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Unternehmenskultur
"Strikte Hierarchien heißt, keine Einflussmöglichkeiten haben"

Viele Wissenschaftler und Praktiker befürworten flache Hierarchien in Unternehmen. Untersuchungen bestätigen, dass Stress und Krankheiten von Mitarbeitern auf deren mangelnde Entscheidungs-Beteiligung zurückgehen. Auch wirtschaftlich könnten kooperative Modelle besser auf die sich schnell wandelnde Unternehmensumwelt reagieren.

Von Alfried Schmitz | 06.04.2017
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    Wenn Hierarchien aufgebrochen werden, dann sind Mitarbeiter zu mehr Engagement am Arbeitsplatz bereit, lautet eine der Erkenntnisse aus Forschungen zum Thema Unternehmenskultur. (picture alliance / dpa / Robert B. Fishman)
    "Ohne Mitarbeiter funktioniert kein Unternehmen. Und wenn der Mitarbeiter zufrieden ist und in seinen Anforderungen, die er an die Arbeitswelt, an sein tägliches 'Doing' hat, unterstützt wird, wird er sicherlich unterm Strich effektiver und effizienter sein und somit ein besseres Arbeitsergebnis liefern."
    Jennifer Mertens, Firmen-Chefin aus Willich. Sie hat vor vier Jahren ihr Unternehmen umstrukturiert, die strenge Führungs-Hierarchie abgeschafft und gute Erfahrungen damit gemacht.
    "Unternehmen können ganz viel tun, denn die Arbeitsbedingungen, die Mitarbeiter unter Umständen krank machen, werden ja durch die Unternehmen gestaltet. Die fallen ja nicht vom Himmel."
    Professor Dr. Nico Dragano, Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Er untersucht die Folgen von psychosozialer Arbeitsbelastung und Stress auf die Gesundheit von erwerbstätigen Frauen und Männern.
    "Also ein gutes Betriebsklima ist ein wichtiger Schutzschild gegen Stress."
    Professor Dr. Dieter Zapf. Leiter des Lehrstuhls für Arbeits- und Organisationspsychologie, Universität Frankfurt am Main. Er untersucht Auslöser und Ursachen für psychischen Stress am Arbeitsplatz. Er sieht eine wichtige Ursache für Stress in der Tatsache,
    "dass Unternehmen es oft unterschätzen, wie wichtig es ist, dass Mitarbeiter sich mit einem Unternehmen verbunden fühlen oder sich mit einem bestimmten Unternehmen identifizieren."
    "Die Leute sind dann zufriedener im Job"
    Eine aktuelle Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Gallup bestätigt dieses Manko: Fast 70 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland haben nur eine geringe emotionale Bindung an das Unternehmen, in dem sie beschäftigt sind. Das bedeutet, dass der überwiegende Teil der Beschäftigten unzufrieden ist und nicht den höchstmöglichen Arbeitseinsatz liefert.
    Durch dieses fehlende Engagement entsteht ein hoher volkswirtschaftlicher Verlust. Doch auch unter soziologischen Gesichtspunkten ist ein gutes Miteinander in den Unternehmen äußerst wichtig.
    "Die Leute sind dann zufriedener im Job. Und dann gehen die auch noch zufriedener in ihr Privatleben rein."
    Professorin Dr. Michaela Moser, Leiterin Fachbereich Management-Kompetenzen und Leiterin des Instituts für Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung, Europäische Fachhochschule, Brühl. Sie appelliert an die Unternehmen, ihre Führungsstruktur zu optimieren und damit auch das Betriebsklima zu verbessern:
    "Und da bringe ich alle Leidenschaft mit, um genau das in die Wirtschaft, in die Gesellschaft hinauszuposaunen. Weil ich davon überzeugt bin, dass die Unternehmen daraus noch viel mehr machen könnten und sich dementsprechend auch etwas in der Gesellschaft verändern kann."
    Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist Autorin des gerade erschienen Buches "Hierarchielos führen". Darin kritisiert sie unter anderem die Schwerfälligkeit in manchen streng hierarchisch geführten Unternehmen:
    "Das geht teilweise bis zu sechs, sieben, acht Hierarchieebenen. Und wenn man sich dann vorstellt, der Kunde hat den Kontakt unten beim Mitarbeiter, und der Mitarbeiter darf nichts entscheiden, und dann muss das die ganzen Hierarchiestufen hoch, bis es oben entschieden wird, und dann die ganzen Hierarchiestufen wieder runter – bis dahin ist der Kunde gegebenfalls bei der Konkurrenz. Es gehen Informationen verloren auf dem Dienstweg und letztendlich sind sie einfach nicht schnell genug. Die Welt darum herum, die verändert sich immer schneller, wird komplexer. Und man will Unternehmen haben, die schnell darauf reagieren können auf diese veränderte Unternehmensumwelt. Und das kann man in den Hierarchien einfach gar nicht mehr."
