Freitag, 19. April 2024

Archiv

Unterwegs in Nagasaki
Romantische Hafenstadt mit internationalem Flair

Die Stadt Nagasaki ist bis heute durch den Abwurf der Atombombe im Jahr 1945 geprägt. Dass es dort prächtige Gärten, eindrückliche Museen und Industriedenkmäler gibt, ist weniger bekannt. Schon vor Jahrhunderten war die japanische Hafenstadt Ziel europäischer Seefahrer - und ist bis heute kosmopolitisch geblieben.

Von Jürgen Hanefeld | 27.05.2018
    Touristen flanieren auf der Souvenirstraße bei Glover Garden mit Blick auf den Hafen von Nagasaki.
    Um den Glover Garden in Nagasaki ranken sich viele Legenden (picture-alliance / dpa / Angela Merker)
    Es schüttet in Strömen. Brian Burke-Gaffney steht lächelnd mit zwei aufgespannten Regenschirmen am Eingang zum Glover-Garden. Er ist ein höflicher Mann. Der kanadische Historiker lebt seit Jahrzehnten mit seiner japanischen Frau in Nagasaki, arbeitet dort als Professor an der Universität. Ehrenhalber ist er Direktor des Glover-Garden, der wichtigsten Touristenattraktion der Stadt. Quasi im Nebenberuf ist er auch noch ein unverbesserlicher Legendenzerstörer. Andauernd müsse er seine Gäste enttäuschen, sagt er, weil in den Prospekten so viel Unsinn über Glover Garden stehe. Was also ist wahr an den Geschichten über die Europäer im Nagasaki des 19. Jahrhunderts? Zum Beispiel an der über Thomas Glover.
    "Thomas Glover stammte aus Aberdeen in Schottland. Er kam 1859 nach Japan und gründete seine eigene Firma namens Glover & Co in Nagasaki. In den folgenden acht Jahren führte er in Japan verschiedene neue Technologien ein, Schiffbau zum Beispiel, Kohleabbau, und er war auch Mitbegründer der ersten japanischen Bierbrauerei 'Kirin'."
    Die Holländer brachten das Bier nach Japan
    Glover hat also keineswegs das Bier nach Japan gebracht, das waren die Holländer. Er habe auch nichts mit japanischen Revolutionären zu tun gehabt, wie es in den Touristen-Prospekten steht. Schon gar nicht habe er sie in seinem Haus versteckt. Im Übrigen war er bei weitem nicht der einzige europäische Geschäftsmann damals in Nagasaki. Dutzende Kaufleute nutzten die Öffnung Japans gegenüber dem Westen, um reich zu werden.
    Brian Burke-Gaffney, Direktor des Glover-Garden in Nagasaki
    Historiker Brian Burke-Gaffney kennt die Legenden, die sich um den Glover Garden ranken (Jürgen Hanefeld)
    Was den Besuchern des Glover Garden, und das sind immerhin zwei Millionen pro Jahr, erzählt wird, ist also nicht so genau zu nehmen. Eine Legende lässt der Historiker Burke-Gaffney immerhin gelten: Es gebe eine - wenn auch verschlungene - Linie von Puccinis weltberühmter Oper "Madame Butterfly" zu der famosen Villa des Schotten.
    "Wegen des einzigartigen Designs, halb westlich, halb japanisch, und dem wundervollen Blick über den Hafen von Nagasaki, haben sich die Amerikaner vorgestellt, wie Madame Butterfly auf die Rückkehr Pinkertons wartet. Sie gaben dem Haus den Spitznamen "Madame Butterfly-Haus". Das blieb haften."
    Hafenstädten nähert man sich ja sowieso am besten von See her. Sich vorzustellen, wie der Verführer Pinkerton in seiner schmucken, weißen Marineuniform an Bord seines Schiffes in den zauberhaften Naturhafen Nagasakis einläuft, und oben am Hang, auf der blumenüberladenen Terrasse, die zierliche, bildschöne Geisha entdeckt, ... hach!
