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Uraufführung "Der Menschenfeind"
Molière wollte mehr als eine gesellschaftliche Kritik üben

Der französische Komödiendichter Molière erreichte am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV einen einmaligen Aufstieg. Doch blieb ihm das von Intrigen und kapriziösen Auftritten geprägte Leben am Hofe immer ein wenig fremd. In der Komödie "Der Menschenfeind" hat er dies zu dem zeitlosen Porträt eines Mannes verdichtet, der mit der Welt der Heuchler gebrochen hat.

Von Eberhard Spreng | 04.06.2016
    Eine Zeichnung von Jean Baptiste Molière.
    Jean Baptiste Molière (imago stock & people)
    "Je veux qu’on me distingue; et pour le trancher net,
    L’ami du genre humain n’est pas du tout mon fait."
    Da möchte jemand von anderen Menschen unterschieden werden und etwas anderes zu hören bekommen, als irgendwelche austauschbaren Höflichkeitsformeln. Ehrlich solle man miteinander umgehen und sich schonungslos sagen, was man vom Anderen denkt. Aber Alceste, die Hauptfigur in Molières berühmter Komödie "Le Misanthrope", hat sich etwas Unmögliches vorgenommen und stößt schnell an die Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz. Dies macht ihn zum "Menschenfeind".
    "Er ist im Prinzip derjenige, der die Ideale höfischen Verhaltens, die in dem Begriff der Honnêteté, der Wohlanständigkeit, der so ein kulturelles Ideal ist, so auf die Spitze treibt, dass sie in ihr Gegenteil umschlagen und sich gegen ihn selbst richten. Er ist ein ganz exzentrischer Typ, der sich permanent selber an den Rand dieser kleinen Gesellschaft katapultiert", erklärt die Romanistin Brigitte Heymann.
    Molière spielte bei der Uraufführung selbst den Alceste
    Bei der Uraufführung am 4. Juni 1666 spielt der französische Komödienautor und Regisseur Molière im Theater des Pariser Palais Royal selbst die Titelrolle des Alceste. Er debattiert mit dem Vertrauten Philinthe über die Ideale menschlichen Verhaltens und konkurriert mit dem Nebenbuhler Oronte um die Gunst einer jungen attraktiven Witwe: Célimène. Wenige Tage später erscheinen die ersten Kritiken, eine von ihnen, wie damals üblich, in schlichten Versen, hier aus der Feder des Charles Robinet de Saint Jean in einer Wochengazette.
    "Ich war da am Sonntag und eins macht mich froh
    Nie sah man Molière auf solchem Niveau
    Der Misanthrop ist voll Weisheit
    Und reibt sich an den Sitten der Zeit"
    Dieser Äußerung zum Trotz, ein Erfolg war das Stück zu Lebzeiten Molières nicht. Das Publikum war in Bezug auf die Hauptfigur gespalten und verunsichert.
    "Der Misserfolg hängt einfach damit zusammen, dass das Publikum, das ja die entscheidende Instanz ist, die über alle möglichen Ideale, Normen, Regeln befindet, la Cour et la Ville, das Publikum wusste nicht so richtig, wo es lachen sollte. Und man sagt ja, dass dieses Sonett, das der Oronte dann vorträgt in der zweiten Szene, danach haben die geklatscht, das fanden die toll. Und dann bekommen sie durch Alceste sofort nachgeliefert, dass das ja nun gar nichts wert sei und werden einfach bloßgestellt."
    Nicht nur gesellschaftliche Kritik
    Der geltungssüchtige Oronte war mit einem preziösen Sonettchen in den Salon geschneit, trug es vor und bekam von Alceste eine herbe Abfuhr. Alcestes überdrehte Ehrlichkeit war der Ausdruck einer gesellschaftlichen Strömung, die als bürgerliches Gegenmodell zum rein äußerlichen Prunk des Sonnenkönigs in Mode gekommen war. Doch Molière wollte nicht nur gesellschaftliche Kritik üben. Im Untertitel des Stücks deutete er noch ein ganz anderes, ein autobiografisches Motiv an: "Le Misanthrope ou L’Atrabilaire amoureux", "Der Menschenfeind oder der verliebte Melancholiker".
    "Schwermut überfällt mich, tiefer Kummer,
    Wenn ich das Treiben dieser Welt betrachte.
    Ich sehe, wie ich meinen Blick auch schärfe,
    Nur Unrecht, Selbstsucht, Lüge, falschen Sinn;
    Mir wird's zu viel"
    Viersäftelehre und eine unglückliche Liebe
    Für Alcestes Melancholie, seine humeur noir, war nach der sogenannten Viersäftelehre die schwarze Galle verantwortlich. Molière selbst schrieb sein Meisterwerk, als er begreifen musste, dass das, was er für eine vorübergehende Verstimmung gehalten hatte, zur chronischen Krankheit geworden war: Der Meister der klassischen Komödie litt, nach heutigen Begriffen, an Neurasthenie - und unter der unglücklichen Liebe zu seiner 20 Jahre jüngeren Frau. Auch sein in sich widersprüchlicher Protagonist und Fundamentalmoralist Alceste liebt ausgerechnet die junge kokette Verführungspragmatikerin Célimène. Die sittenstrenge Arsinoé, ihrerseits erfolglos an Alceste interessiert, macht Célimène wütende Vorhaltungen.
    "Und sollten wir tatsächlich neidisch sein
    Auf Damen ihres gleichen
    Wir können auch sein wie ihr
    Und unser Ziel erreichen,
    Euch Beweise liefern, von Rücksicht nicht bewegt,
    Dass jede Männer findet, sofern sie Wert drauf legt."
    Corinna Kirchhoff spielte die Arsinoé 2010 an der Berliner Schaubühne in einer Misanthrop-Inszenierung, die das Stück in ein ganz zeitgenössisches Gewand packte und als Sittenbild unserer narzisstischen, hedonistischen Vergnügungsgesellschaft realisierte.