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Unter Wolken

Der Lyrik-Band "Unter Wolken" handelt von den Erfahrungen des Älterwerdens. Autorin Sabine Küchler erzählt von der Kindheit als einem Sehnsuchtsort und gleichzeitig davon, dass sie unter genauer Betrachtung wiederum zu einem Ort wird, von dem man sich als Kind einmal wegsehnte. Gedichten über das Kleinkind und das Schulkind folgen Gedichte zur ersten Liebe und dem ersten Verlassenwerden. Dahinter lauert eine existentielle Einsamkeit, die als Kind zwar schon erahnbar war, der man aber immer noch zu entkommen glaubte.

Von Antje Ravic-Strubel | 22.02.2006
    Häufig ist in den Gedichten von Sabine Küchler vom Himmel die Rede. Vom Fliegen. Vom Abheben und Weggehen und von den Vögeln im Sommer. Aber man sieht den Himmel nicht. Zwischen ihm und der Betrachterin liegen Dächer, Schornsteine, Granit. Man sieht kleine, beengte, abgekapselte Orte, geradlinige Bauten.

    Küchlers Lyrik legt Ausschnitte frei, die nah an der Erde sind. Was zu sehen ist, sind Hals über in die Erde gesteckte grüne Flaschen, die die Wege zwischen den exakt angelegten Beeten markieren. Was man sieht, sind Möbelwagen, voll gestellte Kinderzimmer, Keller mit selbstgebauten Morsegeräten, Erdbeeren, die wie gestocktes Blut in Marmeladengläser verschraubt sind, leere Kinos. Wir sind in einer Welt, in der das Erwachsenwerden ein "Größer-und-schwächer-Werden" ist.

    Der einst so fern und verlockend scheinende Horizont endet plötzlich an der eigenen Schuhspitze. Das einzige, was noch flattert, sind Trinkerhände. Diese Lyrik erzählt von der Kindheit als einem Sehnsuchtsort und gleichzeitig davon, dass sie unter genauer Betrachtung wiederum zu einem Ort wird, von dem man sich als Kind einmal wegsehnte. Kindheit ist bei Küchler durch die Tatsache korrumpiert, dass man gezwungen ist, sie eines Tages zu verlassen. Aus diesem doppelten Verlorensein entsteht eine Traurigkeit, eine Stimmung der Vergeblichkeit, die noch jedes Gedicht von Küchler durchzieht.

    Manchmal ist der Tonfall fast balladenhaft, manchmal entstehen poetische Momente, die an die eindringliche Ruppigkeit einer Inge Müller erinnern, aber aufkommende Verzweiflung wird aufgelöst in Lakonie. Wie im Beiseitesprechen auf dem Theater werden Kommentare aus der Distanz in die Beobachtung des Gefühls gemischt, als sehe man sich selbst beim Leben zu. Das lyrische Ich in Küchlers Gedichten weiß schon alles, und sieht sich jetzt dabei zu, wie das Älterwerden es ins Korsett schraubt und jede Erfahrung zurrt nur eine weitere Schnüre am Leib fest.

    Das Ich sieht sich dabei zu, wie sich alles Vorhergewusste erfüllt. Wie die Struktur, die Konvention über dem Menschen zusammenschlägt. Auch die Dramaturgie dieses Gedichtbandes "Unter Wolken" folgt den Erfahrungen des Älterwerdens. Gedichten über das Kleinkind und das Schulkind folgen Gedichte zur ersten Liebe und dem ersten Verlassenwerden. Dahinter lauert eine existentielle Einsamkeit, die als Kind zwar schon erahnbar war, der man aber immer noch zu entkommen glaubte, und sei es nur mithilfe des väterlichen Werkzeugkastens, denn mit diesen Werkzeugen hatte es zumindest eine zeitlang so ausgesehen, als ließe sich alles reparieren. Alles, nur diese Einsamkeit nicht, die sich in Form der Abnabelung von den Eltern noch vervollständigt. Sie wird schließlich, geradezu zwangsläufig, doch in die mit Möbeln voll gestellte Wohnung führen, die man als Kind so hasste.

