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Unterschiedliche Ansätze

Der Historiker Moshe Zimmermann und der ehemaligen Diplomaten Avi Primor sind gewichtige Stimmen im deutsch-israelischen Dialog. Beide beschäftigen sich in ihren Büchern mit einer möglichen Lösung des Nahostkonflikts und vertreten dabei ganz unterschiedliche Thesen.

Von Conrad Lay | 02.08.2010
    Avi Primor, in den neunziger Jahren israelischer Botschafter in Deutschland, macht in seinem Buch einen ebenso einfachen wie radikalen Vorschlag: Israel soll sich aus dem Westjordanland zurückziehen, im Gegenzug sollen europäische Soldaten die Sicherheit Israels gegenüber palästinensischen Extremisten gewährleisten. Der Diplomat geht davon aus, dass sowohl die Mehrheit der Israelis als auch die Mehrheit der Palästinenser im Prinzip mit den Bedingungen, wie sie in zahlreichen Dokumenten des Friedensprozesses der vergangenen beiden Jahrzehnte formuliert wurden, einverstanden sind. Einer Einigung stehe lediglich das ungelöste Sicherheitsproblem im Wege.

    Das heißt, dass sämtliche nationalen, nationalistischen, religiösen, ideologischen und emotionalen Probleme, die den Nahostkonflikt verursacht haben, sich heute auf ein einziges technisches Problem reduzieren lassen. Und so lebensnotwendig und zentral eben dieser Punkt auch sein mag, gilt doch Folgendes: Sollte sich eine Lösung für das Sicherheitsproblem finden, könnte man den gesamten israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Welt schaffen.

    Avi Primor schlägt vor, die Europäer sollten zusammen mit US-Präsident Obama die Initiative ergreifen und den gordischen Knoten zerschlagen, indem unter Führung der EU-Soldaten aus osteuropäischen Ländern, vielleicht auch aus der Türkei, die Sicherheit im Westjordanland garantieren. Vor Ort würden sie sicherlich nicht auf eine feindselige lokale Bevölkerung stoßen, sondern "zumindest anfangs als Befreiungsmacht empfangen werden", so hofft Primor. Allerdings ist der Zeitpunkt, zu dem Avi Primor diesen Vorschlag macht, denkbar ungünstig. Angesichts der Schwierigkeiten im Afghanistan-Krieg überlegen sich die meisten der dort beteiligten Staaten, wann und unter welchen Bedingungen sie ihre Truppen abziehen können. Ausgerechnet in dieser Situation eine neue militärische Intervention vorzuschlagen und das auf dem politisch und historisch höchst verminten Gelände des Nahen Ostens, ist schon ziemlich tollkühn.

    Abgesehen von diesem prinzipiellen Einwand lässt Primor zahlreiche Einzelfragen offen: So geht der Autor davon aus, dass man mit der Hamas durchaus verhandeln könne, denn deren Staatsräson erfordere, dass sich die Lebensbedingungen im Gazastreifen verbesserten. Ein Optimismus, den bei Weitem nicht alle teilen. Woran es aber aus der Sicht Avi Primors vor allem mangelt, ist eine mutige Europäische Union, denn diese könnte unter der Führung Deutschlands mehr zum Friedensprozess beitragen als jeder andere.

    Für Moshe Zimmermann, Direktor des Instituts für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, steht nicht - wie bei Avi Primor - das sogenannte "technische Problem" der Sicherheit im Vordergrund, sondern die Mentalität der israelischen Gesellschaft. Dieser Ansatz führt Zimmermann zu völlig anderen Fragen: Nicht von ungefähr hat er seinem Buch den Titel "Die Angst vor dem Frieden" gegeben, eine Angst, die größer ist als die Angst vor dem Krieg. Zimmermann schreibt:

    Den Beitrag der Palästinenser oder Araber zum Misserfolg des Friedensprozesses zu beschreiben, das überlasse ich einem Palästinenser. Ich werde mich vor allem mit der Frage befassen, warum die Angst vor dem Frieden in der israelischen Gesellschaft so verbreitet ist.

