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US-Abzug aus Syrien
"Strategisch gesehen eine Niederlage auf der ganzen Linie"

Der US-Truppenabzug aus Syrien sei eine Mischung aus militärischer Niederlage, Feigheit und Verrat, sagte der Publizist Jürgen Todenhöfer im Dlf. Es sei Ziel der Amerikaner gewesen, die Terrormiliz IS auszuschalten - sie sei aber nur vertrieben worden. Die IS-Kämpfer gruppierten sich nun neu.

Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit Dirk Müller | 27.12.2018
    US-Truppen mit gepanzerten Fahrzeugen gehen in Stellung in den Außenbezirken der Stadt Manbij.
    US-Präsident Donald Trump will alle US-Truppen aus Syrien abziehen, da die IS-Miliz dort besiegt sei (dpa-Bildfunk / AP / Arab 24 network)
    Dirk Müller: Hunderttausende Tote in Syrien, Zehntausende im Jemen, eine Hungersnot überzieht viele Regionen des Landes. Allein in Syrien sind Millionen heimatlos, obdachlos, Millionen sind geflüchtet. 2018, Syrien und der Jemen nahezu vergessene Kriege für viele, auch in der Politik, aber auch in den Medien. Es ist sehr ruhig geworden um die Fronten, um die Toten, um die Verletzten, um die Vertriebenen, um die Zurückgebliebenen. Dann der Dezember, Friedensversuche. Dann kommt Syrien und Donald Trump, der Abzug der 2.000 amerikanischen Soldaten und die anschließenden Verwerfungen in Washington mit dem Rücktritt von James Mattis. Zusätzlich angetrieben durch die Ankündigung, die Anzahl der GIs in Afghanistan deutlich zu reduzieren. Der Rückzug der Amerikaner aus den Krisenherden im Nahen Osten zuerst, und jetzt aus Syrien.
    Unser Thema mit dem Publizisten, Autor und Nahost-Kenner Jürgen Todenhöfer. Der frühere CDU-Politiker und Medienmanager hat auch mitten in den zurückliegenden Kriegsjahren immer wieder den Jemen und auch Syrien bereist, sich mit dem IS auseinandergesetzt. Vor wenigen Wochen ist er erneut in Syrien gewesen. Der Abzug der Amerikaner, ändert das irgendwas?
    Jürgen Todenhöfer: Ich glaube, nein, weil Trump lediglich Bodentruppen zurückzieht, die dort nie gekämpft haben. Für mich ist das - ich war vor knapp vier Wochen in Syrien -, um das mal ganz hart auszudrücken, eine Mischung aus militärischer Niederlage, auch aus Feigheit und aus Verrat. Niederlage deswegen, weil das Ziel der Amerikaner war, den IS auszuschalten, und man hat ihn nur vertrieben. Zwei Drittel der IS-Kämpfer konnten in Syrien und im Irak entkommen, gruppieren sich neu. Im Jemen zum Beispiel gibt es inzwischen IS-Kämpfer. Der IS ist nicht geschlagen, er ist vertrieben. Das zweite Ziel war, das Assad-Regime zu stürzen, und Assad ist noch immer da. Und das dritte Ziel war, den Iran durch den Sturz des Assad-Regimes zu schwächen, und der Iran ist jetzt stärker, weil er jetzt auch in Syrien militärisch präsent ist. Das heißt, das ist strategisch gesehen eine Niederlage auf der ganzen Linie. Und dann haben wir eine feige Kriegsführung, weil eben nur Städte platt gebombt werden.
    Müller: Die amerikanische Militärpräsenz war aus Ihrer Sicht, Herr Todenhöfer, für alles ungut, alles kontraproduktiv?
    Todenhöfer: Ich sage nicht, dass die Amerikaner an allem schuld sind, aber es war total kontraproduktiv. Als die Amerikaner in Afghanistan vor über 17 Jahren einmarschiert sind, hieß es, wir wollen den Terror bekämpfen. Damals hatten wir ein paar Hundert Terroristen im Hindukusch, heute haben wir über 100.000. Und dafür mussten Hunderttausende Zivilisten sterben, es gab Tausende tote Soldaten, auch in Afghanistan tote westliche Soldaten. Und das ist auch völlig danebengegangen. Das war im Grunde genommen ein Terrorzuchtprogramm. Mit Kriegen kann man den Terrorismus nicht besiegen.
