Donnerstag, 25. April 2024

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Uraufführung von "Stolpersteine Staatstheater"
Die "Gleichschaltung" der deutschen Bühnen

Plötzlich musste sie gehen, die junge Soubrette Lilly Jankelowitz. Regisseur Hans-Werner Kroesinger beleuchtet in einem Stück, wie im Badischen Staatstheater Karlsruhe unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung jüdische Mitarbeiter von jetzt auf gleich ihre Arbeit verloren. Eine Aufführung, die nicht auf betroffene Anklage setzt, sondern auf das Studium der Aktenlage.

Von Cornelie Ueding | 22.06.2015
    Rote Theaterstühle
    Wie war es vor 82 Jahren, als die jüdischen Kollegen plötzlich von der Bildfläche verschwanden? Regisseur Hans-Werner Kroesinger verwendet in seinem Stück Originalzitate aus behördlichen Schreiben. (picture-alliance / dpa-ZB / Patrick Pleul)
    Eine Ermittlung in eigener Sache: der Sache des Theaters. Am Beispiel des Staatstheaters Karlsruhe. Wie war das damals vor 82 Jahren, als die jüdischen Kollegen plötzlich von der Bildfläche verschwanden? Soubretten und Souffleusen, Chargen und Charakterfach, Intendanten und Dirigenten.
    Zu spät? Nichts Neues? Schon wieder? Oder eine Art Pflichtübung – zum 300-jährigen Stadtjubiläum ein Blick auch auf die Abseite der Erfolgsgeschichte der Stadt Karlsruhe?
    Spät – ja. Es ist schon erstaunlich, wie lange Institutionen, Firmen, Ämter und Behörden sich Zeit nehmen, ihre eigene Geschichte ins Visier zu nehmen. Aber dieses unaufgeregt unpathetische, akribisch genaue und doch anrührende Ermittlungsverfahren ist ganz neu: Keine betroffene Anklage – dafür Studium der Aktenlage.
    Vier Schauspieler recherchieren, memorieren, rekonstruieren, dokumentieren, was damals passierte. Und wie es passieren konnte, dass die naive junge Soubrette Lilly Jankelowitz - die so hübsch tanzen und anmutig lispeln konnte und zugleich, wie man ihr bescheinigte, ihre "höhnisch-tröpfelnde Satire" schlagkräftig einzusetzen verstand – wie es passieren konnte, dass sie dann doch, kaum sechs Wochen nach Hitlers Machtergreifung, den ominösen Brief bekam, der ihr in wohlgesetzten Worten mitteilte, dass man sich bedauerlicherweise außerstande sähe, ihren Vertrag zu verlängern.
    Die Banalität des Bösen
    Mit zäher Präzision rekonstruiert das Team um Regisseur Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura den weiteren Verlauf in Originalzitaten: wie jemand aus dem Spielplan verschwand, wie aus kleinen Schikanen immer größere wurden, schließlich die Nichtverlängerung, Exil, "geschnappt" werden... Endstation Auschwitz oder Ravensbrück. Das Ganze mitten in einem Rausch kollektiver Ergriffenheit, Aufbruchswillen, Opportunismus, aufgeblähter Wichtigtuerei und Blockwarts-Mentalität. Immer in Form bürokratischer Verbindlichkeit bis hin zum Behördenschreiben betreffs "Abwanderung", das rechtsverbindliche Forderungen enthält: Man habe in aller Ruhe die Vorbereitungen zu treffen, die richtigen Dinge mitzunehmen und dürfe vor allem das Geld für die Fahrkarte zum "Zielort" nicht vergessen.
    Die Banalität des Bösen bekommt in Karlsruhe noch einen Hauch badensischer Verbindlichkeit, gepaart mit der Bösartigkeit geschäftiger Banalität. Zugleich wird vorgeführt, wie man die Gemeinschaft der Kunstliebhaber gleich mitmanipulieren kann. Ein fröhlich wippendes Animations-Team setzt uns allen, die wir als Zuschauer zwischen den vier Schauspielern an einem riesigen zackigen Tisch sitzen, mundgerecht völkische Delikatesshappen vor: passgenau und Spass-genau.
    Anhand von vier exemplarischen Einzelfällen wird den unbeachteten, längst verschmutzten und kaum mehr von der Umgebung abgehobenen Stolper-Pflaster-Steinen ihre Geschichte gegeben. Und die Bühne wird zum theatralischen Stolperstein ihrer selbst, wenn vorgeführt wird, wie Texte von Goethe bis Kleist, vom harmlosen Volksstücke bis zur Führerrede in den Dienst eines Denkens gestellt wurden – gestellt werden können. So leicht, plausibel, selbstverständlich und freundlich zugewandt, dass es einen gruselt. In Anbetracht des Geschehens nehmen Zuschauer und Schauspieler gemeinsam an dieser Vivisektion gemischter Gefühle teil. Dokumente kursieren, Akten werden durchflogen, Aktenvermerke zitiert, dialogisch aufgelöst, nachgespielt, dann wieder protokollartig verlesen, vorgeführt, dahingesagt: eine sehr seltene virtuose Überblendung von Beiläufigkeit und Zynismus.
    Das Ganze ohne historisierende oder gar mahnend-aktualisierende Anmutung – und doch ist der Blick in die Gegenwart verlängert. Alles so gesagt, als ob es eben erst geschähe – im Vorfeld einer Apokalypse, von der keiner weiß noch wissen konnte. In dieser unsagbaren Mischung aus latentem Opportunismus, listiger Anpassung, strategischer Begeisterung und Mimikry, wie sie fast zeitlos, uns jedenfalls gut bekannt ist. Am Ende spricht eine "Zeitzeugin", etwas peinlich berührt, im Interview davon, wie unangenehm und traurig das doch alles gewesen sei. Aber man sei in dieser Situation eben so ohnmächtig gewesen. Ein wenig Glück gehöre eben auch dazu. Zum Überleben.