man quasi niemand. Und das mal durchzuspielen hat mich sehr gereizt."

    Simon Bloch heißt der Held in Markus Orths Roman, dem die Tarnkappe eines Tages zugespielt wird. Simon Bloch, Mitte 40, ist ein fader Durchschnittsmensch. Um halb sieben steht er auf, zum Frühstück gibt es immer das Gleiche - Orangensaft, Marmeladenbrot, Kaffee -, dann faltet er die Tageszeitung so auseinander, dass er sie zu einzelnen Päckchen wieder zusammenlegt und in seiner Jackentasche platziert, auf dem Weg zur Arbeit entnimmt er sorgfältig jedes einzelne dieser Päckchen, entfaltet es und liest die Seiten. Simon ist Sachbearbeiter in einem Büro für Kundenbeschwerden, ein telefonischer Blitzableiter, früher einmal ging er auf die Musikhochschule, wollte Pianist werden, ein Sehnenriss im kleinen Finger setzte dem jäh ein Ende. Seither träumt er davon, Filmmusik zu komponieren, aber auch das bleibt nur ein Traum. Und: Simon ist verwitwet. Seine Frau verlor er, als ihr bei einem Routinespaziergang ein Ziegel im Sturm auf den Kopf schlug, jetzt wartet Simon darauf, dass auch sein Ziegel käme. Doch es kommt alles anders. Simon erhält die Tarnkappe, die ihn unsichtbar macht, aber auch gleichzeitig einsam. Einsamkeit ist ein großes Motiv in diesem Buch. Markus Orths:

    "Es wird dadurch natürlich immer wichtiger und immer elementarer, als dass er immer mehr unter der Kappe verschwindet und sich immer mehr berauscht an dieser Möglichkeit, nicht gesehen zu werden. Erst ganz am Schluss merkt er, was das für ihn bedeutet: dass er ganz allein ist und im Prinzip auch verschwindet. Das alles kann man sicher auch lesen ohne die Kappe. Als Vereinsamungsprozess des heutigen Menschen. Der den Kontakt verliert zur Realität, der sich sozusagen in seinem Leben eingerichtet hat, ohne dort irgendetwas zu haben, was ihn noch befeuert."

    Bewegung kommt in Simons Leben, als er eher unfreiwillig einen alten Freund trifft, Gregor. Der ist inzwischen zum Bettler geworden, so scheint es, und Simon ist abgestoßen von Gregors äußerer Erscheinung. Auf dem Kopf hat dieser viele kahle Stellen, so als hätte man ihm die Haare ausgerissen. Gregor liefert eine Tasche bei Simon ab, nutzt einen Moment, um im Schrank eine Tüte zu verstecken, doch Simon entdeckt sie: In der Tasche ist eine Mütze, eine Kappe. Sie stinkt, ist ranzig, Simon schmeißt sie erst weg, doch dann besinnt er sich eines anderen: Er sucht sie im Müll wieder auf und setzt sich die Kappe auf. Und: Er wird unsichtbar! Zunächst probiert er es zaghaft in seiner eigenen Wohnung, dann in der Wohnung der Nachbarin, dann im Kreißsaal eines Krankenhauses, er, der Kinderlose, dann bekommt die Kappe eine solche Macht über ihn, dass Simon ihr völlig verfällt. Er kann sie kaum noch absetzen. Und man ahnt: Das kann nicht gut enden! Und wird es auch nicht. Doch wie Markus Orths die Spannung auf das Ende hin steigert, was er seinen Figuren widerfahren lässt und welche Schicksale er für sie bereithält, das lässt einen erschauern und erschrecken. Geschickt mischt der Autor hier Grusel- und Horrorelemente, Abenteuer- und Entwicklungsroman, Schauer- und Sehnsuchtsgeschichte, eine Geschichte zum Erstarren!

    "Ja, das ist auch etwas, was ich sehr gerne mache, auch Neues auszuprobieren, neue Grenzen zu testen. Mir war ehrlich gesagt gar nicht so klar, dass das im zweiten Teil so zu einer Gothic Novel wird, zum Schauerroman. Ich habe Frankenstein, Dracula, natürlich Edgar Ellen Poe, den ich sehr liebe und viele andere Schauerromane schon so verinnerlicht gehabt, dass mir in dem Moment schon gar nicht mehr so klar war, dass ich zum Schluss hin diesen Schauerroman geschrieben habe."

    Markus Orths erzählt seine Geschichte in einer sehr genauen Sprache, die in vollkommener Ruhe und Klarheit dahinfließt und dadurch das Grauen noch steigert. Man liest dieses Buch mit zunehmendem Entsetzen, und das liegt vor allem am gleichbleibenden Ton.

    "Ich habe, dadurch dass es halt am Anfang noch stärker ein Genremix war, als es jetzt in dieser Endfassung ist, mehrere Töne auch gehabt und mich dann doch immer mehr für den ruhigen, melancholischen Ton entschieden."

    Und dennoch: Die Geschichte zerfällt ein wenig, am Anfang steht Simon Blochs leeres Leben, seine fade Routine, dann kommt die Tarnkappe in sein Leben, verwirrt und verhext ihn geradezu, und im letzten Drittel geht es auf die Suche nach einer längst entschwundenen Person. Man hat also drei Teile eines Romans vor sich, die der Autor besser miteinander verknüpfen und motivieren sollte. So liefert Markus Orths ein weiteres Mal eine Probe seines Talents, das ganz große Buch ist aber auch "Die Tarnkappe" nicht geworden!

    Markus Orths: Die Tarnkappe. Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main, 223 Seiten, 19,95 Euro.