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"Unterm Rad" nach Hermann Hesse
Heimatkunde auf dem Theater

Von Cornelie Ueding | 12.07.2015
    An den hohen Wänden einer Bühnenschachtel: Projektionen einer mal leicht schwappendem, dann wieder von Strudeln belebten Wasseroberfläche. Auf der Spielfläche jonglieren, torkeln, tosen fünf Clowns in groß getupften Kostümen - fast knöcheltief im Wasser, dass es nur so spritzt - und spielen die Geschichte des Ausnahmeschülers Hans Giebenrath nach. Genauer: Sie lösen sie auf in poetisch verschwimmende, ineinander verschlungene Bilder und Arabesken. Die Figuren fallen in immer neue Gruppierungen zusammen und sticheln, kneifen, raufen sich wieder auseinander. Dabei ist immer einer der Dumme. Und es kann jeden treffen.
    Die Grundidee der Inszenierung von Frank Abt ist sehr einleuchtend: Nicht ein Opfer wird melodramatisch ins Zentrum gerückt, sondern die Last des Außenseitertums von Mann zu Mann weitergereicht. Pauker, Schülerhorde und Außenseiter, Drill und Dressur auf der einen, Mobbing und Malaise auf der anderen Seite lässt er in raschem Wechsel von allen durchspielen. So wird in immer neuen Konstellationen das brisante Gemisch aus Leistungsdruck, Ehrgeiz, Hochmut, Rivalität, Kumpanei und Sehnsucht nach Zugehörigkeit ins Bildersprachliche übersetzt. In den besten Sequenzen gelingt es dem Regisseur, Hesses etwas schwerblütige Erzählung ins spielerisch Leichte zu heben und die grausamen Schulerfahrungen in einer Mischung aus Clowns-Revue und Albtraum-Spuk impressionistisch und, ja: Wiedergänger-artig flüchtig in Szene zu setzen.
    Doch diese Ästhetik, die dem Spiel eine zunächst erfrischende, fast schwebende Leichtigkeit verleiht, produziert mit zunehmender Dauer unglückseligerweise eine gewisse Statik und Leere, die dem Versuch, missglückte Erziehungsprozesse ins Bewusstsein zu rücken, zuwider läuft. Der Preis für diesen in vielen Improvisationen entwickelten artistischen pas de cinq ist letztlich der Verzicht auf die Darstellung all dessen, was der Regie, folgt man dem Programmheft, am Herzen lag: nämlich Hesses auf eigenen Erfahrungen beruhenden, über 100 Jahre alten Text auf seine Relevanz für die Gegenwart der Wettbewerbsgesellschaft und des Leistungsdrucks hin abzuklopfen. Da genügt es leider nicht, dass ein gestrenger Pauker kurzfristig das Planschbecken der Erziehung verlässt und, Pfützen auf den Stufen des Zuschauerpodests hinterlassend, nun das seiner Ansicht nach zu lasche Publikum unter die Fuchtel seiner Disziplinierungsversuche nimmt. Das ist vor allem komisch.
    Schließlich verlässt einer nach dem anderen die Erziehungsanstalt der Bühne - und betrachtet das langsam eingedunkelte, immer verzweifeltere, ihnen immer ferner liegende Schau-Spiel der inzwischen pitschnassen unten eingesperrten Rest-Kämpfer aus gesichertem Abstand von der Höhe der festungsartigen Bühnen-Mauer aus. Soll das heißen: Alle sind sie irgendwie zwischendurch "unters Rad" gekommen - und doch mit halbwegs heiler Haut davongekommen? Man weiß es nach dieser zunehmend verschwommenen, beklommenen, magisch entrückten Aufführung nicht. Am Ende ist das Wasser abgelaufen und irgendwie auch der Dampf der Revolte raus. Die Opfer - oder sind die Clowns nicht doch eher die Davongekommenen - formieren sich feixend oberhalb des Zuchtbeckens und rätseln ein letztes Mal in der Rückschau über den Albtraum halbvergessener Zucht und Jugendjahre, die sie alle vielleicht eine Spur ausgekochter und giftiger haben werden lassen. Dass aus dem Musterschüler nichts geworden ist, ja dass er im Wasser umgekommen ist, sich wahrscheinlich das Leben genommen hat - belastet ihr Gewissen nicht. Nur zu gern erliegen sie der Täuschung, der Tote habe ja beinahe heiter ausgesehen.