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Urwahl-Prozess
Die Grünen suchen ihren Spitzenkandidaten

Bündnis90/die Grünen wollen bis Januar ihre Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl von der Basis wählen lassen. Bis dahin gehen die Spitzenkandidaten auf eine Werbetour durch die Landesverbände. Ihre Auftritte ähneln einem Lauf durch einen Hindernisparcour.

Von Nadine Lindner | 03.11.2016
    Der Bundesvorsitzende Cem Özdemir (l-r, alle Bündnis 90/Die Grünen), der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter, der schleswig-holsteinische Umwelt- und Landwirtschaftsminister Robert Habeck und die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt am 22.10.2016 beim Urwahlforum
    Der Bundesvorsitzende Cem Özdemir (l-r, alle Bündnis 90/Die Grünen), der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter, der schleswig-holsteinische Umwelt- und Landwirtschaftsminister Robert Habeck und die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    "Bei dieser Wahl geht es darum, dass die Partei in Verantwortung kommt, bei der klar ist, Klimaschutz, das machen wir nicht, wenn es Mode ist."
    "Wir engagieren uns für Politik, um die Wirklichkeit zum Besseren zu verändern."
    "Da draußen sind eine Menge Leute, die kaufen längst grün ein, die handeln längst grün. Und viele von denen, oder einige von denen machen bislang nicht das Kreuz bei uns."
    "Wir müssen schon versuchen, mehrheitsfähig über unser enges, eigenes Milieu hinaus zu werden."
    Die Veranstaltung erinnert zuweilen an einen Hindernisparcours
    Hannover, Ende Oktober 2016. Die vier Kandidaten präsentieren sich auf dem ersten sogenannten Urwahlforum ihren Wählern – also der grünen Parteibasis. Die Veranstaltung erinnert zuweilen ein bisschen an einen Hindernisparcours. So mussten Katrin Göring-Eckardt und ihre drei Männer eine Szene an einem Wahlkampfstand nachspielen.
    "Die 90 Sekunden, das war ernst gemeint. Weil länger haben Sie auch nicht für Passantinnen und Passanten, nach 90 Sekunden müssen Sie die überzeugt haben."
    Es ist simulierte Basisarbeit: "Tach, darf ich ihnen einen Flyer geben? Nein, nicht von den Grünen, warum nicht?"
    "Anton Hofreiter am Wahlkampfstand": "Wenn jemand am Wahlkampfstand stehen bleibt, und wissen möchte, warum er Grün wählen will, dann ist er meistens schon halb überzeugt. Das ist zumindest meine Erfahrung."
    Die Trockenübungen sind amüsant, die voll besetzte Halle johlt. Man feiert sich, man feiert die eigene Kreativität und Lockerheit.
    Die Grünen-Mitglieder müssen sich bis Mitte Januar entscheiden
    Katrin Göring-Eckardt ist als weibliche Kandidatin gesetzt – es tritt niemand gegen sie an. Bei den Männern wollen gleich drei Spitzenkandidat werden: Parteichef Cem Özdemir, Fraktionschef Anton Hofreiter und der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck. Die rund 60.000 Grünen-Mitglieder müssen sich bis Mitte Januar entscheiden. Wer kann Kandidat? Wer kann vielleicht Vizekanzler? Und vor allem: Wer überzeugt rhetorisch?
    Das beschäftigt auch Politikberater Heiko Kretschmer. Der 49-Jährige ist Geschäftsführer beim Beratungsunternehmen Johanssen und Kretschmer und Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung.
    Wer kann Kandidat? – Parteichef Özdemir schneidet mit seinem kurzen Online-Bewerbungs-Video da erst mal nicht so gut ab.
    "Gerade bei Cem Özdemir muss man sagen, dass ich schon finde, das ist jemand, der sich selbst sehr glatt geschliffen hat und wenig Ecken und Kanten noch bietet und auch im Verbalen fast bis ins Floskelhafte kommt."
    Immerhin, Özdemir habe mehr als andere ein außen- und integrationspolitisches Profil, räumt Kretschmer ein, aber trotzdem.