    Auch die todtraurige Geschichte um die mandeläugige Japanerin, die sich von einem ruchlosen Marineoffizier schwängern lässt und sich am Ende umbringt, ist frei erfunden. Das alltägliche Leben in Nagasaki sei anders gewesen, sagt Brian Burke Gaffney:
    "Madame Butterfly ist ein erfundener Charakter. Aber wenn man die Geschichte dieser Region betrachtet, dann war Thomas Glover beileibe nicht der einzige, der mit einer Japanerin zusammenlebte. Viele wurden glücklich, hatten Kinder und Familien ihr ganzes Leben lang. Nagasaki hatte diese Atmosphäre einer romantischen Hafenstadt mit internationalem Flair, wo sich Leute aus verschiedenen Kulturkreisen trafen."
    Duft der großen weiten Welt
    Das ist bis heute so geblieben. Obwohl Nagasaki mit seinen gerade mal 420.000 Einwohnern für japanische Verhältnisse allenfalls eine kleine Großstadt ist, verströmt sie den Duft der großen, weiten Welt. An allen Haltestellen der ratternden Straßenbahn gibt es mehrsprachige Hinweise auf Attraktionen in Reichweite, auch die Ansagen in den Waggons sind nicht allein japanisch, sondern englisch, chinesisch und koreanisch. Nirgendwo sonst in Japan kommen Ausländer so leicht ohne einheimische Sprachkenntnisse zurecht. Eine kosmopolitische Tradition, die ins 16. Jahrhundert zurückreicht.
    Große Segelboote liegen während des "Japan Tall Ships Festivals" im Hafen von Nagasaki
    Große Segelboote im Hafen von Nagasaki (picture alliance / dpa / MAXPPP / Kyodo)
    Der von zahllosen Eilanden geschützte Hafen auf der südlichen Hauptinsel Kyushu war ursprünglich ein Fischerdorf gewesen. Bis es 1543 ein Schiff aus der portugiesischen Kolonie Malakka im heutigen Malaysia hierher verschlug. Dies gilt als erster Kontakt zwischen Europa und Japan. Der Handel kam schnell in Gang. Das in einer tief eingeschnittenen Bucht windgeschützt liegende Nagasaki wurde schnell zum Ziel der portugiesischen Karacken, den riesigen Dreimastern. Die Kaufleute lieferten die ersten Schusswaffen nach Japan, die Jesuiten den katholischen Glauben, die Japaner Silber. Etliche Lokalfürsten konvertierten zum Christentum.
    Einige portugiesische Produkte, die über Nagasaki importiert wurden, gibt es heute noch als japanische Spezialität. Castella-Kuchen zum Beispiel und Tempura, frittiertes Gemüse. Auch Knöpfe, Kartenspiele, bestimmte Stoffe und Kleidungsstücke, vor allem aber Tabak und Chinin, die portugiesische Schiffe aus Brasilien mitbrachten, wurden Teil der japanischen Alltagskultur. Binnen weniger Jahre gründeten die Jesuiten in Nagasaki Kirchen und Pflegeheime und übernahmen die Verwaltung.
    Missionare wurden im 16. Jahrhundert ausgewiesen
    Doch den Militärherrschern Japans behagte nicht, was sich im Süden des Reiches abspielte. Ende des 16. Jahrhunderts wurden alle Missionare ausgewiesen. An der Oura-Kirche, der ältesten Japans, erzählt der Priester Kiyomi Mooroka die Episode aus dem Jahr 1597, als wäre er dabei gewesen.
    "Unter dem Shogunat Hideyoshi wurden 26 Christen in Osaka und Kyoto festgenommen und nach Nagasaki verschleppt, 20 Japaner und sechs Ausländer. Durch halb Japan wurden sie getrieben um zu zeigen, was Leuten geschieht, die sich zum Christentum bekennen. Auf diesem Hügel namens Nishizaka wurden die 26 Männer an Pfähle gebunden und verbrannt. Im Hafen lagen portugiesische Schiffe, die mit ihren Signalhörnern die Zeremonie begleitet haben."
