Donnerstag, 25. April 2024

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Aus der Schatztruhe des Weltkulturerbes
Die polyfone Musik Georgiens

Georgien ist das Land der polyfonen Musik. Seine Volksweisen sind für westliche Ohren ungewöhnlich. In ihr fügen sich Dissonanzen zu Harmonien zusammen, sie gehören in ihrer Einzigartigkeit zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe.

Von Tatjana Montik | 06.03.2016
    Aufgenommen am 12.06.2010. Uschguli ist eine Gemeinschaft von vier Dörfern am oberen Ende der Enguri-Schlucht. Die Dörfer von Uschguli sind bekannt für ihre Wehrtürme und nach ihrer Nominierung 1993 seit 1996 Teil des UNESCO-Welterbes.
    Der Ort Uschguli in Ober-Swanetien im Großen Kaukasus. Georgien und seine Bevölkerung lebt in Verbundenheit mit vielen Tradtionen. (picture alliance / dpa / Thomas Schulze)
    Bei den Proben des Tifliser Tanz- und Gesang-Ensembles Erisioni: Zum rhythmischen Klang der Volksinstrumente absolvieren Männer und Frauen unterschiedliche Choreografien. Bei den Männern wird lange auf Zehenspitzen getanzt, mit Schwertern gekämpft und synchron in langen Reihen stolziert. Die Frauen scheinen über den Boden zu gleiten, sie tun das ausgesprochen feminin und bieten dabei eindrucksvolle Beispiele an Würde und Geschmeidigkeit.
    Der künstlerische Leiter des Ensembles, Dschemal Tschkuaseli ist auf seine Truppe stolz: Im vergangenen Jahr ist sie 130 Jahre alt geworden. Tschkuaseli erzählt, von seinen Künstlern werde keine klassische Ausbildung verlangt, weder im Gesang noch im Tanz, denn den polyfonen Gesang und den Volkstanz habe es schon vor unserer Zeitrechnung gegeben.
    Der georgische Volkstanz und das Singen
    "Wir Georgier hatten nie Zeit, um in Ruhe Tee zu trinken. Wir mussten immer hoch zu Ross unsere Heimat gegen Feinde verteidigen. Und so ist auch unser Tanz. Wenn wir vom georgischen Volkstanz sprechen, sprechen wir von sehr langer Tradition. Und der Tanz ist ohne diese Musik nicht vorstellbar. Die Menschheit hat nichts Besseres erfunden als unsere Musik! Hier hängt bei mir an der Wand eine UNESCO-Urkunde, die besagt, dass der georgische Gesang ein Meisterwerk der Musikwelt sei."
    Die Tradition des Singens wird in Georgien oft vererbt. So ist Anzor Erkomaischwili, der künstlerische Leiter des Männer-Chors Rustavi, Musiker schon in der vierten Generation:
    "Ich habe die Lieder nicht nur von den alten Menschen und den Liederkennern gesammelt. Meine Familie, unser Geschlecht, singt seit über 300 Jahren. Und die Kunst der Volksmusik wird von Generation zu Generation weitergegeben. Ich kann mich noch an meinen Urgroßvater, Gigo, erinnern, der mit 107 Jahren verstarb. Er gab an mich die Lieder weiter, die bei uns nur mündlich vererbt wurden. Als ich klein war, sangen in meiner Familie alle: meine Mutter, meine Großmutter, mein Großvater, meine Onkel und Tanten."
    Improvisationen des Gesangs im Westen
    Im georgischen polyfonen Gesang spielt die Improvisation eine große Rolle, sodass ein Lied kaum zweimal auf die gleiche Art gesungen werde, sagt Anzor Erkomaischwili. Und diese Improvisation ist insbesondere für den Westen Georgiens typisch:
    "Die Einwohner von Gurien improvisieren viel. Dort gibt es eine Polyfonie, bei der alle Stimmen miteinander verflochten werden. Manchmal sinkt die erste Stimme unter die zweite, während die zweite höher wird als die erste, und der Bass geht plötzlich hoch. So kommt es zur freien Improvisation. Deshalb sprechen wir von einer sehr komplizierten Polyfonie."
    Georgisches Jodeln: "Krimantschuli"
    Der russische Komponist Igor Strawinski war vom georgischen Gesang dermaßen beeindruckt, dass er sagte: "Was die Georgier singen, ist wichtiger als alle Neuentdeckungen der modernen Musik. Es ist unvergleichlich und einfach. Ich habe nie etwas Besseres gehört". Insbesondere war der Komponist vom georgischen Jodeln, "Krimantschuli" genannt, beeindruckt.
    Den Chor Rustavi gibt es seit 1968. Seither haben darin vier Generationen von Musikern gesungen, die über 800 Lieder auf Schallplatten und CDs aufgenommen haben. Im Rustavi-Chor singen Männer aus verschiedenen Regionen Georgiens. Bei den Liedern aus der jeweiligen Region führen immer nur jene Musiker, die aus dieser Region stammen.
    Brumm-Bass im Osten
    Die Gesangsarten innerhalb dieses kleinen Landes weisen enorme Unterschiede auf. So wird im Westen und im Osten des Landes derart unterschiedlich gesungen, dass man glauben könnte, es handele sich um Musikwerke aus verschiedenen Ländern, sagt der künstlerische Leiter des Chors, Anzor Erkomaischwili:
    "Im Osten Georgiens wird im Brumm-Bass gesungen, und darauf legen sich die Stimmen der Solisten, die erste und die zweite, die sich vor dem Hintergrund des Brummbasses verflechten und dann improvisieren. In Swanetien gibt es komplexe Polyfonie: Die Stimmen bewegen sich aufrecht in komplexen Akkorden. Im Westen Georgiens gibt es kontrastierende Polyfonie, die megrelische und die gurische. Außerdem gibt es vierstimmige Lieder, die in der Welt einzigartig sind. Solche komplizierten Musikwerke - wie bei uns - gibt es in der Welt kaum noch irgendwo."
    Musik ist essenziell wie das Atmen
    Die unterschiedlichen Arten der polyfonen Musik seien durch die großen Charakter-Unterschiede der vielen georgischen Volksstämme zu erklären, sagt die Pianistin und ehemalige Rektorin des Tifliser Konservatoriums, Manana Doidschaschwili. Doch eins sei allen Georgiern eigen - Musikalität:
    "Die Musik ist für uns genauso essenziell wie das Atmen. Unsere Volkslieder und eine spezielle Art des musischen Denkens liegen uns in den Genen. Den polyfonen Gesang gibt es natürlich auch in Bulgarien, auf Korsika und in Afrika, aber eine derart raffinierte Polyfonie wie in Georgien, solche Meisterwerke wie bei uns, hat keine andere Nation zustande gebracht!"
    Die georgische polyfone Musik zieht Menschen aus der ganzen Welt an. Seit 2002 wird am Tifliser Konservatorium jedes Jahr ein internationales Symposium für polyfone Musik abgehalten. Musik-Wissenschaftler und Sänger aus der ganzen Welt strömen dann nach Georgien, um Theorie und Praxis des polyfonen Singens zu studieren.
    Internationale Anhänger polyfoner Musik
    Die schottische Psychologin Madge Bray, die an diesen Symposien teilnimmt, glaubt, der harmonische Klang des georgischen polyfonen Gesanges sei ein Mittel zur Harmonisierung der menschlichen Seele:
    "Die georgische Polyfonie ist ein großes Meisterwerk und es gehört zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Es ist eine außerordentliche Musik, weil sie eine große Dissonanz aufweist, die später jedoch in der Einigkeit gelöst wird. Zuerst, wenn die Menschen singen, hört man in dieser Musik eine große Schlacht. Aber dann kommen all diese Töne in einer Harmonie zusammen, und diese Harmonie ist wunderschön, aber für westliche Ohren ist sie sehr ungewöhnlich."
    Oto Kowziridze singt im Tifliser Ensemble Teatraluris Kvarteti. Im Repertoire seiner Gruppe sind vierstimmige lyrische Stadtgesänge sowie polyfone Lieder aus verschiedenen Regionen Georgiens. Die Popularisierung dieser alten Gesangstradition im In- und Ausland halten die Musiker für ihre Berufung:
    Außer, dass die Musik unser Beruf ist, ist das auch unser Seelenzustand, denn in welcher Stimmung auch immer wir sein mögen, spielt in unserer Seele die Musik. Sind wir freudig, ertönen in unseren Seelen fröhliche Klänge. Sind wir wehmütig, spielt in unserem Inneren traurige Musik."
    Georgien: ein Land mit traditionellen Wurzeln
    Zu Besuch bei einer typisch georgischen Festtafel, die immer nach strengen Regeln abgehalten wird. Bei der Tafel sind die vier jungen Musiker des Teatraluris Kvarteti anwesend.
    Der Tisch ist reichlich gedeckt mit traditionellen verlockend aussehenden Köstlichkeiten, etwa den Spinat- und Rübenbällchen mit Gewürzen und Nüssen, kleinen gebackenen Maisfladen, Käsewickeln mit Ricotta-Füllung, den duftenden Käsefladen, Chatschapuri, und vielem mehr.
    Die Trinksprüche erfolgen in streng traditioneller Reihenfolge. Tamada, zu Georgisch der Trinkspruchleiter, führt das Fest an. Ohne die Erlaubnis des Tamada darf niemand einen Trinkspruch halten. Der erste Toast gilt dem schönen Land Georgien, das auf Georgisch Sakartvelo heißt:
    "Ich möchte auf das Land trinken, in dem wir leben. Unser Land ist wunderschön - durch seine Traditionen und durch seine Kunst. Georgien ist unglaublich reich an Ressourcen. Und ich liebe dieses Land, und Ihr liebt es auch, deshalb sitzen wir hier alle zusammen an diesem Tisch, deshalb haben wir hier heute diese schöne Tafelrunde. Und jetzt möchten wir über Georgien singen."
    Gleich nach dem Ende des Trinkspruchs stimmen die Musiker ein Lied über Georgien an. Es heißt "Sakartvelo Lamazo", oder zu Deutsch: "Oh, Du schönes Georgien".
    Und so wird die Festtafel mehrere Stunden lang von den Trinksprüchen und Liedern begleitet. Es wird auf den Frieden, auf den georgisch-orthodoxen Kirchenpatriarchen Illia II, auf die Ahnen, auf Frauen und Kinder getrunken. Und man merkt es: Der Gesang ist ein essenzieller Bestandteil des georgischen Lebens - in guten und schlechten Zeiten.