    Der israelische Historiker entwirft im folgenden ein Bild Israels, in dem der Mehrheit der Gesellschaft, die sich für soziale Sicherheit und materielles Wohlergehen interessiert, die aggressiven Kräfte militanter Friedensgegner gegenüberstehen. Wer diese militanten Gruppen sind, das beschreibt Zimmermann nun im Einzelnen: ultraorthodoxe, sogenannte Postzionisten, militante Siedler sowie Araber-Hasser, zu denen der Autor auch den derzeitigen israelischen Außenminister Lieberman zählt. Auch das Militär rechnet Zimmermann zu jenen Kräften, die vom Frieden nichts halten:

    Da Generäle und ehemalige Generäle von der Vorstellung beseelt sind, man schwebe ständig in Gefahr und der Feind sei allgegenwärtig, glauben sie weniger an den kommenden Frieden und pochen auf Kriegsvorbereitung. Die Bevölkerung, die aus der jüdischen Geschichte nur eine Schlussfolgerung zieht, nämlich die, dass die Nichtanwendung der Waffe Schwäche und Katastrophe bedeutet, akzeptiert diese Haltung ohne Bedenken.

    Militäroberrabiner Ronetzky etwa stachelt die Soldaten mit dem Ruf an:

    Verdammt ist der, der gegenüber dem Feind Erbarmen zeigt.

    Ein Motto, das auch aus dem Mund eines palästinensischen Hardliners stammen könnte; wie man sieht, berühren sich die Extreme. Noch aber ist die Frage ungeklärt, warum Extremisten und Ultras, also verhältnismäßig kleine Kreise der israelischen Gesellschaft, solch einen Einfluss auf die gemäßigte Mehrheit bekommen und die Angst vor dem Frieden schüren können. Moishe Zimmermann versucht dies sozialpsychologisch zu erklären: Die israelische Gesellschaft lebe in einem permanenten Angst- und Spannungszustand - wie ein Boxer, der sich auf den nächsten Schlag einstellen muss.


    Man fragt nicht nach den Absichten und Motiven des anderen, man kann sich darüber hinaus keine Alternative zum Konflikt vorstellen. Das Bild des Feindes bleibt von neuen Kenntnissen und Fakten unbeeinflusst. Der Ballast an Ängsten erklärt auch die Angst vor dem, was man Frieden nennt.

    Die bei Avi Primor offen gebliebene Frage, warum die israelische Gesellschaft sich nicht auf eine Friedensinitiative verständigt, kann Moishe Zimmermann sehr differenziert beantworten. Aber wie Israel die Angst überwinden kann - so der Titel seines Schlusskapitels -, das bleibt auch bei ihm ungeklärt. Ziemlich desillusioniert bemerkt er im Hinblick auf die "mittlerweile typisch westliche Spaßgesellschaft" in Israel:

    Die labile und von Angst geleitete Haltung der Mehrheit der israelischen Gesellschaft kennend, haben die extremen Gruppen keine große Mühe, sich durchzusetzen. Die Mehrheit hat eben genügend Angst vor der Ungewissheit, aber auch vor den Gruppen selbst. Wer will schon eine Auseinandersetzung mit den Siedlern, mit Ultraorthodoxen, mit überzeugten und aggressiven Zionisten riskieren?

    Auch wenn Zimmermann diese Frage nicht beantworten kann, so ist bereits die Verschiebung der Perspektive ein Schritt nach vorne. Nicht immer den anderen die Verantwortung zuzuschieben, sondern in der eigenen Gesellschaft die Friedensfähigkeit zu stärken, das wird eine der Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden sein. Mit einem Schlag durch den gordischen Knoten, wie dies Avi Primor nahelegt, wird das nicht gelingen, sondern mit geduldiger, harter Kärrnerarbeit im Innern. Die Spaßgesellschaft an den Stränden von Tel Aviv wird dabei weniger ein Vorbild sein können als die harte Arbeit der Pioniere aus der Gründungszeit Israels.

    Avi Primor: "Frieden in Nahost ist möglich – Deutschland muss Obama stärken". Reihe Standpunkte der Edition Körber, 93 Seiten kosten 10 Euro.

    Moshe Zimmermann: "Die Angst vor dem Frieden. Das israelische Dilemma". Aufbau-Verlag, 152 Seiten kosten 14,95 Euro.