    Die Oura-Kirche in Nagasaki ist die älteste Kirche Japans
    Oura-Kirche in Nagasaki (picture-alliance / dpa / Kohei Chibahara)
    Die Legende vom Tod der 26 Männer - der jüngste zwölf, der älteste 64 - ist ein fester Bestandteil des Katholizismus in Japan. Sie wurden im 19. Jahrhundert sogar zu Heiligen erklärt. Doch außer in Nagasaki hat sich die fremde Religion nie durchsetzen können. Und selbst hier blieben die Christen in der Minderheit. Das 250 Jahre geltende Verbot war nachhaltig. Nur 10 Prozent der Stadtbevölkerung - rund 40.000 - sind heute Katholiken, Protestanten gibt es kaum.
    Der Besuch der Sonntagsmesse in der Nakamachi-Kirche ist ein Erlebnis. Die vielleicht 250 Gläubigen, zwei Drittel von ihnen sind Frauen, sitzen auf der rechten Seite und tragen weiße Spitzenschleier. Auf der linken Seite die Männer. Alle haben nach japanischer Sitte die Schuhe an der Kirchentür stehen lassen. Die Verfolgung der Christen hat eine Sekte entstehen lassen, die zumindest ein Kuriosum darstellt. Nur hier, in und um Nasasaki, gibt es sogenannte "Verborgene Christen".
    Sekte der "Verborgenen Christen"
    Shigenori Murakami ist ihr Vorbeter. Der 67-jährige verrichtet den Sermon auf einem Berg über dem Meer, und es klingt wie ein buddhistischer Singsang, eine Sutra. Nur wer genau hinhört, erkennt christliche Inhalte. "Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen." Das sei Teil der Camouflage, sagt der "Verborgene Christ", nur so hätten sie seit dem 17. Jahrhundert überleben können. Unten in der Stadt poltert der sonst so freundliche Erzbischof von Nagasaki, Joseph Mitsuaki Takami, etwas ungehalten.
    "Die Nachkommen der 'Verborgenen Christen' behaupten, dass nur sie richtige Katholiken sind und die katholische Kirche von heute eine ganz andere und sogar eine falsche Religion ist. So was sagen sie tatsächlich. Das ist doch völlig irre! Es gibt auf der Welt Hunderte Millionen katholische Gläubige. Sie sind vielleicht noch ein paar Hundert. Trotzdem behaupten sie, dass sie die wahren Katholiken sind."
    Der Stammbaum des Erzbischofs reicht zurück bis zu den ersten japanischen Christen. Vielleicht ist er deshalb so verärgert, wenn er und seine Vorfahren als Abweichler von der reinen Lehre bezeichnet werden.
    "Die meisten Christen haben sich damals entschieden, oberflächlich zum Buddhismus zu wechseln. Das bedeutete, sie mussten vor Beamten des Shoguns auf Tonplatten treten, auf denen christliche Symbole eingeritzt waren. Aber zu Hause haben sie Gott sofort um Vergebung gebeten."
    Als das Verbot ab Mitte des 19. Jahrhundert gelockert wurde, bekannten sich die meisten "Verborgenen Christen" zur Römisch-Katholischen Kirche. Nur eine kleine Zahl blieb den überlieferten Ritualen treu. Heute ist Nagasaki der Sitz des höchsten katholischen Geistlichen in Japan. Erzbischof Takami ist ein entschiedener Gegner der Regierung in Tokio, die dabei ist, das Land aufzurüsten.
    "Ich bin gegen Krieg. Es gibt keinen Krieg, der notwendig ist. Das ist meine Überzeugung. Die USA, die ein Staat aus Christen sind, haben zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen. Das waren nichts anderes als Menschenversuche. Ich kann gar nicht verstehen, warum Menschen anderen Menschen solche Grausamkeiten antun können."
    Das ist nicht nur eine akademische Haltung. Takami ist selbst ein Opfer der Atombombe, die Nagasaki am 9. August 1945 zerstörte.
