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Uraufführung "Der Kandidat" vor 40 Jahren
Vielschichtiges Zeitbild einer Gesellschaft

Keine andere Bundestagswahl der deutschen Nachkriegszeit hat so polarisiert wie der Wahlkampf 1980. Ein Kollektiv deutscher Filmemacher und Journalisten entschied sich, mit einem Dokumentarfilm in den Wahlkampf einzugreifen. Am 18. April kam "Der Kandidat" über den Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß ins Kino.

Von Christian Berndt | 18.04.2020
    CSU-Chef und Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß bei seiner Rede vor den Delegierten. Die CDU/CSU hat am 30.08.1980 in Mannheim die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes eingeleitet.
    CSU-Chef und Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß läutete am 30.08.1980 in Mannheim die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes ein (picture alliance / Wolfgang Eilmes)
    Eine Demonstration gegen den CSU-Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß. Die Szene stammt aus dem Dokumentarfilm "Der Kandidat", der den kontrovers geführten Bundestagswahlkampf 1980 begleitete. Angesichts der fast bürgerkriegsähnlichen Zustände bei Wahlkundgebungen fragte die "Welt am Sonntag": "Wird aus Bonn Weimar?"
    Strauß war der umstrittenste Politiker der Bundesrepublik, auch in der damals zwischen Konservativen und Modernisierern tief gespaltenen CDU hielten viele den unberechenbaren, erzkonservativen Bayern für bedenklich. Aber Strauß füllte die Säle wie kein anderer und begeisterte seine Anhänger mit Provokationen, wenn er zum Beispiel Störer seiner Wahlveranstaltungen beschimpfte.
    "Ihr wärt die besten Schüler von Dr. Joseph Goebbels gewesen, ihr wärt die besten Anhänger Heinrich Himmlers gewesen. Ihr seid die besten Nazi, die es je gegeben hat."
    Kein eindeutiges Bild von Strauß
    Volker Schlöndorff, Ko-Regisseur des Autoren-Kollektivs von "Der Kandidat", wollte mit dem Film Strauß als Kanzler verhindern. Das Projekt war quasi die Fortsetzung des 1978 gedrehten Kollektiv-Films "Deutschland im Herbst", der die aufgeheizte politische Situation in Zeiten des RAF-Terrorismus reflektierte. Neben Schlöndorff war auch der Autorenfilmer Alexander Kluge wieder dabei, dazu kamen die Journalisten Alexander von Eschwege und Stefan Aust.
    Kluge zeichnete für die assoziative Collagentechnik verantwortlich, verfremdete die Bilder mit Texten - etwa vom "Märchen vom Wolf und den 7 Geißlein" als Parabel auf ein diffuses Bedrohungsgefühl der Deutschen – oder mit Musik: Minutenlang folgt die Kamera mit Musik aus Verdis "Maskenball" Strauß‘ feierlichem Einmarsch beim politischen Aschermittwoch der CSU – es wirkt wie die Huldigungszeremonie eines Herrschers. Die Szenen wurden mit versteckter Kamera gedreht, weil die CSU keine Drehgenehmigung erteilt hatte. Nach der Rede sieht man, wie ein erschöpfter Strauß von der Ehefrau einen Piccolo gereicht bekommt - ein fast mitleiderregendes Bild. Der Film zeichnete kein eindeutiges Bild von Strauß, entsprechend gespalten waren die Reaktionen.
    Ein ironisches, fragmentarisches Stimmungsbild
    Stefan Aust: "Aus der Rechten fanden sie es empörend, wie wir mit Strauß umgegangen sind. Und aus der Linken kam, ja, ihr habt ihn ja nicht genügend geschlachtet."
    So Stefan Aust im Rückblick. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, der als Mitinhaber des verantwortlichen Filmverlags der Autoren den Film ko-finanzierte, hatte Aust für die journalistische Recherche geholt. Aust rekonstruierte mit Wochenschaumaterial die Laufbahn des ehrgeizigen Politikers seit den 50er-Jahren, inklusive der Skandale - vom Starfighter bis zur Spiegel-Affäre:
    "Im Grunde zeigt der Film ihn als einen Kandidaten einer vergangenen Zeit. Er ist fast wie ein Nachruf auf ihn."
    Nach der vielbeachteten Uraufführung des Films am 18. April 1980 stieß diese Haltung gerade in der liberalen Presse auf Kritik - die gegenwärtigen politischen Konstellationen seien so beiläufig behandelt wie SPD-Kanzler Helmut Schmidt. Tatsächlich analysiert der Film nicht, sondern zeigt ein ironisches, fragmentarisches Stimmungsbild der politischen Situation im Land. Die willkürlich erscheinende Montage gegensätzlicher Bilder, so damals die "ZEIT", spiegele die Realität eines zerrissenen Landes. Die Szenerie wechselt unvermittelt von einem Fliegerball in Karlsruhe zum Gründungsparteitag der Grünen gleich nebenan, wo die Kamera verschiedene Stimmen einfängt.
    "Darum fordern wird als Erstes die Abschaffung, das heißt ersatzlose Streichung der Paragraphen 173 bis 176, Legalisierung aller zärtlichen sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, die gewaltfrei sind und auf freier Vereinbarung beruhen."
    Die Zusammenarbeit im Team verlief nicht einfach
    Es ist eine der schockierendsten Szenen. Schlöndorffs Kamera sucht mit dem Blick des Insektenforschers gerne die Nebenschauplätze – mit oft erhellender Wirkung. Man erlebt die Krisenstimmung am Ende der 70er-Jahre. Die Ängste vor wirtschaftlichem Niedergang und Atomkrieg nahm Strauß mit seinen Warnungen vor einem drohenden Sozialismus durch die SPD und einer Bedrohung durch die Sowjetunion auf und dramatisierte sie.
    "Sagen Sie den Menschen, dass diesmal um unser Schicksal gewürfelt wird. Sagen Sie es den Verschlafenen, Verdrossenen, Lätscherten und Lapperten in diesem Lande!"
    Die Kombination aus Kluges verfremdender Montage, Schlöndorffs dokumentarischem Blick und Austs Reportage-Stil macht den Film uneinheitlich. Die Zusammenarbeit im Team verlief nicht einfach.
    Stefan Aust: "Jeder hat für seine Teile gekämpft, ich habe die Filmrolle unter den Arm genommen und bin mit der aus dem Schneideraum gegangen, damit Kluge nicht anschließend von sich aus noch wieder was rauskürzt."
    Aber gerade das Disparate gibt dem Film eine Offenheit, die ihn zum vielschichtigen Zeitbild einer Gesellschaft macht, deren Konfliktlinien sich konzentrisch in dem schillernden Kanzlerkandidaten manifestieren.