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Unterhaltsame Konzeptkunst
Vergnügen und Rebellion

In der Kunsthalle Wien dreht die Künstlergruppe Gelatin unter der Regie von Liam Gillick einen Experimentalfilm. Set und Kulissen sind zugleich eine Ausstellung, und wer sie betritt, wird Teil davon – oder so, jedenfalls ist konzeptionelle Kunst selten so lustig und locker.

Von Paul Lohberger | 10.07.2019
Kunsthalle Wien: Gelatin & Liam Gillick: Stinking Dawn (4.7. - 6.10.2019, Sneak Peek) http://kunsthallewien.at/#/de/ausstellungen/gelatin-liam-gillick-stinking-dawn | Foto: eSeL
Tanzende Menschen als Teil einer Kunstaktion der Gruppe Gelatin & Liam Gillick in der Wiener Kunsthalle (Lorenz Seidler) (Lorenz Seidler )
Es wird gedreht: Auf einem Laufsteg stolzieren Männermodels und präsentieren Unterwäsche. Offenbar sind es Laien, kaum einer entspricht den ästhetischen Ansprüchen der Modewelt, eher noch zeigen sich Attribute urbaner Hipster: Bärte, Tattoos, schicke Frisuren. Tatsächlich fungieren hier Mitarbeiter der Kunsthalle Wien als Statisten.
Würden echte Models ernsthaft posieren in dieser skurrilen Modenschau? Der Laufsteg besteht aus großen, grau bemalten Styroporquadern. Die gezeigten Kreationen wirken wie lächerliche Parodien auf Fetischwäsche. Manche sind halb zerrissen, so dass die Geschlechtsteile herauslugen. Andere ziert Puppenhaar, das wie ein Bananenröckchen absteht. Ein korpulenter Typ mit Sonnenbrillen, Frisur und Schnurrbart im Stil der 1970er hat vorn an seiner Unterhose ein gelbes Plüschtier.
Dass diese skurrile Inszenierung nicht komplett lächerlich wirkt, liegt an der Ernsthaftigkeit der Akteure. Klar, das ist Kunst, könnte man jetzt sagen – aber es wird auch ein Film!
"Es gibt Text, Skript, Idee – es gibt die Idee, einen Spielfilm in voller Länge zu machen"
Femines Material und formidable Posen
Florian Reither ist einer der vier Künstler der Gruppe, die sich nun wieder Gelatin nennt, nachdem sie einige Zeit als Gelitin firmierte. Weil die Menschen in Fernost das so aussprachen, kam es zum Namenswechsel. Der PR-Effekt war erstaunlich.
Es geht bei Gelatin primär und immer wieder ums Ausprobieren: Was ist möglich, was können Künstler tun? In der Festspielstadt Salzburg sorgte 2003 eine Brunnen-Skulptur für Aufregung: Der Arc de Triomphe war ein riesiger Mann, der sich in Brückenposition in den Mund pinkelte. Ebenso wenig heroisch war das Material: Plastilin.
"Kinderspielzeugmaterial, Wolle. Weiches, feminines Rosemarie Trockel Material. Das ist uns näher als Silber, Gold, Bronze – Stahl."
Aktuell arbeiten Gelatin gern mit grau bemaltem Styropor, das im Film wie Beton aussehen könnte. Die Wiener Kunsthalle ist voll großer Quader, auf einer Seite stehen sie wie Stonehenge, in der Mitte bilden sie eine Pyramide.
Dann gibt es noch eine Art Bühne, ein poetischer Geist könnte das Ensemble als Ruine eines antiken Theaters deuten. Auf den Seiten lehnen weitere Teile als Reserve, je nach Szene werden die Kulissen neu gebaut oder zum Einsturz gebracht. Es gehe darum, in Bewegung zu bleiben. Ewige Werke zu schaffen ist weniger wichtig, in Museen und Sammlungen sind Gelatin trotzdem vertreten. Nun wollen sie in den Programmen der Spielfilm-Festivals landen.
"Wir sind dabei, den besten Film zu drehen, den wir drehen können – wir sind sehr jungfräulich in dem Genre."
Alltagswahnsinn gepaart mit Widersprüchen der modernen Welt
Nicht alles läuft so wie geplant. Das ist auch das Kernthema des Films "Stinking Dawn": Man stolpert durch den Wahnsinn des Alltags mit all den Widersprüchen der modernen Welt – bis man nicht mehr weiterkommt und in der stinkenden Dämmerung direkte Aktionen setzen muss. Das kann im Extremfall Selbstmord sein oder eine Revolution.
Die Akteure des Films glauben aber, dass sie ihre Welt als Agit-Prop-Band verbessern können – diese Szene spielen Gelatin bei der Eröffnung und singen einen eigens komponierten Song.
"Weil sie gehen dann in die Fabrik und verstehen dann nicht, dass das Arbeiter sind, die da für einen marginalen Stundenlohn arbeiten, damit sie mit dem Profit ihre sozialen Ideen finanzieren können."
Die eingangs beschriebene Unterhosen-Modenschau spielt also in der Fabrik. In einer anderen Szene müssen Arbeiter mit Pinseln im Hintern Bilder malen.
Die jungen Besitzer finanzieren mit dem Gewinn Demonstrationen und ihre Band als Ausdruck ihres sozialen Engagements. Die Inspiration für diese Erzählung lieferten kritische Denker der frühen 1970ziger Jahre.
Konzeptkunst zum Anfassen
Bei der Eröffnung der Ausstellung streunt das Publikum etwas ratlos durch die Kulissen und versammelt sich dann vor der Band auf der Ruinenbühne. Immer mehr Leute klettern auf die Pyramide, die Kanten der Styropor-Quader zerbröseln, und die Ordner haben Schwierigkeiten, das Treiben zu unterbinden.
Sie wissen auch nicht recht, ob sie das tun sollen. Immerhin ist das doch Gelatin, Konzeptkunst zum Anfassen, oder? Hier kann jeder die Freiheiten der Künstler ein wenig erleben?! Gelatin selber suchen immer wieder neue Grenzüberschreitungen, mit kindlichem Charme und aus Prinzip….
"Wir dürfen das ja, weil wir Künstler sind. Aber wir arbeiten immer daran, dass wir ständig unsere persönliche Freiheit ausdehnen. Und wir drücken das durch gegen alle Widerstände. Außer unsere Mütter, da müssen wir rücksichtsvoll sein."