    "Ich bin ein Embryo-Hibak(u)sha. Meine Mutter war im 3. Monat schwanger, als die Bombe fiel. Sie arbeitete gerade auf einem Reisfeld vier Kilometer entfernt. Ein Blitz sei aus dem Himmel gekommen, der sie einfach umgeworfen habe, hat sie erzählt. Ihre beiden Schwestern in der Stadt waren sofort tot. Und meine Großmutter starb sechs Tage später unter entsetzlichen Qualen."
    Zeitzeugen der Atombombe
    Es ist leicht auszurechnen, wer in Nagasaki noch als Zeitzeuge in Betracht kommt. Der Priester Shigemi Fukabori zum Beispiel, der die Bombe als 14-jähriger überlebt hat.
    "Meine ganze Familie kam ums Leben. Fünf Geschwister und meine Mutter. Nur mein Vater und ich haben überlebt, weil wir nicht zu Hause waren. Ich arbeitete auf der Mitsubishi-Werft, da wurden Kriegsschiffe gebaut 4,3 Kilometer vom Epizentrum entfernt. Bei uns flogen nur die Dächer weg. Sonst habe ich nichts abbekommen."
    Fukabori hütet ein besonderes Fundstück, den verbrannten Kopf einer Madonna, der in einer Seitenkapelle der Urakami-Kathedrale aufgestellt ist. Nachdem die ursprüngliche Kirche beim Atom-Angriff völlig zerstört worden war, galt auch die wertvolle Marienfigur als verschollen.
    Bild des Atompilzes vom 9. August 1945 in der Stadt Nagasaki
    Die Atombombe auf Nagasaki zerstörte viele Familien (Nagasaki Atomic Bomb Museum)
    "Aber im Oktober 1945 fand ein heimkehrender Soldat im Schutt der Kirche den Kopf. Entsetzlich ramponiert, mit leeren Augenhöhlen. Ursprünglich stammt die Figur aus Italien. Sie war uns zur Weihe der Kirche geschenkt worden."
    Um seine Friedensbotschaft zu unterstreichen, nimmt Erzbischof Takami den misshandelten Madonnenkopf auf jede Auslandsreise mit.
    "Schrecklich. Es ist unglaublich. Dass man hier noch sehen kann, wie die Bombe die Menschen getötet hat. Davon bin ich total beeindruckt. (Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Grausamkeit macht mich sprachlos."
    Unterirdisches Atombombenmuseum
    Schockiert stehen die Kinder vor den Vitrinen im Atombombenmuseum. Der Besuch sei Pflicht, meint Direktor Akitoshi Nakamura.
    "Am 9. August um 11 Uhr 02 wurde die Atombombe hier auf Nagasaki geworfen. Um das Ausmaß der Katastrophe zu zeigen, haben wir dieses Museum gebaut, ganz in der Nähe des Epizentrums. Es liegt unterirdisch. Auf dieser schneckenförmigen Rampe steigen die Besucher hinab in das Jahr 1945."
    "Wenn die Besucher hier unten ankommen, sehen sie als erstes diese verbeulte Wanduhr. Sie ist um 11.02 Uhr stehengeblieben. Gegenüber steht das Motto unseres Museums in zehn Sprachen."
    Auf Deutsch heißt es: "Nagasaki muss die letzte Stadt bleiben, die eine Atombombe erlebt hat." Die Ausstellung ist nicht groß, aber erschütternd: Lebensgroße Fotos zeigen zerfetzte Körper, Menschen, deren Haut bei lebendigem Leibe schmilzt. Im Original verbrannte Kleidung, eine geschmolzene Leiter, ein geborstener Wassertank, Stahl und Glas - von der unglaublichen Hitze in bizarre Formen gepresst.
    "Gemessen an der Energie, war die Bombe auf Nagasaki stärker als die von Hiroshima. 1,5 mal mehr. Die Amerikaner wollten eigentlich die Altstadt treffen. Aber dort war es bewölkt. Sie sind dann 3 Kilometer weiter geflogen in ein nicht so dicht besiedeltes Gebiet, das von beiden Seiten von Bergflanken geschützt ist. Deswegen war die Zahl der Opfer geringer als in Hiroshima."