    Die Dramaturgie dieses schmalen Lyrikbandes "Unter Wolken" ist nicht vordergründig. Erst beim zweiten Lesen treten Verbindungen hervor und lassen aus den Einzelgedichten eine Erzählung in Gedichten werden.

    Aus einer korrumpierten Kindheit lässt sich keine Nostalgie schlagen. Auch das Gedicht zum Kleinkind in seinem Stühlchen hat bei Küchler nichts Niedliches. Der Ton erinnert vielmehr untergründig an die Schärfe von Märchen.

    In "Stilles Kind" wird das Kind zum Sammelbecken der es umgebenden, alltäglichen Grausamkeiten, was schließlich das Kind selbst zum grausamsten Mitspieler macht.

    Im Gedicht "Nixe" greift die Sprache lautmalerisch ins lyrische Geschehen über, der kurze Moment der Landung zweier Schwäne und ein paar Enten auf dem See wird sprachlich aufgegriffen, man hört die Wellenschläge durchs Wasser gehen. Das ist wie eine Reminiszens an die verspielten Beobachtungen eines Kindes, das nichts für das nimmt, was es ist, sondern für das, was es in Bezug auf sich selbst ist. Das Kind, das die Welt seiner Phantasie dienlich macht. Durch diese magische Art des Denkens läuft jedes Ding Gefahr, verrückt, beschädigt, verändert zu werden.

    Wie beispielsweise das Netz im Schuppen. Wenn der Tag nicht hält, was das favorisierte Kinderbuch verspricht, überträgt das Kind diesem Netz einfach seinen eigenen Traum und läßt das Netz davon träumen: "Wie man diesen Tanz mit einem Schlag erlegt."

    Diese verspielten Träume werden später "zementen" und in den Schlaf verbannt. Aber die Unterscheidung zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte, wird trotzdem nicht einfacher. In dem Gedicht "Weißer Rauch" wird der Kreidestaub aus den Schulstunden, der nachts den Traum durchzieht, beim Aufwachen zum brennenden Auto vor dem Fenster. Daran knüpft sich die entscheidende Frage, ob der Traum diese Realität nicht überhaupt erst in Gang setzte. Ob also die Schulstunden, die Kreide, die Kindheit so nachhaltig wirken, dass sie das spätere Leben von innen heraus regulieren. Ob also die Kindheit das eigentliche Korsett des Erwachsenseins ist.

    Küchler deutet diese Frage an und gibt sie in die Schwebe des lyrischen Bilds. Denn ihre Sprache schwebt, auch wenn die darin entworfene Welt so eng ist, dass nichts, weder Wunsch, noch Phantasie, nachhallen kann.

    Das melancholische Schweben von Küchlers Sprache scheint aus dem Verlust eines anderen Ich herzurühren, aus dem Verlust dieses Kinder-Ichs, das über die Erinnerung nicht mehr hergestellt werden kann. Die Sehnsucht des Erwachsenen und die Sehnsucht dieser Texte richtet sich in erster Linie auf dieses andere Wesen, das immer noch da irgendwo im Keller sitzt und repariert. Sie richtet sich darauf in dem Glauben, damals hätte wenigstens die Sehnsucht noch Realität gehabt, jedenfalls war das Losfliegen noch denkbar.

    Aber auch wenn das Kind im Gedicht "Im Keller" noch davon träumt, dass ihm ein anderes auf seine Morsesignale antworten möge, war die Verbindung schon damals unterbrochen. Und später ist die Verkabelung zu diesem Kind, das man war, gerissen. Sonst könnten sich die Farben der Erinnerung ändern. Die Wolken rissen auf, der Himmel wäre offen. So jedoch verbleiben selbst die lichtesten Momente in diesen lyrischen Brauntönen, eben "Unter Wolken".

    Ihnen haftet der fahle Klang des Verlorenen an. Jede Kindheitserinnerung verweist nicht weiter als auf das eigene sprechende, distanzierte Ich, auf die Gegenwart, abgeschnitten von der Kindheit, die Sehnsucht gestutzt.

    Entstanden sind Gedichte einer stillen Rebellion. Einer vergeblichen Rebellion gegen dieses, wie Küchler sagt: "ramponierte Idyll"; man kommt nicht mehr hin, aber los kommt man auch nicht.