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Untersuchung des akustischen Spiegels

Mladen Dolar hat eine "Theorie der Stimme" vorgelegt. Dolar lehrte an der Universität von Ljubljana Philosophie, wo er heute als Senior Research Fellow wirkt. Als seine Spezialgebiete benennt er Strukturalismus, theoretische Psychoanalyse sowie Philosophie der Musik. Den Leser erwartet folglich ein interdisziplinärer Blick.

Von Bernd Mattheus | 05.09.2007
    Auf seiner Suche nach einer Theorie der Stimme beginnt Mladen Dolars Parcours bei zwei Maschinen, mit deren Vorführung der Hofkammerrat Wolfgang von Kempelen in den 1780er Jahren Furore machte. Die eine war der sogenannte Schachautomat, die andere die Sprechmaschine. Handelte es sich beim Schachautomaten um einen Varieté-Trick, der automatische Intelligenz simulierte, so war die Sprechmaschine eine Mechanik, die mittels eines Systems von Ventilen, Kammern und einem Blasebalg Wörter produzierte. Materialistische Philosophen wie La Mettrie waren von der Idee der Mensch-Maschine fasziniert, womit sie den Menschen als moralisches Tier zu liquidieren gedachten - lange vor den Thesen der aktuellen Neurobiologie.

    Angesichts der Tatsache, dass es zwar eine Linguistik des Signifikanten, also des Bedeutungsträgers, nicht aber eine solche der Stimme gibt, gelangt Dolar zu einer ersten Definition: Die Stimme sei das, "was nichts zur Sinngebung beiträgt", folglich das Jenseits von Information, Bedeutung und Sprache schlechthin. Zwischen Stimme und Signifikant bestehe eine Antinomie.

    Akzent, Intonation, Timbre, Klangfarbe verwiesen auf "Klassenunterschiede". Wenn es weiter heißt, dass Melodie, Modulation, Rhythmus und Tonfall durchaus an der Bedeutung des Gesagten beteiligt seien, widerruft der Autor schon einen wesentlichen Teil seiner Eingangsthese. Ich füge hinzu, dass sowohl das jeweilige Idiom als auch regionale Besonderheiten an Melodie, Modulation oder Rhythmus der Stimme beteiligt sind, an der Tonhöhe ferner das Geschlecht. Selbst vorsymbolische, nonverbale Äußerungen wie Hüsteln, sich Räuspern, Gähnen, Stöhnen, Seufzen können als diskrete Bedeutungselemente eingesetzt werden.

    Das Gebrabbel, Lallen, Schreien des Säuglings war der Ausgangspunkt von Arthur Janovs Urschrei-Therapie, erinnert Dolar, der vermeintlich heilsamen Regression: Ausagieren statt Analysieren lautete 1970 dessen Maxime. Festzuhalten bleibt die Individualität der Stimme, in ihrer Unverwechselbarkeit und Beständigkeit dem Fingerabdruck vergleichbar.

    Den Gesang, das Lachen, das Schluchzen bestimmt der Autor als "nachsprachliche" Dimensionen der Stimme. Auffällig wenig Philosophen widmeten dem Gelächter Aufmerksamkeit. Dolar zitiert Descartes, Kant und Bergson, um seinerseits Georges Bataille und Helmuth Plessner unerwähnt zu lassen. Beim Gesang stehe "Ausdruck versus Bedeutung (...). Die Stimme erscheint als Bedeutungsüberschuß." Dolars Befund trifft zwar zu für die konventionellen Genres, nicht aber für avacierten, experimentellen Gesang ohne Text, die Lautpoesie eingeschlossen, wo Ausdruck und Bedeutung identisch sind.

    Bei der Frage nach dem Objekt Stimme verweist der Autor auf das Faktum, dass unsere Stimme die "früheste Manifestation des Lebens" sei. Indem er von einem "akustischen Spiegel" spricht, der den Kern des Bewusstseins konstituiere, möchte er dem Lacanschen Paradigma des Spiegelstadiums, das heißt der Selbsterkenntnis des Kleinkinds im Spiegelbild, das Wiedererkennen der eigenen Stimme entgegensetzen. In der Antike war das phonozentrische Axiom maßgebend. Die Stimme galt als Grundelement der Sprache, während die Schrift lediglich ein "parasitäres Supplement" war, welches das Wort, die Rede fixierte. Der Text war der Präsenz der Stimme untergeordnet. Das Gebot der Unmittelbarkeit der Stimme beziehungsweise der Mündlichkeit gilt heute noch vor Gericht, im Parlament, in Schule und Universität, führt Dolar aus - insbesondere aber im psychoanalytischen Setting, in dem es darum geht, der Stimme Raum zu geben, den Akt des Schweigens einbegriffen. In Abwandlung von Freuds Formel: die Traumdeutung sei der Königsweg zur Kenntnis des Unbewussten, das nach Jacques Lacan "wie eine Sprache strukturiert ist", behauptet Dolar, dass "die Stimme, dieser Auswuchs der Sprache, der Königsweg zu den Trieben ist, zu dem Teil, der 'nicht spricht'".