    PR-Profi Kretschmer ist nicht überzeugt
    In seinem Büro am Potsdamer Platz wirft er einen Blick auf die Bewerbungsvideos, die alle Kandidaten bei Youtube eingestellt haben. Das Urwahlforum aus Hannover hat er sich im Live-Stream angeschaut, Anton Hofreiter in Aktion:
    "Dass es uns gelingt, die ökologisch-soziale-Transformation unserer Wirtschaft zu schaffen und zwar so, dass wir nicht mehr unsere Lebensgrundlagen zerstören und so, dass dieses Land wohlhabend bleibt. Dann wird es ein so leuchtendes Vorbild sein, nämlich viele Probleme sind inzwischen weltweit, dass wir sie entsprechend weltweit umsetzen können."
    "Hofreiter macht das sehr stark, sozusagen auch über die Rhetorik, indem er immer ein bisschen wie auf einer Kundgebung wirkt. Sehr aggressiv im Redestil, sehr offensiv."
    Trotz aller Verve - PR-Profi Kretschmer ist nicht recht überzeugt. Und kann sich einen Vergleich beim verkehrspolitischen Experten Hofreiter nicht verkneifen.
    "Man hat immer so ein bisschen den Eindruck, wie bei einem Auto, das einen Gang zu tief geschaltet ist, dass er überdreht. Insofern wirkt das nicht authentisch bei ihm. Aber er bedient damit natürlich absolut das Bild vom linken Flügelkämpfer der Grünen."
    Zum Ende des Forums in Hannover gibt es dann eine Szene, die zu einem geflügelten Wort der Urwahl werden könnte. Robert Habeck im rhetorischen Nahkampf mit seinen Mitbewerbern, es geht um Agrarwende und den Kohleausstieg.
    "Der Punkt ist ein anderer. Du kannst auch zehn Kühe scheiße halten."
    Der unbekannteste Kandidat muss am lautesten sein
    Eigentlich gibt es die Verabredung unter den drei Kandidaten, nicht schlecht übereinander zu reden. Trotzdem bricht Habeck da immer wieder aus, attackiert seine Mitbewerber, beobachtet der Politikberater:
    "Dass Habeck da streitfreudiger ist als die beiden anderen Kandidaten oder die drei anderen Kandidaten."
    Der unbekannteste Kandidat muss vielleicht am lautesten sein, um gehört zu werden, und kokettiere nebenbei mit dem Bild des Underdogs. Kretschmer – dunkler Anzug ohne Krawatte, statt Kaffee wird Red Bull gereicht – kratzt sich im Bart. Der Urwahl-Prozess hat gerade erst begonnen, für Prognosen ist es seiner Ansicht nach noch zu früh. Zudem sei die Grünen-Basis immer für eine Überraschung gut:
    "Dazu gibt’s keine wirklich gute Meinungsforschung. Bei der letzten Urwahl gab es Überraschungen. Gerade auf der Frauen-Seite hatten eigentlich alle mit einem anderen Ergebnis gerechnet."
    Zur Erinnerung: Vor der Bundestagswahl 2013 haben die Grünen schon einmal die Basis über ihre Spitzenkandidaten abstimmen lassen. Damals gewann bei den Frauen überraschend Katrin Göring-Eckardt. Eigentlich alle Beobachter – und auch sie selbst – hatten mit dem grünen Urgestein Claudia Roth gerechnet.
    "Insoweit ist es tatsächlich die Frage, wählt der grüne Wähler bei dieser Urwahl eher taktisch motiviert oder wählt er sehr überzeugungsorientiert?"
    Taktik oder Überzeugung? Person oder Position? Darüber muss sich jedes Mitglied der Grünen selbst den Kopf zerbrechen. Kretschmer wagt dann doch noch einen Ausblick:
    "Wenn es eine überzeugungsorientierte Wahl gibt, dann glaube ich, dass die beiden Flügelkandidaten schon vorne liegen."
    Einen klaren Favoriten hat Politikberater Kretschmer auch. Aber der wird aus Gründen der Fairness bis Mitte Januar nicht verraten.