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Urteil bezieht sich auf Altfälle

Nach der Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geht die Tendenz in Richtung Freilassung der Straftäter. Nun stellt sich die Frage, wie der Staat mit Menschen umgeht, die er für gefährlich hält, die aber nicht weiter in Haft gehalten werden können.

Stephan Detjen im Gespräch mit Dirk Müller | 13.01.2011
    Dirk Müller: Wir sind wieder einmal verurteilt worden, erneut vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Nach dem Verdikt der Richter verstößt die nachträgliche Sicherungsverwahrung von Straftätern gegen die Menschenrechtskonvention. Diese Begründung kennen wir bereits, doch diesmal ging es auch konkret um die Klagen von vier verurteilten Tätern. Das Urteil aus Straßburg zur Sicherungsverwahrung in Deutschland, darüber sprechen wir nun mit Deutschlandfunk-Chefredakteur Stephan Detjen. Was ist jetzt neu an diesem Urteil?

    Stephan Detjen: Es sind eigentlich drei Punkte, die an diesem Urteil interessant sind. Das erste, was man festhalten muss: Dieses Urteil sagt, so weit ich es jetzt wahrnehmen konnte - man muss solche Urteile immer sorgfältig zwei-, dreimal lesen -, nichts zu dem jetzt mit dem Jahresbeginn in Kraft getretenen neuen Recht in Deutschland. Martin Durm hat das eben gesagt: es bezieht sich auf Altfälle, es bezieht sich auf das vor der Reform vom letzten Jahr geltende Recht in Deutschland, und ich kann auch nicht erkennen, dass in diesen Urteilen jetzt Aussagen vorhanden sind, die die Neuregelungen in Deutschland in Frage stellen.

    Zweitens - auch das ist in dem Bericht eben deutlich geworden -, erwartungsgemäß erklärt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die rückwirkende Sicherungsverwahrung, die in Deutschland wie gesagt in etwa 20 Fällen im Augenblick noch angewendet wird, für einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention. Das sind also die Fälle, in denen Straftäter verurteilt worden waren und dann nach dem Urteil in der Haft Gefährdungstatbestände oder Gefährdungsgründe erkannt wurden und dann nach dem Urteil die Sicherungsverwahrung angeordnet werden musste.

    Das dritte - und das ist aus meiner Sicht das eigentlich interessante - ist das, was sich aus diesem Urteil ergibt und was das Gericht sagt zur Umsetzungspraxis in Deutschland, zu dem, wie man hier mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom vergangenen Jahr umgeht. Seitdem wissen wir, dass die Straßburger Menschenrechtsrichter dieses Instrument der Sicherungsverwahrung in Deutschland, so wie es über viele Jahre hier angewendet wurde, für menschenrechtswidrig halten. Die Frage ist, wie geht man dann damit um, und da hat es im vergangenen Jahr, in den vergangenen zwölf Monaten in Deutschland unterschiedliche Anwendungsformen gegeben. Es hat Fälle gegeben, in denen - auch das wurde in dem Bericht deutlich - sicherheitsverwahrte Täter freigelassen wurden. Das war etwa in Baden-Württemberg so. Einer der Fälle, die heute entschieden wurden, ist einer von denen. Da ist auf Grundlage eines Beschlusses des Oberlandesgerichts Karlsruhe ein Straftäter dann freigelassen worden. Er steht seitdem unter permanenter aufwendiger Beobachtung der Polizei. Andere Oberlandesgerichte sind aber davon ausgegangen, dass auch nach diesem Urteil vom letzten Jahr, nach diesem ein Jahr alten Urteil, dennoch Straftäter in der Sicherungsverwahrung in Deutschland belassen werden können. Auch ein solcher Fall ist heute entschieden worden. Da hat das Gericht noch mal festgestellt, auch in diesem Fall verstieß die Sicherungsverwahrung gegen die europäische Menschenrechtskonvention.

    Nun können die Richter nicht anordnen, dass diese Gefangenen in Deutschland freigelassen werden können. Die Umsetzung von solchen Urteilen des Gerichts in Straßburg ist Sache der Nationalstaaten. Die Richter können das auch nicht rügen, sie können sich nicht dazu äußern. Aber sie haben in diesem Urteil deutlich gemacht, dass sie das durchaus wahrnehmen, und sie haben ausdrücklich gesagt, dass sie die Entscheidungen deutscher Gerichte begrüßen, die auf eine Freilassung der Straftäter hinauslaufen, und sie haben deutlich gemacht - sie formulieren das so zurückhaltend, wie sie es müssen -, dass sie es zur Kenntnis nehmen, dass nicht alle deutschen Gerichte den Maßgaben aus Straßburg folgen, und das ist ein deutlicher Hinweis.