    Müller: Es war nie ein Krieg gegen den Terror?
    Todenhöfer: Ich glaube nicht, dass es wirklich ein Krieg gegen den Terror war. Ich habe noch den Krieg der Sowjets erlebt. Und die Sowjets haben wenigstens nicht irgendwas erzählt vom Kampf gegen den Terror, sondern sie sind einmarschiert, um eine befreundete Regierung zu stützen. Die Amerikaner haben gesagt, sie wollen den Terror dort bekämpfen. Aber dann hätten sie nicht Städte, Kabul angreifen müssen, afghanische Dörfer angreifen müssen. Weil die Terroristen waren ja nicht Afghanen, die Terroristen waren überwiegend Saudis und Ägypter. Und all diese Länder, die am Terrorismus beteiligt waren, hat man ja in Ruhe gelassen.
    Der Publizist Jürgen Todenhöfer ist am 15.01.2016 bei Radio Bremen Gast der Talkshow "3nach9"
    Der Publizist und frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
    Sondern der Hauptgrund der Amerikaner, warum sie diesen Krieg geführt haben, war erstens - und da habe ich sogar ein bestimmtes Verständnis für - wollte und vielleicht auch musste Bush in dieser Situation dieser Verbrecheranschläge auf das World Trade Center Stärke zeigen, aber musste sie natürlich nicht zeigen, indem er ein anderes Land zusammenbombt. Aber er wollte zweitens einem strategischen Interesse der USA nachkommen, nämlich Afghanistan ist ein ganz wichtiger geostrategischer - ich nenne es mal landgestützter Flugzeugträger, wenn man den unter Kontrolle hat - das war das Hauptziel. Deswegen haben die Amerikaner auch dort vier große Militärbasen inzwischen ausgebaut, die sie nicht aufgeben wollen. Und deswegen sind sie dort einmarschiert. Terroristen können sie nicht mit Bomben auf Dörfer ausschalten. Im Gegenteil, sie züchten sie. Da gibt es dann die jungen Leute, die sagen, hallo, dagegen müssen wir uns wehren. Und das hat auch zum Erstarken der Taliban geführt.
    "Das züchtet Terrorismus, und zwar überall auf der Welt"
    Müller: Aber amerikanische Bodentruppen, wenn wir wieder zurückkommen zu Syrien, haben ja denselben Effekt. Da haben Sie ja auch mal gesagt, da sind zu wenig amerikanische Bodentruppen da. Den Terror beziehungsweise die Terrornetzwerke, die Terrorgruppierungen können nur am Boden bekämpft werden effektiv, und auch die zivile Bevölkerung dabei zu schonen. Wäre das dann alles anders verlaufen, wenn die Amerikaner massiver, engagierter dort vorgegangen wären in Syrien?
    Todenhöfer: Nein. Ich habe die Meinung nie vertreten, dass man mit massiven Bodentruppen den Terror besiegen könne. Ich glaube, dass man den Terror mit Spezialeinheiten und mit den klassischen Methoden des Antiterrorkampfs, nämlich mit Unterwanderung und mit Geld besiegen kann. Bin Laden ist zum Beispiel nicht durch Bombardements ausgeschaltet worden, sondern durch ein Spezialkommando. Und da sage ich, das ist letztlich auch, obwohl sie ihn nicht töten durften, sondern eigentlich hätten gefangen nehmen müssen. Das war aber letztlich die richtige Strategie, Spezialkommandos einzusetzen. Aber ganze Dörfer plattzumachen, das züchtet Terrorismus, und zwar überall auf der Welt.
    Müller: Und das ist bei den russischen Einsätzen in Syrien genauso?
    Todenhöfer: Ich sehe die russischen Bombeneinsätze in Syrien uneingeschränkt genauso kritisch wie die amerikanischen. Nur sagen die Russen nicht, sie würden das im Namen der Menschenrechte tun.
