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Unter den Meeresfluten begraben

Platons Erzählung vom sagenhaft reichen und mächtigen Inselstaat Atlantis, beflügelt als Sehnsuchtshorizont wie als Menetekel des Weltuntergangs bis heute die Phantasien. Die Seemacht Atlantis überfällt Ur-Athen, wird von diesem im Kampf zu Lande aber besiegt und da die Götter wegen seiner zunehmend von materialistischen Interessen bestimmten Lebensführung auf Atlantis zornig sind, wird es in nur einer Nacht für immer unter den Meeresfluten begraben.

Von Andrea Gnam | 01.05.2006
    Der französische Historiker Pierre Vidal-Naquet skizziert in seiner im Beck Verlag erschienenen Studie "Atlantis. Geschichte eines Traumes" die internationale Rezeption des mythischen Atlantis über eine Zeitspanne von mehr als 2000 Jahren. Sein Augenmerk gilt dabei ebenso den Kuriosa der geographischen Ortungsversuche, wie den Erzählstrategien, die Platon anwendet, um "Atlantis", als zugleich fiktiv wie möglicherweise doch real vorhanden, zu charakterisieren. In Platons kosmologischer Schrift "Timaios" und besonders ausführlich im Dialog "Kritias" wird von Atlantis berichtet.

    Die Überlieferungswege der Atlantis-Geschichte werden von Platon selbst als sehr verschlungen gezeichnet: Kritias, der seinen Dialogpartnern von Atlantis berichtet, will die Geschichte von seinem Großvater erfahren haben. Dieser habe ihm berichtet, was er selbst von Solon gehört hatte. Aber auch Solon ist – rein zeitlich – noch weit davon entfernt, ein Augenzeuge zu sein. Hatte er doch seinerseits über Atlantis und den Kampf der Ur-Athener gegen die damaligen Weltbeherrscher, von einem ägyptischen Priester erfahren.

    Die Helenen seien doch immer Kinder, kennen sie doch ihre eigene Geschichte nicht, hatte dieser sich über Solons Unwissenheit im Hinblick auf das verschollene Weltreich Atlantis mokiert. In ägyptischen Archiven sei die Geschichte von Atlantis aufbewahrt, die sich 9000 Jahre zuvor so eng mit den Bewohnern von Ur-Athen verbunden hatte. Vidal-Naquet sieht den Solon des Kritias-Dialogs als eine "fiktive Figut" und Ur-Athen als eine poetische Fiktion.. Platons Schilderung vom Kampf zwischen der Seemacht Atlantis und Ur-Athen ähnelt der älteren Beschreibung Herodots, der über die Perserkriege berichtet.

    Allerdings verfügt Platon hier frei über die historischen Tatsachen, die Ur-Athener wehren den Angriff von Atlantis zu Lande ab. Historisch hingegen besiegten die Athner aber durch eine List die überlegene Perserflotte, um dann selbst die Vorherrschaft zu See anzustreben. Die Verbindung zu Herodots Schilderung der Perserkriege hatte schon sein spätantiker Kommentator Proklos gesehen, auf den Vidal-Naquet hier aufmerksam macht.

    Vidal-Naquet wendet sich als Historiker entschieden gegen jeden Versuch, in Atlantis eine andere historische Wahrheit zu sehen als eine freie Reflexion Platons auf die staatspolitischen Entscheidungen seiner Heimatstadt Athen. Atlantis sei "nur die Maske eines maritimen, imperialistischen Athens", wie es sich nach den Perserkriegen im 5. Jahrhundert herausbildet habe. Ur-Athen aber ist, Vidal-Naquets Deutung zufolge, das ideale Athen, das selbst keinen Anspruch auf die verhängnisvolle Vorherrschaft zu See anmeldete, eine Zurückhaltung, wie sie auch Platon seinen kriegsgebeutelten Zeitgenossen gewünscht hätte. Atlantis und Ur-Athen politisch zu lesen, als Modell für Athen in unterschiedlichen Phasen des poltischen Lebens ist eine Sichtweise, für die Vidal-Naquet ebenfalls auf Vorläufer verweisen kann. Ein Mitstreiter aus dem späten 18. Jahrhundert ist Giuseppe Bartoli, der über die Polarität von Atlantis und Ur-Athen befindet: "Es handelt sich nur um ein Volk, eine Stadt und eine Regierung, die wir – wie soll ich sagen – allzu gut und allzu wenig kennen? Um die Athener, nur die Athener, nichts als die Athener!". Solch früher Einsichten unbeschadet, ist die Reihe der Versuche Atlantis einen festen Platz auf der Karte anzuweisen, groß.

    Dabei spielen nationale Herrschaftsansprüche eine bedeutende Rolle. Die Eroberung Amerikas löst einen Schub von Atlantisliteratur in Spanien aus, aber auch die Schweden ziehen nach. Um 1700 lokalisiert der hochangesehene Rektor der schwedischen Universität Uppsala, Olof Rudbeck, Atlantis in Schweden, während zu Beginn des 20. Jhs. ein von den Nazis gerne aufgegriffenes arisches Atlantis auf Helgoland konstruiert wird.

    So interessant aber die Geschichte der Atlantis-Rezeption ist, so mühsam gestaltet sich die Lektüre von Vidal-Naquets Studie. Verkürzte Darstellungen, fehlende Informationen zur historischen Einordnung der antiken Autoren, eine nicht eben elegante Übersetzung und allzuviel zu Papier gebrachte Vorlieben und Abneigungen gegenüber Kollegen schmälern das Lesevergnügen. Auch ermüden die langwierigen Nacherzählungen noch der verschrobensten Atlantisadaption. Gegenüber seiner vorzüglicher Schrift von 1990 "Athen Sparta Atlantis", die ins Deutsche übersetzt wurde, gibt es kaum neue Einsichten.

    Wohl aber ist in der älteren Schrift der Vorzug der Klarheit gegeben, auch ist all das erklärt, was im neuen Buch nur kursorisch angerissen wird, wie etwa der in Nachschlagewerken kaum zu findende Eusebios - Kompromiss, bei dem es sich um eine religionshistorische Angelegenheit handelt. Empfohlen sei daher zuerst das ältere Buch "Athen Sparta Atlantis" zu lesen.