    In seinen Ausführungen zur "akusmatischen" Stimme, also jener, die verborgen und keinem Körper zuzuordnen ist, parallelisiert der Autor die Stimme der Gottheiten mit der pädagogischen Anordnung bei Pythagoras, der fünf Jahre lang hinter einem Vorhang verborgen doziert haben soll , ferner mit der unsichtbaren Qualität der Stimme in Film, Radio, Schallplatte, Tonband, Fernsehen, Telefon oder Anrufbeantworter. Dabei unterstreicht er das Unheimliche der Erfahrung für die ersten Telefonbenutzer, das in dem Paradox bestand, dass die Stimme gegenwärtig war, die sprechende Person dagegen abwesend. Noch drastischer heute, möchte ich anmerken, die Monologe mit Sprach-Computern am Telefon, die zwar auf natürlichen Stimmen basieren, aber keinen wirklichen Dialog ermöglichen. Extremer als der telefonische Entfremdungseffekt die hypnotische Wirkung von "His master's voice" auf einen Hund, der in den Schalltrichter eines Grammophons hineinlauscht. Während sich Dolar über dieses Werbemotiv für Phonographen beugt, das zum Signet des Schallplatten-Labels EMI werden sollte, stellt er einen Zusammenhang her zwischen Hören, Gehorchen und Gehorsam. Was für den Hund gilt, soll exemplarisch sein für Macht, Autorität und gleichzeitig Ohnmacht der Stimme in der zwischenmenschlichen Kommunikation: "Man ist der Stimme zu sehr ausgeliefert und die Stimme liefert zu sehr aus, man verleibt sich zuviel ein und stößt zuviel aus." Der Konnex zwischen Stimme und Stimmung leuchtet ein, gedacht nur an Extreme wie Stimmschwäche, Stottern oder Lallen.

    Im Kapitel "Die Ethik der Stimme" schließlich untersucht der Autor die Metapher Stimme im Sinne von Gewissen, innere Stimme des moralischen Gebots, Stimmenhören bei Wahnvorstellungen. Gewiss bedienten sich Geister wie Sokrates, Rousseau, Kant oder Heidegger der Stimmen-Metapher, aber Dolars Schlussfolgerung "die Stimme ist die Macht der Vernunft" wirkt reichlich willkürlich. Sollte menschliches Bewusstsein, sein innerster Bereich, stimmliche Qualität aufweisen? Dolars Theorie widerlegt nicht die Identität des logos, des Wortes und der Vernunft, mit ihrem Garanten Gott, his mater's word, da sie die Stimme nicht hinreichend als heterogenes Element der Sprache zu würdigen versteht, dagegen alles Prä- oder Nonverbale wie den Schrei oder die Glossolalie zum Überschuss, eigentlich Abfall oder zu Metastasen der artikulierten Sprache erklärt. Gegenläufige Ansätze hierzu finden sich allenfalls im Exkurs zur Musik, die nur mittelbar mit dem Thema Stimme Gemeinsamkeiten aufweist. Fürchteten die Alten Musik an und für sich als Sünde der Fleischeslust, so war und ist sie in anderen Kulturen dennoch Gottesdienst, religiöse Übung.

    Zum Thema der Stimme in Kafkas Erzählungen stimmt Dolar vorbehaltlos der Disjunktion von Deleuze und Guattari zu: entweder essen oder sprechen. Dabei unterschlugen bereits die Franzosen, indem sie nur Mund, Zähne und Zunge Beachtung schenkten, Wesentliches, das zur Stimme beiträgt. So der Kehlkopf, das Gehör, die Atmung. Dolar zitiert Giorgio Agemben: "Die Suche nach der Stimme in der Sprache, das ist, was man Denken nennt." Das Gemeinte kennen wir unter den Synonymen Duktus, Stil, Subjektivität, Originalität et cetera. Von einer Theorie der Stimme hatte ich mir mehr erwartet als dieses wenig konzise shifting zwischen Phänomen und Metapher.


    Mladen Dolar: His Master's Voice
    Eine Theorie der Stimme.
    Aus dem Englischen von Michael Adrian und Bettina Engels
    Suhrkamp, Frankfurt/M. 2007
    259 Seiten, 24,80 Euro