    Müller: Und das ist für Sie authentischer?
    Todenhöfer: Nein. Ich finde es überhaupt schrecklich. Ich war ja wenige Tage, nachdem Ost-Aleppo gefallen war, war ich in Ost-Aleppo, und das ist einfach grauenvoll. Für mich ist die Bombardierung von Städten ein völkerrechtliches Verbrechen, egal, wer das begeht. Leider ist es die Hauptstrategie im Augenblick der USA. Aber wenn andere Länder das machen, wie zum Beispiel Saudi-Arabien oder Russland, kritisiere ich das genauso.
    Müller: Hat es das nie gegeben, jetzt gerade mit Blick auf die jüngsten Konflikte im Nahen Osten, auf die Rolle des Westens und mit Blick auf die Rolle der Amerikaner, auch der Russen, gibt es gar keine humanitäre Intervention aus Ihrer Sicht, um auch die Zivilbevölkerung zu schützen, beispielsweise auch den Kurden vor Ort zu helfen, indem man sie militärisch unterstützt, damit sie nicht abgeschlachtet werden?
    Todenhöfer: Ich glaube, dass es keine humanitären Kriege gibt, um das mal als Vorbemerkung zu sagen, und dass es eine Perversion der Sprache ist, wenn man Kriege humanitär nennt. Und ich habe ja vorhin gesagt, der Rückzug in Syrien ist eine Mischung von Niederlage, Feigheit und Verrat. Und natürlich ist das, was die Amerikaner machen, ein Verrat an den Kurden. Und da mische ich mich jetzt nicht in den Konflikt zwischen Kurden und Türken ein, sondern stelle das einfach nüchtern fest. Nur, ich habe auch eine Erkenntnis in den letzten 20 Jahren immer stärker gewonnen: Wir sind nicht der Vormund der Welt. Und der Versuch, in anderen Ländern Ungerechtigkeiten durch militärische Interventionen zu verhindern, scheitert immer. Der ist in Lateinamerika gescheitert. Wenn die Amerikaner dort militärisch eingegriffen haben. Der ist überall gescheitert. Ich war bei den Rohingya, die aus Myanmar geflohen sind nach Bangladesch. Ich käme nie auf die Idee, jetzt zu sagen, jetzt müssen wir militärisch in Myanmar intervenieren, um diese Regierung zu bestrafen und die Vertreibung der Rohingya zu verhindern. Sondern das geht nur politisch, und manches geht eben nicht. Und durch Kriege haben wir die Lage, wie wir jetzt in Afghanistan sehen, wie wir im Irak gesehen haben, wie wir in Syrien sehen, im Jemen sehen, immer nur verschlechtert. Das ist keine tolle Botschaft. Aber der Westen ist nicht derjenige, der die Welt mit Militärschlägen verbessern kann. Und es sollte es auch nicht versuchen.
    Müller: Aber dann sollte der Westen, dann kann der Westen aus Ihrer Sicht, obwohl Sie das alles mitbekommen haben vor Ort - sie waren ja während der Kriegswirren, hatte ich in der Moderation ja auch gesagt, mehrfach dort. Wir haben, als Sie in Aleppo waren, mehrfach im Deutschlandfunk Ihre Eindrücke dort auch wiedergegeben und geschildert. Das heißt, der Westen kann sich das auch unter moralethischen, politischen Gesichtspunkten leisten, ganze Volksgruppen, Völker, wie auch immer jetzt definiert, wie immer groß oder klein sie sind, im Stich zu lassen, wenn sie von einer Übermacht angegriffen, getötet, ermordet werden?
    Todenhöfer: Da stellen Sie eine ganz zentrale Frage der Politik. Der größte deutsche Philosoph - ich bin kein Philosoph - Immanuel Kant, hat die auch beantwortet. Er hat gesagt, das eine der wichtigsten Vorbedingungen für Frieden die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten ist. Und vor allem mit militärischen Mitteln. Und es gibt dafür internationale Institutionen wie die UNO. Es gibt die Möglichkeit, bestimmte Regime auf Sanktionslisten zu setzen. Aber es gibt nicht die Möglichkeit, mit militärischen Mitteln die Lage der Menschen zu verbessern. Das scheitert in über 90 Prozent der Fälle.