    Bessere Reaktionsmöglichkeit auf wirtschaftliche Megatrends
    Michaela Moser hat selbst Erfahrungen als Mitarbeiterin in einem stark hierarchisch geprägten Unternehmen gemacht. Dort wurden die Beschäftigten sehr eng geführt, arbeiteten streng nach den Anweisungen der Vorgesetzten, hatten wenig Spielraum für die Umsetzung eigener Ideen und konnten ihr eigenes geistiges Potential weder zu ihrer eigenen Zufriedenheit, noch zum Nutzen des Unternehmens optimal ausschöpfen. Für die Wirtschaftswissenschaftlerin ein Anlass über neue Wege der Unternehmensführung nachzudenken. Sie hält die Abflachung von Hierarchien oder die Einführung hierarchieloser Strukturen für unabdingbar, um besser auf neue wirtschaftliche Megatrends reagieren zu können.
    "Die eben auch darauf hindeuten, dass man in Unternehmen immer mehr in Projekt- oder Teamzusammenhängen denkt. Das ist einmal das Thema Innovationsdruck. Wir brauchen immer mehr Innovationen hier in Deutschland, um wettbewerbsfähig zu bleiben im internationalen Wettbewerb. Und Innovation bedeutet natürlich Teamarbeit. Und auf der anderen Seite ist natürlich auch der digitale Trend dafür verantwortlich, dass Hierarchien so ein bisschen aufgebrochen werden. Durch die digitale Vernetzung sind die Mitarbeiter untereinander vernetzt und können aufeinander zugehen, die Erfahrung von anderen abgraben und brauchen das nicht mehr über die klassischen Dienstwege zu tun. Und der dritte Punkt ist natürlich auch diese neue Mündigkeit der Mitarbeiter. In den vergangenen Jahrzehnten oder Jahrhunderten war es so, dass, wenn wir ins Unternehmen reingegangen sind, wir diese Mündigkeit einfach abgeben mussten."
    Würde man Hierarchien in Unternehmen aufbrechen und den Beschäftigten mehr Freiheit zum Mitdenken und Mitgestalten einräumen, hätte das nicht nur positive Auswirkungen auf die Steigerung der individuellen Leistungsbereitschaft, sondern auch auf deren Fähigkeit zur Problem- und Konfliktbewältigung. Auch Stresssituationen ließen sich besser meistern, meint der Frankfurter Arbeitspsychologe Dieter Zapf:
    "Es gibt sehr, sehr viele Untersuchungen die zeigen, wenn jemand keine Handlungsspielräume oder keine Einflussmöglichkeiten auf die eigene Arbeit hat, dann ist man Stress stärker ausgesetzt. Sehr strikte Hierarchien heißt sehr häufig, keine Einflussmöglichkeiten haben und von daher wenig Kompensationsmöglichkeiten von Stress zu haben."
    Welche fatalen Folgen Stress am Arbeitsplatz für die Gesundheit der Arbeitnehmer haben kann, zeigt eine groß angelegte internationale Langzeitstudie an der auch das Team des Düsseldorfer Medizin-Soziologen Nico Dragano beteiligt war. Über einen Zeitraum von neun Jahren wurden 90.000 Berufstätige in verschiedenen europäischen Ländern untersucht und befragt. Man wollte herausfinden, welcher kausale Zusammenhang zwischen beruflich bedingtem Stress und dem Gesundheitszustand der Probanden besteht. Die Ergebnisse der Studie werden zwar erst in einigen Wochen offiziell präsentiert, doch Professor Dragano verrät schon einmal die wesentlichen Erkenntnisse:
    "Dass bestimmte Formen von Stress das Risiko für Herzinfarkte erhöht. Und zwar deutlich. Und die Psyche kann leiden, wenn Sie dauerhaft Stress erleben, weil bestimmte Hormone ausgeschüttet werden, die sich durchaus in der Nähe der Depressionen bewegen. Es gibt verschiedene biologische Probleme, wenn wir dauerhaft unter Stress stehen."