    Von den damals etwa 250.000 Einwohnern Nagasakis kamen 70.000 sofort oder binnen weniger Tage ums Leben, unter ihnen eine große Zahl koreanischer Zwangsarbeiter, aber nur 250 japanische Soldaten. In der benachbarten Gedenkhalle plätschert Wasser. Das war das, was den verbrannten Opfern am dringendsten fehlte. Hier wird täglich Bilanz gezogen. 176.000 Tote seit damals, und täglich kommen welche dazu.
    Wichtigster Arbeitgeber in Nagasaki ist Mitsubishi
    Die kriegswichtige Mitsubishi-Werft, in der Schiffe und Flugzeuge gebaut wurden, hat kaum etwas abbekommen. Noch immer ist Mitsubishi der wichtigste Arbeitgeber in Nagasaki. Die Werftanlagen liegen beiderseits des trichterförmigen Hafens: riesige Kräne, Docks und Produktionshallen, soweit das Auge reicht. Gegründet wurde die Firma vor 160 Jahren mit Hilfe holländischer Ingenieure als Reparaturwerft für Kriegsschiffe. Heute beschäftigt das bekannte Unternehmen der Schwerindustrie in seinen 300 Tochtergesellschaften weltweit rund 80.000 Mitarbeiter.
    Das Ziel, das Touristen ansteuern, ist ein Industriedenkmal besonderer Art: Gunkan Jima, die Insel, die der Konzern bis 1974 als Kohlenmine ausgebeutet hat. Weil die Insel 20 Kilometer vom Festland entfernt ist, mussten die Kumpel mit ihren Familien auf der Insel leben. Heute ist sie unbewohnt. Nur Ausflugsboote bedienen die Insel, wenn das Wetter es zulässt.
    "Gestern und heute Vormittag war der Taifun so stark, da konnten wir gar nicht rausfahren. Dies ist die erste Tour."
    Miyuki Yamaguchi ist Rentner, war früher selbst bei - wo sonst? - Mitsubishi angestellt. Er weiß alles über Gunkan-Jima, dieses zerbröselnde Denkmal der Industriegeschichte: verlassene Betonklötze im tosenden Meer auf einer Fläche von 480 Meter mal 160 Meter. Früher war das der am dichtesten besiedelte Ort der Welt. 5.000 Menschen förderten hier Kohle, bis zu 1000 Meter tief. Yamaguchi zeigt auf den Wohnblock Nummer 30.
    "1910 war das Japans höchstes Gebäude. Sieben Stockwerke. Der Eingang war auf der Rückseite, wegen der Taifune. Und daneben, die Nummer 31, hatte einen Friseursalon. Die einzige Möglichkeit, mehr Platz zu schaffen, war es, immer höher zu bauen. Zu den Bewohnern gehörten Frauen und Kinder, man hat alles getan, um ihr Leben zumindest erträglich zu machen. Es gab eine Schule mit 1000 Schülern, einen Kindergarten auf dem Dach, einen Swimmingpool..."
    ...der mit Salzwasser gefüllt war. Denn Gunkan-Jima hatte kein Süßwasser. Trinkwasser war streng rationiert, es kam in Tankschiffen vom Festland. Die Besucher sind fasziniert.
    "Gespenstisch ist das alles. Als ich klein war und die Mine war noch in Betrieb, wusste ich gar nichts davon. Und jetzt? Einfach gespenstisch!"
    Wie diese vielen Menschen hier lebten, auch noch mit Kindern, kann man sich kaum vorstellen!
    "Das ist doch toll. Ich habe zum ersten Mal so ein Industriedenkmal besucht. Total beeindruckend, wie die Menschen hier gearbeitet haben. Ich spüre auch den Geist der Leute, die bei dieser Gefahr und all den Schwierigkeiten auf dieser winzigen Insel gelebt haben. Ich finde es gut, dass Gunkan-Jima Weltkulturerbe geworden ist."
