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Urbane Nomaden
Alternative Wohnformen im LKW und Zirkuswagen

Sie haben keine Wohnung, sind aber auch nicht obdachlos. Durchaus nicht nur Arme versuchen ein Leben abseits von Häusern - leben aber trotzdem in der Stadt. Sie sind urbane Nomaden, wohnen in umgebauten LKW, Campingmobilen oder Bauwagen. Die parken sie versteckt in Sackgassen - oder auch im alten Mauerstreifen mitten in Berlin.

Von Andreas Becker | 30.11.2015
    Besonders in Ballungszentren ist der Bedarf an Wohnungen gestiegen
    Florian und Judith sind nicht aus Armut auf die Straße umgezogen. Eher aus Abenteuerlust und Anti-Konsumhaltung. (dpa / picture-alliance / Armin Weigel)
    Von den Berliner Ämtern wird es pragmatisch geduldet, sogar der Müll wird abgeholt. Im Winter kann dieses Leben aber auch recht hart und frostig sein. Aus manchem kunstvoll umgebauten LKW, ragt jetzt im Winter ein qualmendes Kohleofenrohr.
    An einem sonnigen Samstag stehen Judith und Florian, beide Anfang 30, vor ihrem Wohnmobil-LKW in einer Sackgasse mitten in Kreuzberg. Die Sommerreifen müssen runter. Florian kurbelt den Wagenheber hoch und bürstet mit einiger Mühe den Straßendreck ab.
    "Unterlegscheibe vergessen. So lange der aufgebockt ist, kann ich das nicht anziehen, weil der Reifen sich mitdreht, der hier ist über 3,5 Tonnen. Und die haben jährlich TÜV."
    Der Daimler ist älter als seine Bewohner, Baujahr ´71. Seit letztem Frühjahr lebt das Pärchen in dem Lastwagen.
    Kompostklo ohne Wasserspülung
    Florian und Judith sind nicht aus Armut auf die Straße umgezogen. Eher aus Abenteuerlust und Anti-Konsumhaltung. Sie ist Ärztin in einem Krankenhaus, er Persönlichkeits-Coach. Judith zeigt mir ihre kleine, aber sehr gemütliche mobile Wohnung:
    "Wir haben uns sofort in das Auto verliebt, es ist alles Holz, grüne Kissen aus Marokko und so wunderschöne 70er-Jahre-Kacheln. Da oben schlafen wir, da ist unser Bett.
    Hier ist unser Bad. Hier ist unser Kompostklo ohne Wasserspülung, frei kompostierbar, wo man immer so Streu reinmachen muss."
    "Also ich selber habe keine Lust auf einen festen Wohnsitz, für den ich auch immer arbeiten gehen muss. Und dann komm ich da nicht mehr weg!"
    Lieblingsplatz ist auf der LKW-Dachterrasse
    Ihr Lieblingsplatz und Versteck ist auf der LKW-Dachterrasse in rund vier Meter Höhe:
    "Da oben merkst du halt nicht, dass dich jemand anguckt."
    "Und weiter geht's, ja!"
    Wenn´s hier richtig kalt wird, wollen die beiden Richtung Marokko aufbrechen. In Berlin gibt es ca. 15 feste, teilweise sehr unzugängliche "Rollheimerplätze" mit geschätzt 600 bis 800 Bewohnern. Manche schotten sich ab, wollen keine Besucher. Von den Ämtern werden sie geduldet. Aber durch die zunehmende Tendenz, Brachflächen zu bebauen, nimmt der Druck auf die alternativen Wohnformen zu.
    Vor ihrem kleinen alten Postbulli, ohne Extra-Ofen, steht Straßenkünstlerin Anne, 29: "Im Winter war ich jetzt oft im Süden. Ich hab halt auch keinen Bus mit Heizung, ich glaub der Körper kann sich auch an ziemlich viel gewöhnen."
    Hinter einer hohen Mauer versteckt, auf einem Neuköllner Friedhofsgelände mit alten Bäumen, stehen bunt angepinselte Wägelchen, die schon lange nicht mehr rollen. Das Gelände ist von der Kirche gepachtet. Alice und Karsten öffnen eine kleine Tür im Jägerzaun, bitten mich in den Garten und in einen rund 75 Jahre alten Zirkuswagen. Gut geheizt:
    "Wir haben hier eine Gasheizung. Und wenn's uns zu kalt wird, dann heizen wir hier mit einem Kaminofen, das ist Holz."
    Alternative Wohnformen nehmen zu
    Es gibt ein kleines Bad, sogar mit Dusche. Viel Holz an den Wänden, kleine Fensterchen im gewölbten Dach. Der verrentete Architekt und die Psychologin basteln fast täglich an ihrem kleinen Anwesen:
    "Das ist unser erster Wagen, da haben die Kinder auf dem Fußboden vor uns geschlafen, auf Matratzen, hier war das Podest, da war der Küchenwagen. Das ist jetzt mein Büro."
    Die ständige Bauerei ist für ihn der Preis des ansonsten sehr günstigen Lebens auf Rädern. Alles mit korrekter Behördengenehmigung: "Ich habe einen Plan eingereicht bei der Bauaufsicht, da hab ich markiert, wo wir wohnen, in Zirkuswagen."
    Obwohl hier der Postbote vorbei kommt, man Wasser- und Stromanschluss hat, leben sie in einem grünen Natur-Idyll - im Sommer sitzt man auf einer Holzveranda in der Sonne. Wenn ihre Brache bebaut würde - Karsten und Alice würden nicht einziehen:
    "Egal, in welches Haus ich reinkomme, man riecht was gekocht wurde, welcher Hund durchgelaufen ist. Es ist einfach stickig, eng und bedrückend."
    Seit mehr als zwei Jahrzehnten, bewohnen sie die immerhin sieben alten Zirkus- und Bauwagen:
    "Also unsre Kinder wohnen in Wohnungen, unsre Freunde wohnen in Wohnungen - ich will nicht in eine Wohnung."
    "Ich habe einmal versucht, in einer Wohnung wieder Fuß zu fassen. Ich konnte da nicht schlafen. Ging nicht mehr. Grauselig diese festen Steinmauern, das war so still."