    Skandinavien: geringere Stressbelastungs-Werte als in Deutschland
    Die internationale Studie hat nicht nur eindeutig erwiesen, dass Stress ein Krankmacher ist, sondern sie zeigt auch interessante Unterschiede im Ländervergleich. Bei Messungen des Arbeitsstress-Niveaus hat das Team um Dragano herausgefunden, dass es vor allem in den skandinavischen Ländern geringere Stressbelastungs-Werte gibt als in Deutschland. Auch im kürzlich vorgelegten Welt-Glücks-Report lagen die skandinavischen Länder vorn. Ein Zufall? Eher nicht. Bei der Glücks-Studie wurde auch nach der "gefühlten Unterstützung aus dem sozialen Umfeld" gefragt. Und die spielt nicht nur im privaten Bereich eine große Rolle für das Glücksempfinden, sondern auch vor allem auch im Berufsleben.
    "Es geht um das Erfüllen sozialer Bedürfnisse. Es geht um die Erfüllung von Selbstverwirklichungsbedürfnissen. Ein ganz zentrales Ziel für jeden einzelnen Menschen ist die Erhaltung des eigenen Selbstwertes, des Selbstkonzeptes. Und das wiederum ist sehr eng verbunden mit Wertschätzung von außen. Wie stark wird das, was ich in der Firma tue, gewürdigt. Wie stark werde ich unterstützt. Wie gut bin ich in ein Team eingebunden. Diese wichtigen persönlichen Ziele bei der Arbeit gehen weit hinaus über das bloße Geldverdienen, also die manifeste Funktion der Arbeit."
    Sagt Arbeitspsychologe Dieter Zapf.
    Wenn in den Unternehmen ein gutes Arbeitsklima herrscht, wenn Beschäftigten mehr Mitentscheidung, Mitbestimmung und Mitverantwortung eingeräumt, wenn Hierarchien aufgebrochen werden, dann sind die Mitarbeiter auch zu mehr Engagement am Arbeitsplatz bereit:
    "Wenn Menschen sich sehr mit ihren Aufgaben identifizieren und auch mit der Firma, wo sie diese Aufgaben ausführen, dann nehmen sie, was Arbeitsbelastungen angeht, sehr viel in Kauf. Und zwar deswegen, weil die Arbeitsbelastung damit einhergeht, dass man auch tolle Ziele erreicht. Also zum Beispiel, dass man Projekte macht und hinterher stolz sein kann auf das, was man mit den Projekten erreicht hat."
    Die Mertens AG in Willich bei Viersen ist in Deutschland Marktführer im Bereich von moderner Arbeitsplatzgestaltung. Für seine Kunden entwirft das Unternehmen Büroeinrichtungen.
    Vor vier Jahren hat sich die Firmen-Leitung dazu entschieden, die alte und strenge Hierarchiestruktur abzuschaffen und das Familien-Unternehmen nach neuen Gesichtspunkten auszurichten. Von insgesamt 235 Beschäftigten, arbeiten 190 in der Firmenzentrale. Designer, Innenarchitekten, Kundenberater, Experten für Licht, Akustik, Klima, IT-Technik, Schreiner, Büroangestellte. Eine vielschichtige Belegschaft.
    "Es ist so, dass jeder Mitarbeiter sich in seinem Bereich, für den er zuständig ist, aktiv einbringen kann und aktiv auch an Prozessen, an der Optimierung von Prozessen beteiligen kann. Die grobe Idee wird vorgegeben, aber innerhalb dessen hat jeder Mitarbeiter wirklich die Möglichkeit sich einzubinden, zu seinem Fachbereich auch Ideen einzubringen. Und die werden entsprechend angehört und in die Abläufe und Prozesse mit eingebunden und mit eingebracht."
    Sagt Jennifer Mertens, die das Unternehmen mit ihrem Mann und einer weiteren Führungskraft leitet. Wobei sie Begriffe wie Firmenleitung, Chef oder Boss in Bezug auf ihren modern strukturierten Betrieb gar nicht gerne hört.
    "Wir sind hier alle per Du, wir haben eine ganz flache Hierarchie, wir haben keine Einzelbüros, wir arbeiten alle offen. Jeder kann hier im Gebäude an dem Ort arbeiten, wo er arbeiten möchte, kann sich einen Schreibtisch nehmen, wir arbeiten im Desk-Sharing. Es ist alles offen. Und genauso offen leben wir auch unsere Unternehmenskultur. Das heißt auch, die Vorstände sind präsent, die arbeiten mittendrin, die haben kein abgeschlossenes Büro. Die arbeiten genauso, wie jeder. Die laufen über den Flur, die essen mit im Café. Wir sitzen gemeinsam an einem Tisch. Und jeder hat im Grunde zu jeder Zeit die Möglichkeit, jeden anzusprechen und sich mit jedem auszutauschen und von jedem auch Feedback zu bekommen."