    Hinweis auf Zwangsarbeiter fehlt
    Absichtlich vergessen wurde der Hinweis auf die koreanischen Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs. Spätestens im Zuge der Anerkennung als Weltkulturerbe 2015 wäre das fällig gewesen, sagt die UNESCO. Aber Japan blendet seine Geschichte immer dann aus, wenn sie nicht dem eigenen Ruhm dient.
    Unten in der Stadt hat die Live-Musik begonnen. Die ratternde Straßenbahn und die Kneipe "Crazy Horse" haben Gemeinsamkeiten: Sie brummen, sie quietschen, sie sind laut, altmodisch und gemütlich.
    Der alte Zausel, der bis eben noch am Zapfhahn stand, wischt die Hände ab und greift nach dem Bass. Sein klapperdürrer Kollege sitzt bereits am Schlagzeug, fehlt nur noch die Gitarre. Allabendlich geht es hier rund unter Japanern, die nicht dressiert sind wie die meisten in Tokio. Sie tragen bunte Hemden, trinken "Highballs" und quatschen jeden an.
    Plötzlich schiebt sich eine Gruppe Holländer in das handtuchschmale Lokal. Sie kommen gerade von Dejima, der künstlichen Insel mitten in Nagasaki. Mehr als 200 Jahre lang genossen ihre Vorfahren das Privileg, mit Japan Handel treiben zu dürfen. Aber nur von dieser Insel aus.
    "Es war wunderbar. Ich bin daran sehr interessiert, und ich war erstaunt, und ich habe eigentlich auch nicht gewusst, dass die Holländer hier so lange gewesen sind. Diesen Handelsgeist haben die Holländer ja noch immer. Das finde sehr gut. Es hat mich auch erstaunt, dass sie damals schon so weit gefahren sind mit ihren Schiffen: erst nach Jakarta, das damals Batavia war, und dann weiter nach Japan. Sehr spezial!"
    Einzige Insel mit Straßenbahnhaltestelle
    Es ist die einzige Insel mit Straßenbahnhaltestelle. Aber das sei natürlich nicht immer so gewesen, erzählt Junji Mamits(u)ka, der Direktor des "Dejima Restauration Office".
    "Dejima lag damals vor der Stadt im Meer. Der Shogun Tokugawa hatte 25 reichen japanischen Kaufleuten befohlen, diese Insel zu bauen. Seit 1641 durften Holländer von Dejima aus mit Japan Handel treiben. Als einzige Europäer, 218 Jahre lang!"
    Nagasaki war Japans Tor zur Welt. Doch genau genommen war es das Nadelöhr Dejima, durch das Japan mit dem Rest der Welt Handel trieb: eine fächerförmige Insel von 15.000 Quadratmetern mit Häusern, Gärten und Lagerhäusern, umfasst von einer Mauer mit zwei Toren, eines zur Stadt für Japaner, eines zur Seeseite für Holländer. Über Dejima wurden Silber, Kupfer, Porzellan, Kunstwerke und Tee exportiert, nicht nur nach Holland, sondern weiter nach Frankreich und Deutschland. Japaner wollten im Gegenzug indische Seide, Zucker und Alltagsgüter.
    "Vieles haben wir originalgetreu aufgebaut. Wir haben auch da drüben auf der westlichen Seite 16 Häuser wieder restauriert. Sie stammen ungefähr von 1820. In dem Steinhaus unterhielt später ein deutsches Handelshaus namens Kniefler ein Lager."
    Das erste deutsche Handelshaus in Japan. Es ging später in der Firma C.Illies & Co. auf. Der Mittelständler treibt heute noch Handel - zwischen Hamburg und Ostasien. Doch Dejima war nicht nur ein Handelsposten. Es war auch ein Ort der Wissenschaft.
