Freitag, 29. März 2024

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Urheberrecht "Mein Kampf"
"Wichtige Quelle, um das Denken Hitlers zu spiegeln"

"Mein Kampf" sei ein Spiegel seiner Zeit, sagte Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Viele der Zitate und Anknüpfungen, die Hitler dort einbringe, kämen aus den schlechten Traditionen des 19. Jahrhunderts. So spiegele dieses Buch auch die Vorurteile seiner Zeit wider.

Peter Steinbach im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 30.12.2015
    Peter Steinbach, Historiker und wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
    Peter Steinbach, Historiker und wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Viele der Motive Hitlers seien im Buch greifbar, viele seien aber auch verkürzt. Im Text werde zwar der Zusammenhang zwischen Hitlers Antisemitismus und seinem Entschluss, Politiker zu werden, dargestellt. Das bedeute aber noch nicht, dass in dieser Kampfschrift auch schon Auschwitz projiziert werde, sondern es werde ein extremer Rassenhass, eine Ablehnung anderer Kulturen legitimiert.
    Das Problem der Historiker sei, dass sie suchen würden, was sie finden wollten. Insofern sei die neue Edition eine Chance, weil man nun unbefangen selbst auf die Suche gehen könnte nach den Kernideen des Nationalsozialismus.

    Das Interview mit Peter Steinbach in voller Länge:

