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Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Der Erste Weltkrieg stand am Anfang des traumatischen 20. Jahrhunderts, ein Krieg, der zu Beginn auch von den Intellektuellen Deutschlands oder Frankreichs noch euphorisch bejubelt wurde und der, so hieß es damals, das "Beste im Manne" fordern sollte: Kameradschaft, Heimatliebe, Verteidigungsbereitschaft, Mannhaftigkeit. Er führte in eine Katastrophe bislang ungekannten Ausmaßes und sollte die zweite Katastrophe des 20. Jahrhunderts: den Holocaust, zwangsläufig mit bedingen. In Deutschen Historischen Museum wurde nun eine große Ausstellung eröffnet, die an den ersten globalen Konflikt des 20. Jahrhunderts erinnert.

Von Arno Orzessek | 13.05.2004
    Von Arno Orzessek

    Es muss das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern, wäre Verrat am Vaterlande.

    Am 6. August 1914, fünf Tage nach der Mobilmachung, rief Kaiser Wilhelm II. die Deutschen in jenen Krieg, der sich zum ersten Weltkrieg und - wie man heute oft sagt - zur "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" ausweiten sollte. Wilhelms Rede wurde berühmt - sie gehört zu den Highlights in der Geschichte der großen Männer, der dicken Kanonen und der mörderischen Schlachten.

    Und eben diese Geschichte wird im Deutschen Historischen Museum nicht noch einmal erzählt, sondern fast bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund gerückt, und zwar um Platz zu schaffen für eine Darstellung der europäischen Gesellschaften und ihrer Menschen unter den Bedingungen des ersten totalen Krieges. Kurator Dr. Rainer Rother:

    Es ging also schon in dem ersten Konzept nicht darum, eine militärhistorische Ausstellung zu konzipieren, sondern eine kulturhistorische, die versucht, diese Urkatastrophe da auch aufzugreifen, wo sie wirklich auch Urkatastrophe ist, nämlich in der Involvierung praktisch der gesamten Bevölkerung eines Landes.

    Zur Innenausstattung des Krieges gehören die durchschossene Börse des deutschen Soldaten Karl Walter und der Notizblock des kanadischen Majors William John Holliday genauso wie lettische Brotkarten und russische Zuckermarken, Oberschenkelprothesen und private Grabsteine genauso wie Käthe Kollwitz' "Pietá" und Bernhard Bleekers Porträtbüste des einst hoch verehrten Paul von Hindenburg.

    Die Perspektive ist so international, wie es die Fundstücke aus zweiundzwanzig Ländern hergeben - im einzelnen nicht präzise oder gar erschöpfend, aber geeignet, um eine Ahnung vom bunten Set der nationalen Stereotype und deren Fragwürdigkeit zu geben.

    Die Alltagsobjekte ermöglichen mikroskopische Einsichten in die Eingeweide der Katastrophe - oder anders gesagt: Noch jede Banalität kann im suggestiven Rahmen dieser Ausstellung als Indiz und Symptom des Krieges genommen werden. Der Kontext macht selbst den 20-Mark-Notgeldschein der Handelskammer des Memelgebietes zum beredten Zeugen der schwierigen Nachkriegsordnung.

    Laute, pseudo-realistische Animationen, wie etwa der nachgebaute Schützengraben im Londoner Imperial War Museum, fehlen dagegen gänzlich. Dr. Kristiane Burchardi, wissenschaftliche Mitarbeiterin:

    Es ist nicht der Stil des Deutschen Historischen Museums, im Foyer Panzer und Schützengraben aufzubauen und ein Geschichtsbild zu transportieren, das sich vielleicht sehr eindrücklich vermittelt und dann auch erhält, zweifellos, aber eben doch auch letztlich sehr einseitig greift.

    "Erfahrung", "Neuordnung" und "Erinnerung" heißen die abstrakten Überschriften mit jeweils mehreren Unterkapiteln. Sie schaffen eine behutsame und unkonventionelle Ordnung der Dinge, deren Plausibilität sich allerdings nur durch Mitdenken erschließt - und damit visuell fixierten Ausstellungsbesuchern nicht entgegenkommt. Ehe Begriffe und Objekte zusammen passten, war einiges Tüfteln nötig. Kristiane Burchardi:

    Wir hatten auch an Dinge gedacht wie Feuer, Erde, Wasser und Luft, haben einfach gemerkt, das trifft es nicht, und haben dann uns überlegt: Was passiert in so einem Krieg? Es wird versucht, Raum zu gewinnen. Das war ein Begriff. Was wird dafür benötigt? Das ist das Material beziehungsweise: Wer kämpft eigentlich und wer leidet? Das ist der Körper und natürlich die Psyche vielleicht als zweiter Teil der menschlichen Substanz in so einem Krieg.

    Je stärker man sich einlässt auf den Reichtum der Kleinigkeiten und die geradezu liebevolle Präsentation im Kunstlicht des Pei-Baus, desto weniger wird man möglicherweise das große Grauen des Mordgeschäftes und die metaphysischen Obertöne noch verspüren, die etwa der Luftschiffer Martin Heidegger beim Gasangriff und der Grabenkämpfer Ernst Jünger im Pfeifen der Granaten mitgehört haben.

    Das ist vielleicht das Paradox, dass die eigentlich kluge Ausstellung in eine Gefühlslage hinein führt, in der sich der große Krieg in den Scharmützeln der Kleinigkeiten auflöst und - falls dieses Wort hier passend sein kann - in femininer Behutsamkeit in die Erinnerung prägt.

    Doch auch diesem pazifizierenden Effekt lässt sich einiges abgewinnen. Laut Kurator Rainer Rother transportiert die Ausstellung einen europäischen Geist, der in die Zukunft weist:

    Wichtiger noch als diese Urkatastrophe war für uns die Erkenntnis, dass nach 1989 Europa sich befreit fühlt, dass man sagen kann, mit dem Beitritt der zehn neuen Länder in die EG, von denen acht ihre Unabhängigkeit auf die Folgen des ersten Weltkriegs zurückführen, ist eigentlich eine Rückkehr zu dem, was Europa vor 1914 war: Ein großes Ganzes mit kulturellen Austausch, der durch keinerlei Vorhang behindert war. Man vergisst, dass das Reisen passfrei war von 1914, dass es leicht war, Anregungen aus anderen Ländern aufzunehmen bei aller imperialen Konkurrenz.