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Uraufführung von "Trutz"
Zwischen Fiktion und Dokument

Das Grauen des blutigen 20. Jahrhunderts ist das Thema von "Trutz", dem jüngsten Roman von Christoph Hein. Der kommt nun bei den Ruhrfestspielen auf die Bühne. Dabei wird ihm jeder Ansatz zum Realismus ausgetrieben - der Stoff bekommt dafür eine deutliche Portion Schelmenroman.

Von Michael Laages | 05.06.2018
    Trutz | Nach dem Roman von Christoph Hein | Schauspiel Hannover in Kooperation mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen | Regie und Bühne: Dušan David Pařízek | Kostüme: Kamila Polívková | Szene mit: Henning Hartmann, Markus John, Ernst Stötzner, Sarah Franke
    Henning Hartmann, Markus John, Ernst Stötzner und Sarah Franke sind die vier Clowns-Figuren in "Trutz" (Ruhrfestspiele Recklinghausen / Katrin Ribbe)
    Ganz unrecht hat die Dame von der Stasi ja nicht: "Damit könnten Sie glatt im Zirkus auftreten, oder im Varieté!", sächselt sie - gerade hat Maykl Trutz, Archivar in Potsdam und von der "Firma" des Geheimnisverrats gen Westen bezichtigt, auf höchst erstaunliche Weise die eigene Unschuld bewiesen. So gut nämlich funktioniert sein Gedächtnis, dass er sogar sagen kann, an welchen Tagen im Notizbuch kein Eintrag zu finden ist - da müssen ja wohl auch die anderen Daten stimmen. Freispruch, für diesmal.
    Glücks- und Unglückskind zugleich
    In Moskau geboren, als Kind von Rainer und Gudrun Trutz, er Schriftsteller, sie engagierte Gewerkschafterin in Berlin und beide mit Hilfe einer lettischen Freundin ins sowjetische Exil geschleust, ist Maykl Glücks- und Unglückskind zugleich - er kann nicht vergessen, nichts und nie. Vor allem nicht das Schicksal der Eltern, Papa Rainer ermordet im sibirischen Lager Workuta, Mutter Gudrun gestorben an Kummer und Auszehrung. Später in der DDR, als Schüler, Student und erst recht im Beruf, lässt dieses ewige Erinnern Maykl Trutz unanpassbar werden - was er weiß (und halt nicht vergessen kann), ist nie gefragt.
    Erinnern bei viel Wodka
    Zwangsversetzt ins entlegene Wittenberge der Nachwendezeit, hört er einer eher halbgar argumentierenden Kollegin zu, die fahrlässige Vergleiche zieht zwischen den Arten der Schreckensherrschaft unter Stalin und Hitler; und zufällig ist auch Rem im Saal, der Kindheitsfreund, mit dem gemeinsam Maykl Trutz "Mnemonik" lernte bei Rems Vater Waldemar Gejm. Da waren die Jungs zwei Jahre alt; bei recht viel Wodka erinnern sich die Alten jetzt.
    Das sowjetisch-deutsche Schmerzens- und Schreckenspanorama greift in Christoph Heins Roman weit aus. So taucht plötzlich im Umfeld des Wissenschaftlers Gejm der Regisseur Wsewolod Meierhold auf, später plötzlich auch Simon Wiesenthal, der Nazi-Jäger der Nachkriegszeit, dem der Archivar Trutz das eigene Wissen anbietet. In der Schwebe bleiben Heins Geschichten: zwischen Fiktion und Dokument.
    Treiben durch die Lebensalter
    Regisseur Dusan David Parizek nimmt diese Ungewissheit zum einen ins Bühnenbild: das im wesentlichen aus Bild-Folien wie für die PowerPoint-Präsentation besteht, aus "Prawda"-Seiten und Dokumenten, auf zwei Wände projiziert. Zum anderen und obendrein hat er dieser Fassung des Romans jeden Ansatz zum Realismus ausgetrieben - eine Frau und drei Männer sind das Ensemble, und sie spielen, geschlechtertechnisch gern überkreuz, unendlich viele Rollen in genau so vielen Altersmomenten. Sarah Franke und Henning Hartmann arbeiten vor allem in Hannover, Markus John und Ernst Stötzner sind am Hamburger Schauspielhaus daheim - und es ist schon grandios, wie sie alle sich vor allem durch die Lebensalter treiben lassen: Stötzner etwa, 68 mittlerweile und hier auch als Baby zu erleben.
    Dieser Trick hilft, funktioniert als starke Behauptung der Bühne gegenüber dem Roman. Die ist ja auch nötig - denn Autor Hein "kann" ja auch Drama; er weiß also sicher ganz gut, warum der Stoff für ihn zum Roman werden musste. Immer noch gibt es in den etwas mehr als zwei Theaterstunden auch eine Menge Papier zu hören - also legt Parizek noch ein paar Schippen an Verfremdung drauf; und verrennt sich zuweilen.
    Allgegenwart russischer Pelzmützen
    Das Zeug zur amüsanten Travestie jedenfalls hat "Trutz" eher nicht, und auch die Allgegenwart russischer Pelzmützen wirkt ein wenig überreizt. Dafür kommt das garantiert unrussische Alphorn zum Einsatz - keine Ahnung warum.
    So bleibt die Wirkung letztlich eher zwiespältig - was Trutz und den Seinen geschah, ist Teil vom großen Grauen des blutigen Jahrhunderts. Was Parizek zeigt, und vor allem wie er das macht, sieht eher aus nach Schelmenroman, bestenfalls "Simplicissimus". Grundsätzlich aber hat das Theater einmal mehr einen starken Stoff für sich erobert, nicht zuletzt im Spiel von vier herrlichen Clown-Figuren. Darum: Gut so.