    Philipp Franz Balthasar von Siebold war ein Arzt aus Würzburg. In Deutschland ist er allenfalls noch Experten ein Begriff - und Blumenfreunden. Er brachte Hortensien und Blauregen aus Japan nach Europa. Doch in Japan ist Siebold nach wie vor berühmt als Naturforscher, Ethnologe, Botaniker und Sammler. Er hatte sich extra Holländisch beigebracht, um 1823 als junger Arzt der Niederländisch-Ostindischen Armee nach Dejima reisen zu können. Als einziger Bewohner der künstlichen Insel durfte er einmal pro Woche heiligen japanischen Boden betreten, sagt Takeshi Orita vom Siebold-Museum in Nagasaki:
    "Nur Siebold durfte Dejima verlassen, weil er einmal die Woche japanische Patienten versorgte und japanische Studenten in der medizinischen Wissenschaft unterrichtete. Er brachte sogar Heilkräuter, die er aus seinem kleinen Garten auf Dejima zog, hier ins Krankenhaus. Aber seine größte Leidenschaft waren Hortensien. Er hat allein zwanzig Sorten katalogisiert. Und die schönste hat er nach dem Kosenamen seiner japanischen Frau benannt: Otaksa. Heute trägt diese Blume den botanischen Namen "Hydrangea Otaksa" und ist ein Wahrzeichen von Nagasaki."
    Landkarte kostete Naturforscher Siebold fast den Kopf
    Wenn auch weniger berühmt als Alexander von Humboldt, war Siebold ein ebenso wichtiger Vertreter der jungen Naturwissenschaften. Nichts war vor seiner wissenschaftlichen Neugierde sicher, er erforschte alles von A wie Augen bis W wie Wale. Was ihn beinahe den Kopf kostete. Von einer Expedition, die ihn sogar an den Kaiserhof führte, brachte er eine Landkarte mit.
    "Er hatte ja schon sehr viel in Japan geforscht und gesammelt, darunter war auch diese Landkarte. In Europa war die Form Japans damals noch unbekannt, deswegen wollte er die Karte mitnehmen. Aber das war strikt verboten, galt als militärisches Geheimnis. Als man die Karte entdeckte, wurde Siebold des Landes verwiesen."
    Erst 30 Jahre später, als sich Japan endgültig dem Westen geöffnet hatte, durfte er zurückkehren. Er lebte dann wieder dort, wo er Patienten geheilt hatte und wo nun sein Museum steht - hoch am Hang über Nagasaki.
    Lange Zeit galt Siebold in Japan als Holländer. Und die westliche Wissenschaft nannten die Japaner "Hollandkunde", sagt Junji Mamits(u)ka.
    "Dejima ist ein wichtiger Ort, nicht nur was die Beziehungen Japans zu Europa angeht, sondern auch, weil sich von hier aus das Wissen verbreitete: Rangaku wie wir Japaner sagen, "Hollandkunde", womit alles mögliche gemeint ist - Bücher, Musikinstrumente, medizinische Gerätschaften, die die Modernisierung Japans einleiteten. Deswegen bauen wir diesen Ort so authentisch wie möglich wieder auf."
    Das tun sie schon seit geraumer Zeit. Das Projekt begann 1951, als die Stadt beschloss, das Gelände, das der Shogun vor mehr als 200 Jahren den 25 Kaufleuten überließ, zurückzukaufen. Erst 2001 waren alle Grundstücke in Händen der Stadt. In weiteren 50 Jahren soll Dejima wieder so sein, wie es einst gewesen war. Nicht als Disneyland, sondern als historisches Museum.
    "Unser Ziel ist es, Dejima wieder als Insel erlebbar zu machen. Alles, was dahinter inzwischen aufgeschüttet und bebaut wurde, wollen wir abreißen. Das heißt, wir müssen auch diese Grundstücke den jetzigen Eigentümern abkaufen. Wir haben uns vorgenommen, hundert Jahre nach Beginn des Projektes, also 2050, wieder einen freien Blick aufs Meer zu haben.
    Wie Madame Butterfly.
    Eines schönen Tages werden wir
    Einen Rauchfaden an der fernen Grenze des Meeres aufsteigen sehen.
    Und dann erscheint das Schiff.
    Das weiße Schiff läuft in den Hafen ein
    und gibt seinen Salutschuss ab.
    Siehst du?