    "Wir haben in der Welt keine Polizei"
    Müller: Sind Sie jetzt Pazifist?
    Todenhöfer: Nein, ich bin kein Pazifist. Nur ich bin dagegen, dass man - ich habe ja diese Kriege alle erlebt, ich hab in Afghanistan zwei Waisenhäuser gebaut. Als ich jetzt vor knapp vier Wochen in Syrien war, habe ich wieder Geld für Prothesen für Kinder übergeben, und zwar für Prothesen von Kindern, die gerade in Ghouta - es war also die letzte Schlacht, die es bisher in Syrien gegeben hat -, ihre Arme oder Beine verloren haben. Ich finde das alles ein bisschen hilflos, aber die umgekehrte Strategie, hinzugehen und jetzt Rebellengruppen mit Waffen auszustatten oder selbst zu bombardieren. Die Amerikaner haben zum Beispiel ar-Raqqa in Grund und Boden bombardiert. Da besteht nichts mehr.
    Diese Strategie scheitert. Und wenn Sie jetzt feststellen, weil das alles ein bisschen verzweifelt klingt, was ich sage - also ich baue Waisenhäuser und finanziere Prothesen und schreibe Bücher, um das zu finanzieren - aber wenn Sie feststellen, dass in Ihrem Nachbarhaus schreckliche Dinge passieren, können Sie nicht hingehen und dort eine Handgranate reinwerfen. Sie können die Polizei informieren, Sie können versuchen, Einfluss zu nehmen auf den Nachbarn. Aber wir haben in der Welt keine Polizei. Und die Vorstellung, die USA wären diese Polizei, ist eben ein Irrtum. Da wird bombardiert, da wird gefoltert, und da entsteht neues Elend.
    Müller: Jetzt muss ich Sie andersherum noch mal fragen mit Blick auf die Zeit, die uns ein bisschen davonrennt, Herr Todenhöfer. Ohne Amerikaner, ohne Russen, wäre dann der IS, der IS-Staat in seiner Radikalität und Totalität viel größer als jetzt?
    Todenhöfer: Aus meiner Sicht nein, weil es gab eine Strategie, und die habe ich mit amerikanischen Politikern immer wieder besprochen, ich habe sie mit Mitgliedern der deutschen Bundesregierung besprochen - der IS ist entstanden, weil im Irak die Sunniten nach dem Krieg von Bush 2003 massiv diskriminiert worden sind. Und die sunnitischen Stämme, vor allem in der Provinz Anbar, haben schriftlich das Angebot gemacht, dass sie bereit wären, den irakischen IS auszuschalten. Und die haben den IS, der damals noch Al-Kaida im Irak hieß, schon einmal vertrieben, das war im Jahr 2007, und sie haben gesagt, wir werden ihn wieder schlagen. Nur arabische Sunniten hätten den angeblich sunnitischen IS ausschalten können.
    Ich habe das Angebot den Amerikanern gegeben. Die haben gesagt, dann werden die Sunniten zu stark. Das wäre eine Möglichkeit gewesen. Sie wäre auch im Kampf von Stämmen gegen den IS, also in einem militärischen Kampf hätte sie stattgefunden, aber nicht durch Bombardements von Städten. Und die damaligen Kämpfe im Jahr 2007, als die Sunniten, die Stämme aus Anbar, Al-Kaida im Irak, den Vorgänger des IS vertrieben haben, das hat nicht 100.000 Menschenleben gekostet, sondern es hat ein paar Hundert Menschenleben gekostet. Und damals hat ein Land seine Probleme selbst geregelt, und jetzt hätte ein Land seine Probleme selbst geregelt. Aber mit Bomben die Probleme zu lösen, das funktioniert nicht. Und wer Ihnen sagt, dass es doch funktioniert, der sagt Ihnen nicht die Wahrheit.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.