    Dirk-Oliver Heckmann: "Mein Kampf", Adolf Hitlers Pamphlet, zum großen Teil in seiner Haftzeit in Landsberg entstanden, es umweht bis heute zahlreiche Mythen. Das mag daran liegen, dass Hitler lange vor der Machtübergabe Teile seines Programms bereits deutlich niederlegte. Zum anderen war das Werk zuzeiten des sogenannten Dritten Reichs ein Bestseller, seit Ende des Zweiten Weltkriegs verboten.
    Der Freistaat Bayern war bisher im Besitz der Urheberrechte, doch 70 Jahre nach dem Selbstmord Hitlers laufen auch die Rechte an "Mein Kampf" aus, und das ist mit dem morgigen Tag der Fall. Am 8. Januar erscheint dann eine kritisch kommentierte Neuausgabe des renommierten Instituts für Zeitgeschichte in München, an der jahrelang gearbeitet worden ist. Und bevor wir mit dem Historiker Peter Steinbach über das Projekt sprechen, zunächst ein Bericht von Michael Watzke, der die Autoren dieser Neuausgabe in München besucht hat.
    Michael Watzke war das aus München. Und zugeschaltet aus Berlin ist uns jetzt Professor Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand, einschlägiger Experte für NS-Geschichte. Schönen guten Morgen, Herr Steinbach!
    Peter Steinbach: Guten Morgen, Herr Heckmann!
    "Mein Kampf" spiegelt die Vorurteile seiner Zeit
    Heckmann: Es war bereits viel die Rede von "Mein Kampf" in den Medien in den vergangenen Tagen. Da war die Rede vom gefährlichsten Buch der Welt und ähnlichen Mystifizierungen. Welchen Stellenwert hat das Buch, wenn man das Wesen des Nationalsozialismus und das Denken Hitlers begreifen will?
    Steinbach: Es ist natürlich eine ganz wichtige Quelle, um das Denken Hitlers zu spiegeln. Es ist auch eine politische Programmschrift. Und ich glaube, viel wichtiger ist noch, es ist eigentlich ein Spiegel seiner Zeit. Eigentlich kommen viele der Zitate, der Anknüpfungen, die Hitler bringt, eigentlich aus dem Mustopf, wirklich aus den schlechten Traditionen des 19. Jahrhunderts. Und insofern spiegelt dieses Buch eigentlich auch die Vorurteile seiner Zeit.
    Das ist, glaube ich, ganz wichtig, und mit dieser Spiegelung sind die Menschen dann eigentlich nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nicht so richtig klargekommen. Und da haben sie sich dann selbst eingeredet, sie hätten das Buch nicht gelesen, es sei schlecht gewesen, und haben eigentlich dieses Buch, die Diskussion über dieses Buch benutzt, um sich selbst zu entlasten, eigentlich auch, um sich selbst zu betrügen.
    "Neuedition ist eine Chance"
    Heckmann: Sie haben von einer politischen Programmschrift gesprochen. Der Historikerkollege Eberhardt Jäckel hat mal geschrieben, selten oder vielleicht nie in der Geschichte hat ein Herrscher, ehe er an die Macht kam, so genau wie Hitler schriftlich entworfen, was er danach tat. Gehen Sie da mit?
    Steinbach: Man soll eigentlich nie nie sagen. Ich denke, viele der Motive Hitlers sind greifbar. Manche Dinge haben wir dann aber auch wirklich verkürzt. Nehmen wir mal das oft zitierte Zitat "und ich aber beschloss, Politiker zu werden". Das haben wir geknüpft im Grunde an die Erfahrung Hitlers nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Im Text wird ganz eindeutig ein Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus Hitlers, der dann wirklich eliminatorisch angelegt ist, und seinem Entschluss gefällt.
    Das bedeutet aber noch nicht, dass in dieser Kampfschrift Auschwitz projiziert wird, sondern es wird im Grunde ein extremer Rassenhass, eine Ablehnung anderer Kulturen legitimiert. Vielleicht meint Jäckel das. Das Problem des Historikers ist ja immer, dass sie suchen, was sie finden wollen, und insofern ist, glaube ich, diese Neuedition eine Chance, weil wir nun wirklich mal unbefangen selbst auf die Suche gehen können nach Kerninhalten der nationalsozialistischen Ideologie.
    Heckmann: Charlotte Knobloch, die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, selbst auch Überlebende des Holocaust, die hatte sich ja gegen eine Neuausgabe ausgesprochen. Ihr Nachnachfolger Josef Schuster ist dafür. Das Land Bayern hat sich aus der Finanzierung zwischenzeitlich zurückgezogen. Können Sie diese Skepsis nachvollziehen?
    Steinbach: Die Skepsis von Frau Knobloch kann ich nachvollziehen, ebenso wie die Position von Herrn Schuster. Das sind einfach Meinungen, die in eine pluralistische Gesellschaft, die über Geschichte nachdenkt und auch streitet, gehören. Den Rückzug der bayerischen Staatsregierung kann ich überhaupt nicht verstehen. Die Frage, die sich eigentlich knüpft an diese Entscheidung, ist, trauen wir eigentlich den Lesern zu, sich mit dem Nationalsozialismus, mit der Kampfschrift zu beschäftigen?
    "Hitler war ein Sprachrohr für die Stimmungen seiner Zeit"
    Nun sind natürlich vollmundige Ankündigungen erfolgt. Wer nun sagt, er würde – und das ist ja auch gerade in dem Beitrag von Herrn Watzke angesprochen –, er brauche im Grunde die Auseinandersetzung mit diesem Buch, um Hitler zu widerlegen, und dabei sogar so einen Satz hat "Wo er recht hat, hat er recht", wo ich fragen würde, wo hat er denn recht, der setzt sich im Grunde natürlich der Gefahr aus, dass er wiederum nur die Spiegelung der Realität der NS-Zeit in diesem Text sucht.