    Medizinsoziologe: Flache Hierarchien nicht für jedes Unternehmen geeignet
    Regelmäßig werden Workshops abgehalten, bei denen sogenannte Mitarbeiter-Botschafter neue Ideen und Anregungen einbringen, aber auch über Probleme und Konflikte berichten können. Auf unbürokratische und hierarchielose Art,sollen so schnelle Entscheidungen im Sinne der Mitarbeiter und des Betriebsklimas gefällt werden. Aber in noch einem anderen Punkt geht Mertens neue Wege:
    "Wir haben Veranstaltungen, wo die Projektteams sich auf die Bühne stellen und erzählen, wie das Projekt gelaufen ist und am Ende Fotos zeigen. Ich denke, es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass der Mensch einfach selber über das, was er Tolles bewegt hat berichten kann und anderen das mitteilen kann und die Kollegen als Publikum hat und so auch noch einmal positives Feedback bekommt am Ende."
    Mit solchen Maßnahmen lässt sich das soziale Klima in Betrieben und Behörden positiv beeinflussen, da ist sich auch der Medizinsoziologe Nico Dragano sehr sicher. Er weist aber auch darauf hin, dass sich flache Hierarchien nicht für jedes Unternehmen anbieten. Angesichts der Vielseitigkeit und der Unterschiede der einzelnen Unternehmen, bedürfe es in Bezug auf den Umgang mit den Mitarbeitern individueller Konzepte. Ganz entscheidend ist für ihn aber auf jeden Fall die Ausarbeitung eines Firmen-Leitbildes.
    "Man kann auch Kollegialität als Unternehmensziel ins Leitbild schreiben und eben nicht die Konkurrenz, wie es durchaus auch gerne gemacht wird. Dass Konkurrenz gefördert und eingesetzt wird, um vorgeblich mehr Produktivität zu erzielen. Wobei wir eigentlich aus allen Studien wissen, dass Kooperation langfristig erfolgreicher ist, als harte Konkurrenz."
    Über 15 Prozent aller Krankheitstage, wie bei einer Untersuchung im Einwohnerstärksten Bundesland Nordrhein-Westfalen festgestellt wurde, gehen auf psychische Erkrankungen zurück. Viele davon verursacht durch Stress und Unzufriedenheit am Arbeitsplatz.
    Die Erziehungswissenschaftlerin Dagmar Mehrhoff-Gerulat hat sich vor einigen Jahren selbständig gemacht. Ihre Firma berät Unternehmen beim Aufbau neuer Führungsstrukturen. Die wichtigsten Gründe, die Firmen antreiben, über eine Umstrukturierung nachzudenken, sind der hohe Krankenstand ihrer Mitarbeiter und die hohe Personalfluktuation. Beides Anzeichen und Folgen von Unzufriedenheit und Demotivation in der Belegschaft:
    "Und wenn man Strukturen in einem Unternehmen verändert, wenn man sagt, lasst uns doch mal gucken, wie unsere hierarchischen Strukturen sind, und wollen wir für die Führung nicht einen transformationalen Weg finden, dann kann es dazu führen, dass Mitarbeiter wieder mitdenken, dass sie gefragt werden, dass sie Ideen entwickeln. Und das ist letztendlich das Ziel. Mitarbeiter in Unternehmen, die hierarchielos führen, die den radikalen Weg gegangen sind, sagen alle, meine Arbeit ist nicht leichter geworden. Im Gegenteil, sie ist fordernder geworden, aber es macht viel mehr Spaß, weil ich mich wieder viel stärker einbringen kann."
    In vielen Chefetagen noch große Ressentiments
    Bis die Mehrheit der Unternehmen die althergebrachten Strukturen ändert und auf flachere Hierarchie umschwenkt, ist es noch ein weiter Weg, weiß die Wirtschaftswissenschaftlerin Michaela Moser. Die Autorin des Buches "Hierarchielos führen" ist sich im Klaren darüber, dass es in vielen Chefetagen noch große Ressentiments gegenüber der neuen Idee gibt:
    "Funktioniert das überhaupt? Das kann ja nicht funktionieren! Das ist doch Anarchie! Da müssen Sie noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Und die Überzeugungsarbeit, die muss natürlich auch beim Topmanagement vorhanden sein. Wenn die das nicht wollen, dann können Sie so etwas auch nicht machen. Aber wenn die sagen, das bringt unser Unternehmen weiter und auch vorbildmäßig dahinter stehen und auch nicht top-down führen, nach dem Motto, hierarchielos führen ist ja nur etwas für die nächste Führungsebene, sondern wir machen es auch, dann ist es auch von Erfolg gekrönt. Und dann ist es auch überzeugend. Ich würde mich schon freuen, wenn wir uns irgendwo in der Mitte treffen und die Hierarchien extrem verschlanken würden und lasst uns unsere Unternehmen nach vorne bringen."