    Müller: Jetzt haben Sie, Stephan Detjen, extra darauf hingewiesen, dass das neue Gesetz, was ja noch nicht lange besteht, bei uns aufgrund des ersten Straßburger Urteils ja neu formuliert wurde, eben noch nicht zur Diskussion, noch nicht zur Disposition stand in Straßburg. Wenn wir jetzt von den konkreten Einzelfällen ausgehen - Sie haben das ja interpretiert in Richtung Freilassung der Täter -, korrespondiert das mit unserem neuen Gesetz?

    Detjen: Das neue Gesetz betrifft nur Fälle, die jetzt entschieden werden. Es gilt also ab 1. Januar für Straftäter, die ab jetzt verurteilt werden, und es legt fest, unter welchen Voraussetzungen für die eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Es läuft darauf hinaus, dass die Sicherungsverwahrung mit dem ersten Strafurteil leichter, aber unter strengen Maßstäben angeordnet werden kann, und es stellt fest, nachträgliche Sicherungsverwahrung ist in Deutschland auch nach deutscher Rechtslage seit Anfang dieses Jahres nicht mehr möglich.

    Man muss das wirklich noch mal untereinanderhalten. Das ist kompliziert, diese unterschiedlichen Zeitebenen. Und die Frage, die sich hier in Deutschland nach wie vor stellt, ist: wie gehen wir um mit diesen Leuten, die auf Grundlage von Rechtsvorschriften, auch wieder unterschiedlich gearteten Rechtsvorschriften der vergangenen Jahrzehnte, in Deutschland in Sicherungsverwahrung genommen worden sind. Wir wissen, wir haben das heute noch mal bestätigt bekommen: Straßburg, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält das für menschenrechtswidrig. Wie gehen wir damit um? - Wir haben das erlebt in den vergangenen Wochen. Da sind Menschen freigelassen worden, das hat zu Empörung geführt, das hat zu einer erregten Berichterstattung in Zeitungen geführt, das hat zur Notwendigkeit aufwendiger Sicherungsmaßnahmen durch die Polizei geführt und es ist jetzt noch mal der Druck erhöht worden auf die deutschen Gerichte, auch in weiteren Fällen Freilassungsanordnungen zu erwirken. Aber wie gesagt, die Straßburger Richter können das nicht durchsetzen. Die Umsetzung von solchen Urteilen muss vom Ministerkomitee des Europarats kontrolliert werden. Das tagt einmal im Jahr, die nächste Tagung ist im Mai. Die werden sich dann mit dieser deutschen Umsetzungspraxis befassen müssen, werden die möglicherweise auch wieder rügen. Das ist also der nächste Termin, Mai, wo dann auf der Tagesordnung der zuständigen Minister des Europarats auf der Agenda steht, setzt Deutschland dieses Urteil aus dem vergangenen Jahr und diese jetzt ergangenen Urteile richtig um, und es steht zu befürchten, dass Deutschland sich dann eine Rüge einhandeln wird.

    Müller: Um das noch mal unter dem Strich zusammenzufassen. Nach diesem Urteil heute, vier konkrete Einzelfälle standen dort den Richtern zur Disposition beziehungsweise zur Verurteilung an, die Tendenz geht in Richtung Freilassung?

    Detjen: Die Tendenz geht in Richtung Freilassung und sie führt dann zur Frage, wie geht man mit solchen Straftätern um. Es ist richtig und es ist wichtig, dass hier strenge rechtliche Maßstäbe gelten. Diese Sicherungsverwahrung, die faktisch bis ans Lebensende gehen kann, ist ein unfassbar hartes Instrument des Strafrechts, dafür müssen strenge Regelungen gelten. Und der Staat wird sich weiter überlegen müssen, wie er mit Menschen umgeht, die er für gefährlich hält, die aber nun mal nicht aufgrund ihrer Straftaten und der gesetzlichen Regelungen, so wie sie nun einmal gelten, weiter in Haft gehalten werden können.

    Müller: Bei uns im Studio Deutschlandfunk-Chefredakteur Stephan Detjen. Vielen Dank.