    Ich glaube, es braucht nicht die kritische Auseinandersetzung mit diesem Buch, um den Nationalsozialismus zu widerlegen oder vielleicht sogar zu sagen, wir werden jetzt im Grunde die realistische Geschichte schreiben, denn der Nationalsozialismus hat sich durch seine Politik, durch seinen Rassenwahn, durch seinen Völkermord, durch die destruktive Wirkung des Krieges eigentlich selbst widerlegt.
    Das muss es nicht sein, sondern wir müssen im Grunde, glaube ich, versuchen, in der Auseinandersetzung mit diesem Text etwas anzusprechen, was vielleicht auch in unserer gegenwärtigen Denkvorstellung noch nicht ganz verloren ist. Fremdenfeindlich, Sorge um Leitkultur, um Grundwerte, die wir haben. Das sind ja alles Begriffe, die wir heute in jeder politischen Diskussion hören, fast auf jedem Parteitag hören. Und wir können in der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Buch durchaus einmal exemplarisch lernen, wohin eigentlich eine Radikalisierung dieser Argumente führen kann.
    Heckmann: Wobei auch klar ist, Geschichte wiederholt sich nicht, jedenfalls nicht eins zu eins. In Varianten sieht das wiederum anders aus. Was genau können wir aus der Lektüre einer kommentierten Neuausgabe von "Mein Kampf" lernen?
    Steinbach: Ich glaube, wir können zum einen lernen, wie banal Hitler dachte. Auch, wenn man heute sagt, er war belesen – MacGregor hat das betont, er hat gesagt, plötzlich zitiert er Herrmann und Dorothea, wenn er etwa die Familie zitiert. Es wird deutlich, dass dieser Hitler eigentlich ein Sprachrohr war, fast ein Trichter war. Er nahm seismografisch empfindlich Stimmungen seiner Zeit auf, reproduzierte sie und verwandelte sie eigentlich in eine Massenbegeisterung, die sich dann zur Massenhysterie steigerte.
    Insofern kann ich mir vorstellen, dass die Auseinandersetzung mit diesem Buch politische Rationalität plausibel machen kann, die Notwendigkeit, wirklich Argumente, die herangetragen werden, heute vielleicht in jeder Talkshow kritisch zu hinterfragen, kritisch zu überprüfen nach Voraussetzungen, nach Begründungszusammenhängen zu fragen. Das wäre exemplarisch, und da sehe ich eigentlich auch die Bedeutung dieser Edition für die historisch-politische Bildung. Aber zu sagen, nun können wir endlich richtig das Dritte Reich durchschauen, wir können Hitler wiederlegen, das greift, glaube ich, zu weit, und das bestätigt dann eigentlich die Vorbehalte von Frau Knobloch.
    "Ich erhoffe mir von der Neuedition politische Selbstreflexion"
    Heckmann: Herr Steinbach, Sie haben mir im Vorgespräch erzählt, wenn Sie Ihren Studenten Fotos gezeigt haben mit Wachleuten in Uniform mit einem deutschen Schäferhund beispielsweise an der Seite, dann würden Ihre Studenten oder hätten Ihre Studenten nicht mehr an Auschwitz gedacht, sondern an Abu Ghraib, das von den Amerikanern betriebene Gefängnis im Irak. Was sagt uns das?
    Steinbach: Ich glaube, dass wir an dem Punkt stehen, 70 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Staates, dass wir uns wirklich klar machen müssen, dass wir neue Zugänge zur Deutung, zur menschenrechtlich wichtigen Geschichte dieses Nationalsozialismus überlegen müssen. Viele der Bilder, die wir als 60-, 70-Jährige im Geschichtsunterricht bekommen haben, werden heute von Jugendlichen anders konnotiert.
    Schutzhaft, also die Verhaftung von politisch Verdächtigen ohne, sagen wir mal, rechtlichen Hintergrund verbinden heutige Studenten mit Guantanamo und viel weniger mit Buchenwald. Das heißt, wir müssen eigentlich versuchen, in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches, des nationalsozialistischen Staates, die Dimension menschenrechtlicher und antihumanitärer Art anzusprechen, die im Grunde mal, ich glaube, Jakob Burghardt auf den Begriff gebracht hat, "Humanität steigt über die Nationalität zur Bestialität auf". Und ich glaube, von dieser Denkfigur können wir uns leiten lassen.
    "Geschichte nutzen, um unsere Gegenwart noch klarer zu sehen"
    Für mich war immer unheimlich wichtig ein Satz von Dietrich Bonhoeffer, der zehn Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung seinen Freunden schrieb, "Vergesst nicht, nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd." Und ich glaube, das ist die Wirkung, die ich mir von dieser Neuedition erhoffe, dass wir im Grunde auch eine Art politischer Selbstreflexion, sehr selbstkritischer Selbstreflexion anschauen.
    Was schwingt eigentlich in uns mit? Wir sind heute im Land der Pegida-Demonstrationen. Wir werden wöchentlich im Grunde mit rassistischen Vorstellungen konfrontiert. Wir werden mit Homogenitätsvorstellungen konfrontiert. Ich glaube, wir dürfen nicht allein in die Geschichte ausweichen, sondern wir müssen Geschichte auch nutzen, um unsere Gegenwart noch klarer zu sehen.
    Heckmann: Am 8. Januar erscheint "Hitler. Mein Kampf. Eine kritische Edition", herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte in München, und wir haben über das Projekt gesprochen mit Professor Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Herr Steinbach, danke Ihnen herzlich für Ihren Besuch im Studio!
    Steinbach: Ich danke Ihnen auch!
    Heckmann: Und einen schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.